In meiner Nähe gab es mal einen Winnetou-Wettbewerb. Es ging darum, eine
Kurzgeschichte mit Winnetou und einem Freund namens Martin zu
schreiben. Leider habe ich nichts gewonnen und es ist auch schon lange
her, aber eben habe ich die Geschichte wiedergefunden und dachte, damit
ich sie nicht vergesse, veröffentliche ich sie hier, auch wenn sie nicht
so gut ist:)
Winnetou saß auf seinem Lieblingsstein und arbeitete an dem Geschenk für
seinen Vater. Es sollte natürlich etwas besonderes sein, denn so etwas
verlangte das Volk schließlich vom Sohn des Häuptlings der Apatschen,
Intschu tschuna. Das tat Winnetou auch. Er schnitzte einen Dolchgriff
aus Holz für seinen Vater, aus dem besten Holz des Waldes. Tagelang
hatte er danach gesucht, bis er endlich im Land seiner Feinde, den
Kiowas, den perfekten Baum fand.
Für den Dolchgriff, den Winnetou
anfertigte, brauchte man nämlich nur das beste Holz, welches das war,
hatte ihm Klekih-petra, sein weißer Bruder gesagt. Das Holz zu besorgen
war eine sehr schwierige Mission gewesen, aber für Winnetou, den
Häuptlingssohn der Mescalero-Apatschen war das kein Problem gewesen.
Er verzierte gerade die Vorderseite des Griffes kunstfertig mit
Indianischen Schriftzeichen, da spitzte er die Ohren. Er hatte ein
leises Geräusch vernommen, das nur seine geübten Ohren hörten. Doch dann
hörte er einen dumpfen Schlag und vernahm einen indianischen Fluch, wie
in selten jemand gehört hatte. Sofort wusste Winnetou, um wen es sich
handelte und er wusste auch, dass er keine Vorsicht walten lassen
musste, denn den Geräuschen nach handelte es sich um Martin Baumann, den
Sohn des Bärenjägers. Er war ein leichtsinniger Bursche, denn selbst
für einen Halbindianer bewegte er sich gut hörbar. Winnetou kannte ihn
schon, seit er geboren wurde. Sie hatten sich angefreundet und kamen gut
miteinander klar. Winnetou vertraute ihm und hatte ihm deshalb sogar
den Ort des Versteckes verraten, in dem er sich gerade befand.
Es dauerte noch einige Zeit, bis Martin aus den Büschen gestolpert
kam, was daran lag, dass er noch eine Weile von Winnetou entfernt war,
als er sich etwas angestoßen hatte. Winnetous Ohren waren nebst denen
seines Vaters tatsächlich die Besten im ganzen Lager.
„Ich grüße dich, Bruder Winnetou“, keuchte der Angekommene. Seine
langen schwarzen Haare waren verwuschelt. An seiner Stirn hatte sich
eine große Beule gebildet.
„Ich grüße Martin zurück. Was führt dich hierher?“
„Die Langeweile. Ich habe meinen Unterricht bei meinem Vater heute früher beendet. Deshalb habe ich dich aufgesucht.“
„Es freut mich zu hören, dass ich dir die Langeweile vertreiben kann. Hast du etwas Bestimmtes geplant?“
„Ich dachte, wir könnten einen Erkundungsausflug machen. Vielleicht
erfahren wir etwas ganz Wichtiges. Es könnten ja die Kiowas einen
Angriff auf unser Volk verüben.“
„Das könnten sie allerdings, auch wenn es unwahrscheinlich ist. Doch
auch ich habe noch Zeit, mein Geschenk fertigzumachen. Deshalb werde ich
mit dir auf den Erkundungsritt kommen.“
„Ich bin erfreut über deine Zusage und richte schon die Pferde her. Du
kannst in der Zeit, die die Bleichgesichter fünf Minuten nennen,
nachkommen.“
Dann verschwand er wieder. An der gleichen Stelle wie vorher –
Winnetous gute Ohren konnten sogar die Entfernung bestimmen – hörte er
wieder einen dumpfen Schlag und ein noch schlimmeres Wort als vorher.
Dann wurde es still. Winnetou erhob sich. Auf dem Weg durch den Wald
ließ er sich Zeit, denn er war sich sicher, dass er den ungeschickten
Martin sonst einholen würde. Winnetou machte noch einen kleinen Umweg zu
einem kleinen Bach, an dem er seine Feldflaschen auffüllte. Dann war
die Zeit vergangen, die die Bleichgesichter fünf Minuten nennen, und er
verließ den Wald in Richtung des Lagers.
Das Lager war von außen ein schwer bewachter Ring aus gigantischen
Baumstümpfen, um die zu jeder Zeit eine Patrouille herumzog. Ungeübte
Augen hätten die Krieger nicht bemerkt, doch Winnetou war es
schließlich, der sie auf ihre Posten geschickt hatte. Deshalb machten
die Apatschen sich auch nicht bemerkbar und ließen Winnetou passieren.
Der Eingang des Dorfes lag gut versteckt. Man musste durch eine
unauffällige Höhle, die direkt in das Dorf führte. Winnetou stellte sich
an den Eingang und machte das Quaken eines Pfeilgiftfrosches nach.
Jetzt würden die Wachen am anderen Ende wissen, dass kein Feind zu ihnen
kam, sondern Winnetou, der Häuptlingssohn. Das war auch tatsächlich der
Fall. Zusätzlich hatte Martin sie davon unterrichtet, dass Winnetou in
fünf Minuten eintreffen würde. Also schritt Winnetou zu den
Pferdeställen und holte seinen tiefschwarzen Hengst namens „schneller
Blitz“ heraus. Er stammte aus der Zucht der Apatschen, die im ganzen
Land berühmt war. Es wäre ein schrecklicher Verlust gewesen, wenn die
Apatschen ein paar dieser Pferde an Feinde verloren hätten.
Martin befand sich schon bei den Ställen und beruhigte sein
dunkelbraunes Pferd „schlauer Fuchs“. Es entstammte ebenfalls der
Apatschenzucht.
„Bist du bereit, aufzubrechen?“, fragte er Winnetou aufgeregt.
„Ich bin bereit. Ich muss nur noch meinem Vater sagen, dass ich mit dir ausreite. Er wird es mir erlauben.“
„Tu das. Ich werde am Eingang auf dich warten.“
Ein Bisschen später ritten die zwei über die Prärie. Die Indianer können
schon mit zwölf
Jahren hervorragende Reiter sein, was der Anblick der beiden bewiesen
hätte. Doch nun sah sie niemand, und das war den Apatschen auch recht,
denn das ist der Sinn und Zweck eines Erkundungsfluges: ausspionieren,
aber nicht ausspioniert werden. Die beiden Freunde jagten über die
Prärie. Das machte ihnen eine riesige Freude. Das machte allen Indianern
riesige Freude. Doch bei Winnetou zuckte kein Gesichtsmuskel, denn die
Indianer sollten ihre Gefühle nicht offen zeigen, selbst wenn es Trauer
oder Schmerz war. Das war den Indianerkindern angeboren, das musste man
ihnen nicht beibringen. Nur Martin konnte das nicht, denn seinen Namen
und auch einiges anderes hatte er von seiner Mutter geerbt, die ein
Bleichgesicht war. Martin hatte sie nie kennen gelernt.
„Schau!“, rief Winnetou aus. „Dort hinten! Siehst du die Reiter?“
„Ich sehe sie!“, antwortete er.
„Nun überlege: Wenn wir sie sehen, werden sie uns auch sehen. Was, wenn es Bleichgesichter sind? Oder Kiowas?“
„Reiten wir davon!“
Die beiden ritten so schnell, wie sie noch nie geritten sind. Ihre
Pferde schnauften schon, doch die beiden machten keinen Halt. In der
großen Angst, die sie hatten, obwohl kein Indianer Angst haben sollte,
achteten sie nicht auf den Weg und gelangten schließlich in eine enge
Schlucht – mit nur einem Ausgang: den durch den sie gekommen sind. Die
Indianer wollten noch rechtzeitig umdrehen und fliehen, doch da bildeten
sich schon Sandwirbel vor dem Eingang und die Reiter hielten an. Sie
waren ihnen tatsächlich gefolgt. Die Pferde der anderen waren besser
trainiert und dadurch viel ausdauernder. Winnetou blickte sich noch
einmal nach einem Ausweg um, doch als er keinen entdeckte, strafften
Winnetou und Martin die Schultern und blickten stolz nach vorne, denn
soeben hatten sich die Reiter als Kiowas herausgestellt, die die größten
Feinde der Mescalero-Apatschen sind.
Ein einzelner Reiter trennte sich von der Gruppe aus dreißig Kiowas
und ritt auf sie zu. Es war der Häuptling der Kiowas auf einem
Erkundungsritt.
„Uff!“, sagte dieser, als er einen der beiden Apatschen als Winnetou,
den Sohn des Häuptlings der Apatschen, erkannte. Uff! war ein Ausdruck
des Erstaunens. „Winnetou!“ Der Kiowa war sichtlich aufgeregt.
„Winnetou, was treibst du denn hier draußen, auf der Prärie? Ein kleiner
Junge wie du sollte doch zu Hause im Zelt sitzen und das Stricken
üben!“
Winnetou verzog keine Miene. Es war sozusagen ein Brauch unter den
Indianern, das die Feinde sich beleidigten und heruntermachten. Wer
schwieg, zeigte stolz und wurde hoch angesehen.
„Uff! Du willst nicht antworten? Nun denn, es ist deine Entscheidung.
Du wirst dich uns ergeben, da wir in der Überzahl sind und du unser
Feind bist. Wir werden dich gefangen nehmen und damit deinen Vater
erpressen, damit er uns endlich unser rechtmäßig eigenes Land
wiedergibt!“
Der Häuptling, auch Tangua genannt, rief mit einem Wink der Hand drei
Kiowas herbei und ließ Winnetou und Martin fesseln. Die ganze Zeit über
kam kein Laut über Winnetous Lippen, und er ließ die Schultern gerade.
Bei Martin ebenso, doch als die Kiowas ihn fesseln wollten, siegte die
Wut in ihm und er spuckte dem Kiowa, der ihn fesselte, ins Gesicht. Das
wurde ihm mit einem Faustschlag belohnt, dass er ohnmächtig zu Boden
sank. Der Kiowa wischte sich nur den Speichel aus dem Gesicht und
fesselte Martin mit ausdruckslosem Gesicht auf sein Pferd.
Nur kurz war ein Ausdruck des Erschreckens über Winnetous Gesicht
gegangen, nämlich als die Faust des Kiowa seinen geliebten
Freund traf. Dann beherrschte er sich wieder. Genau aus diesem Grund
wehrte sich Winnetou hier nicht. Er wusste, wenn er groß ist, wird sich
ihm keiner entgegenstellen können, doch nun war er noch ein Kind, und
daran konnte er nichts ändern.
Tangua rief etwas in seiner Sprache, die nur die Kiowas verstanden,
und die Truppe setzte sich in Bewegung. Der Kiowa, der sie gefesselt
hatte, hatte auch die Pferde an die anderen gebunden, damit sie nicht
entfliehen konnten, und stellte sich mit zwei anderen Kiowas um Winnetou
und Martin herum auf. Dann ritten sie los, durch endlose Prärie, und
Winnetou verlor die Orientierung. Vater wird mich niemals finden, dachte
er, obwohl ein Indianer so etwas nicht denken durfte. Ich habe die
Orientierung verloren und Vater denkt, ich bin auf einem Erkundungsritt.
Selbst wenn Tangua mich gegen etwas eintauschen möchte, bin ich
verloren. Die Kiowas lügen und betrügen bei jedem Schritt, den sie tun.
Und was taten sie auf unserem Grund und Boden? Martin und ich waren sich
sicher, die Grenze nicht überschritten zu haben.
Am späten Abend erreichten sie das Dorf der Kiowas. Von außen konnte
man es nicht erkennen, selbst wenn es helllichter Tag war. Denn das Dorf
lag versteckt in einem Wald. Man musste durch den dichten Wald gehen
und sich an einen bestimmten Weg halten. Nur dann erreichte man
unverletzt das Lager. In dieser Hinsicht war das Dorf der Kiowas besser
geschützt als das der Apatschen. Nur, wenn jemand entfloh, konnte man
ihn nicht gut aufhalten, weil rundherum nur dichter Wald ist und nur ein
einziger Weg hindurch führte. Der Verteidigungsring bestand aus Metall,
was für die Indianer zwar ungewöhnlich war, doch es wunderte niemanden.
Jeder wusste, dass die Kiowas wöchentlich Tauschhandel mit den
Bleichgesichtern machten. Dabei ist vor allem das Feuerwasser, dem die
Apatschen entsagten, wonach die Kiowas allerdings fast süchtig waren.
Aber auch der Handel mit Metallwerkzeugen und Lebensmitteln war bei den
Kiowas wichtig. So war auch ihr Dorf besser verteidigt, aber auch ihre
Krieger. Sie waren fast unbesiegbar, aber nur fast. Die Apatschen waren
ihnen mit ihrer Ausdauer und ihrem Mut dennoch überlegen.
Die Kiowas und die zwei Apatschenkinder wurden durch das offene Tor
geführt. Späher der Kiowas hatte die Truppe schon frühzeitig bemerkt und
alles für ihre Ankunft bereitgemacht. Dass sich zwei Gefangene bei der
Gruppe befanden, das hatte der Späher nicht mitbekommen. Deshalb war die
Freude der Kiowas noch größer, als sie es erfuhren. Winnetou und der
ohnmächtige Martin wurden ohne viele Worte in ein kleines leeres Zelt
gesteckt und bewacht. Dann wurde es still. Winnetou wusste, dass Tangua
nun vor seinem Volk eine Rede halten und ihnen die Geschichte erzählen
musste. Er würde nur lügen und seinem Volk weismachen, dass die Zwei sie
hereingelegt hatten und einen Angriff auf sie planten. Am liebsten wäre
Winnetou dort gewesen und hätte sich verteidigt. Doch das war alles
weit weg, und Winnetou konnte sich um Martin kümmern. Seine Hände waren
zwar noch gebunden, doch Winnetou war auch mit den Füßen sehr geschickt.
Er öffnete die Fesseln Martins mit den Zehen und seine schließlich mit
den Zähnen, denn die Kiowas hatten den Fehler begangen, ihnen die Hände
vorne zu binden. Doch auch Winnetou hatte einen Fehler begangen: und
zwar den, keine Waffe mitzunehmen.
Winnetou untersuchte seinen Freund und stellte fest, dass dieser noch
eine Weile bewegungslos bleiben, aber bald aufwachen würde. Er steckte
seinen Kopf aus der Tür und sofort richteten sich zwei Musketen auf sein
Haupt und wurden mit lautem Klicken entsichert.
„Du, der Sohn von Intschu tschuna, unserem größten Feind, soll im Zelt
bleiben, bis unser Häuptling Tangua, der Mächtigste aller Mächtigen,
dich und deinen Freund holt“, knurrte der eine Kiowa. Er war ein
muskelbepackter Kerl mit langen schwarzen Haaren.
Winnetou zog sich ohne ein Wort seinen Kopf aus der Öffnung zurück.
Dann sann er darüber nach, dass er noch nie jemanden ohne lange schwarze
Haare gesehen hatte, und fragte sich, woher er wusste, dass es noch
andere Haarfarben gab.
Da regte sich etwas neben ihm. Winnetou erschrak nicht und wendete
langsam den Kopf in die Richtung des Geräusches. Natürlich hatte er
schon gewusst, dass das Grummeln bedeutete, dass Martin aufgewacht war.
„Oh, Winnetou, was ist passiert? Mein Kopf schmerzt so... sind wir wieder zu Hause?“
„Ich muss dich enttäuschen. Wir sind im Lager unserer Feinde, den
Kiowas. Du hast einem der ihren ins Gesicht gespuckt, erinnerst du dich,
mein Freund?“
Martin brummte. „Ich erinnert mich leider äußerst lebhaft. Eine
riesige Hand ist auf mein Haupt zugeflogen und dann kann ich mich an gar
nichts mehr erinnern. Ist etwas passiert?“
„Nichts Besonderes. Wir ritten nur so lange durch die Prärie, bis sogar ich, der Häuptlingssohn die Orientierung verlor.“
„Nun, Winnetou, du sagst, wir sind im Lager der Kiowas. Hat der
Häuptling auch gesagt, was er mit uns vorhat? Will er uns martern
lassen?“
„Tangua, der Häuptling der Kiowas, hat mir gegenüber erwähnt, dass er uns bei meinem Vater gegen etwas eintauschen möchte.“
„Was? Eintauschen? Ich lasse mich nicht eintauschen, denn ich bin keine Ware. Lieber lasse ich mich martern.“
Winnetou erwiderte nichts und schwieg. Martin schwieg auch. Dann
kündete sich von Draußen das Geräusch näher kommender Schritte an und
die beiden Apatschen setzten sich gerade hin. Die Zeltplane wurde
zurückgezogen und Tangua stand am Eingang. Hinter ihm war es dunkel,
doch Winnetou erkannte ihn, denn er hatte nicht nur die besten Ohren,
sondern auch die besten Augen.
„Ihr könnt mitkommen, denn ihr dürft die Nacht nicht so gemütlich hier
verbringen, bis dein Vater kommt.“, knurrte er. „Wir haben ihn mit dem
Indianertelefon angerufen.“ Das Indianertelefon war ein großes Feuer,
dessen Rauch man mithilfe unterschiedlich geformter Holzblöcke zu
Buchstaben formte. Die Rauchbuchstaben stiegen einige Kilometer in die
Höhe, bevor sie verflogen. Die Höhe reichte, damit Intschu tschuna die
Buchstaben sehen konnte.
Tangua sagte etwas in der fremden Sprache zu den Wachen und die zwei
machten Anstalten, Winnetou und Martin aus dem Zelt zu holen. „Uff!“,
rief einer von ihnen, als er sah, dass die Zwei keine Fesseln mehr
hatten. Tangua wurde böse und stampfte mit dem Fuß auf den Boden.
„Sprich, Winnetou!“, schrie er. „Wer ist da? Wer hat euch die Fesseln losgemacht? Rede endlich!“
Winnetou schwieg. Tangua würde es ihm sowieso nicht glauben, wenn er
ihm sagte, dass er, ein zwölfjähriger Apatsche, die Fesseln geöffnet
hatte, die einer seiner besten Krieger gebunden hatte.
„Argh! Du weigerst dich, zu sprechen! Nun, nach der heutigen Nacht wirst du es bereuen, auch wenn du es nicht zugeben wirst.“
Die beiden Wachen nahmen Winnetou und Martin zwischen sich und packten
sie an den Armen, so fest, dass die beiden glaubten, sie können den Arm
nie mehr bewegen. Als sie erkannten, wohin ihre Reise führte, wurde
ihnen mulmig zumute.
Vor ihnen in der Dunkelheit tauchten die Marterpfähle auf.
Als die Kiowas weg waren und sich schlafen legten, standen Winnetou und
Martin noch immer am Marterpfahl. Sie standen schon eine Weile dort.
Ewig ist der Häuptling der Kiowas vor ihnen herumgelaufen, hat sie
beleidigt und ihnen ins Gesicht gespuckt. Er hat über sie gelästert und
sie verspottet, sie getreten und angeschrieen. Doch so wie es sich für
einen Indianer gehörte, brachten die beiden Gefangenen weder einen Laut
des Schmerzes, der Angst oder der Wut über die Lippen.
Doch jetzt, wo alles dunkel war, schauten die beiden sich mitleidig
an, in ihren Blicken eine stumme Entschuldigung. Jeder gab sich selbst
die Schuld, niemals würde einer den anderen Anklagen. Und nie würden sie
laut über etwas reden, wenn drei Wachen keine fünf Fuß von ihnen
entfernt saßen und aufmerksam die Ohren spitzten.
Immer, wenn einer der Wachen sich zu ihnen umdrehte, blickten Winnetou
und Martin ihm nur böse ins Gesicht. Doch die Wachen grinsten nur mit
ihren schlechten Zähnen und stießen den anderen mit dem Ellenbogen an.
Dann lachten sie die Gefangenen gemeinsam aus.
Plötzlich spürte Winnetou, dass seine Fesseln durchgeschnitten wurden.
Sein Retter fing die Fesseln auf, bevor sie den Boden berührten, damit
kein Geräusch entstand, das die Befreiung verraten würde. Dann spürte
Winnetou eine Berührung am Arm und wusste, dass er frei war. Aber er
blieb noch stehen, als wäre er gefesselt, denn niemals würde er ohne
Martin gehen. Und es war selbstverständlich, dass er, Winnetou, zuerst
gerettet wurde. Schließlich war er der Sohn des Häuptlings der
Apatschen.
Lange wartete Winnetou. Dann wandte er den Kopf zu Martin. Der sah die
Bewegung und schaute ihn ebenfalls an. Winnetou nickte, als Zeichen,
dass er frei war. Martin nickte zurück. Sie waren frei. Lautlos wie
Federn verschwanden die Indianerkinder und schlugen sich seitlich in die
Büsche. Dort trafen sie ihren Befreier.
Es war der Vater Winnetous.
Winnetou war überrascht, aber er sagte nichts. Sie mussten schnell
verschwinden, bevor die Bewacher der Gefangenen wieder nach hinten
schauten und bemerkten, dass niemand mehr da war.
Es gab nicht viele Büsche im Lager der Kiowas, und deshalb mussten die
drei Flüchtlinge schon bald außerhalb des Schutzes der Büsche laufen.
Zum Glück war es dunkel, denn jetzt gab es nur noch zu hoffen, dass alle
Feinde tief und fest schliefen. Auch die Torwächter waren eingeschlafen
und lehnten an den Torbögen. Oder war beim Einschlafen vielleicht mit
einer Keule nachgeholfen worden? Winnetou sah Martin grinsen und musste
auch anfangen zu lächeln.
Sie gingen durch das Tor und fanden „schneller Blitz“ und „schlauer
Fuchs“ schon da, angebunden an einen Baum. Intschu tschuna lachte leise,
als er die überraschten und glücklichen Kinder sah. Dabei hat er die
Pferde hauptsächlich geholt, da seiner Meinung nach niemand ein Pferd
besitzen sollte, das einem anderen Stamm abstammte. Sein eigenes Pferd
war ein prachtvolles schwarzes Tier, dessen Namen niemand aussprechen
konnte, nur der Häuptling selbst, und deshalb hörte das Pferd auch auf
niemanden anderen als ihn.
Dann stiegen die drei auf und ritten mit lautem Kriegsgeheul davon,
Intschu tschuna kannte den Weg auswendig. Ob sie jetzt jemand hörte, war
egal. Die Kiowas müssten erst einmal aufwachen, die Wachen mussten dem
Anführer sagen, was passiert war. Dann mussten die Pferde gesattelt und
die Krieger ausgerüstet werden. Intschu tschuna vermutete, dass die
Feinde ihnen sowieso nicht folgen würden, der Abstand war schon zu groß.
Und falls sie ihnen doch folgen sollten: Am Lager der Apatschen
warteten die Krieger schon auf den ersten großen Krieg seit einigen
Jahren.
©StefanieRoss
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