Dienstag, 9. Juli 2013

(unbenannt)



Es war einer der schlimmsten Tage in meinem Leben. Nein, eigentlich war es der einzige. Und der Letzte. Denn schließlich war es mein letzter Tag auf Erden. Zumindest als Mensch.
  Wir waren alle versammelt, es herrschte eine tolle Atmosphäre. Melanie hatte den Schlüssel von ihrem Vater geklaut, der Schlüssel zu dem Haus, das keiner kaufen wollte. Ihr Vater ist Immobilienmakler. Und das Haus ist er einfach nicht losgeworden.
  Es befindet sich etwas außerhalb eines kleinen Dorfes, das nicht einmal groß genug ist, um einen Namen verdient zu haben. Gerade weit genug weg ist es, als dass man im Falle eines Brandes keine Hilfe holen konnte. Eigentlich war dieses Haus völlig abgeschottet von allem.
  Es hatte schon den Ruf eines Geisterhauses, als ich noch nicht einmal geboren war. Vor vielen Jahren sollen dort schlimme Dinge geschehen sein, und seit vielen Jahren wohnte auch niemand mehr dort.
  Eine Familie Scott lebte dort, erzählte mir mein Vater. Sie sei eine ganz normale Familie gewesen, ein Anwalt, eine Sekretärin, und ein kleines Mädchen, gerade mal ein Jahr alt. Glücklich waren sie, heißt es. Damals standen um das Haus herum auch noch einige andere. Aber irgendwie sind sie verschwunden, keiner weiß mehr, wann das war. Aber irgendjemand hat sie wohl abreißen lassen, und seitdem steht das Haus einsam und alleine dort.
  Seitdem. Was dort geschehen ist? Nun, es gibt keinen Menschen, der das weiß. Aber ich weiß es. Das Geheimnis offenbart sich mit dem Tod. So hieß es in den Schauergeschichten des Dorfes, und jetzt wusste ich, was damit gemeint war.
  Ehemals war das Haus blau, ein schönes, kräftiges und belebendes Blau. Aber seit das passiert ist, was passierte, ist es immer mehr verwahrlost. Der Putz ist abgebröckelt, von der blauen Fassade ist nicht mehr viel zu sehen. Die Holzveranda ist morsch und knirscht, wenn jemand darauf läuft. Die Eingangstür quietscht. Die Räume sind voller Spinnweben, sie sehen aus wie aus dem siebzehnten Jahrhundert. Als sei die Zeit stehen geblieben. Zentimeterdick liegt der Staub auf den Möbeln.
  Ich finde die Möbel sehr schön. Gerne würde ich sie vom Staub befreien um zu sehen, wie sie in voller Pracht aussehen.
  Als Familie Scott dort wohnte, war das Haus traumhaft. Viktorianischer Baustil, von Generation zu Generation weitervererbt, bis es bei Angie Scott landete. Es sei Tradition, mit seiner Familie in diesem Haus zu leben, meinte sie immer. Und als sie dann ihre Familie gegründet hatte, lebten sie dort. Glücklich, ohne Sorgen. Mit netten Nachbarn und einem Gärtner, der ihren Garten pflegte.
  Der Vorfall ereignete sich ein Jahr nach dem Einzug der Familie. Für die Öffentlichkeit war die Sache ein Rätsel. Von einem Tag zum anderen war die Familie verschwunden. Es ist das größte Geheimnis, das es je gab. Kein Mensch kennt es.
  Ich weiß es. Jetzt weiß ich es.
  Es ist einsam hier, seit mein neues Leben begonnen hat. Ich habe dieses leere Notizheft gefunden, es gehörte wohl Angie. Und diesen Stift, ein kleiner Bleistiftstummel. Eigentlich kann ich nichts berühren und dieses verfluchte Haus nicht verlassen, aber irgendwie scheinen diese beiden Dinge eine Ausnahme zu bilden. Als hätten sie auf mich gewartet. Als hätten sie noch eine Aufgabe zu erfüllen. Als hätte ich noch eine Aufgabe zu erfüllen.
  Der Stift wird vermutlich nicht mehr lange halten, aber ich möchte die Geschichte aufschreiben. Für die Nachwelt. Für euch, damit auch Menschen das Geheimnis kennen, ohne es durch den Tod offenbart zu bekommen.
  Es passierte, als James, der Mann, auf Geschäftreise war. Weit weg war er, auf den Kanaren, wohl kaum auf Geschäftsreise, und Angie vermisste ihn. Heute Abend würde er wiederkommen. Noch drei Stunden.
  Angie kochte für ihn. Sein Lieblingsessen. Die kleine Susan schlief in ihrem Bettchen ein Stock über ihr. Das Babyfon war eingeschaltet, es stand neben der Spüle.
  Alles war friedlich. Draußen senkte sich die Dämmerung über das Land, das Fenster war aufgrund der Schwüle im Raum gekippt. Frische Luft strömte herein.
  Angie pfiff vor sich hin. Sie war glücklich.
  Plötzlich verstummte ihr Pfeifen. Sie glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Kam es von draußen? Sie warf einen Blick durch das Fenster. In der Nachbarschaft regte sich nichts, kein Licht brannte.
  Kam es aus dem Babyfon? Ging es Susan gut?
  Eine Weile blieb es stumm, dann beruhigte sich Angie wieder und machte sich erneut an die Arbeit.
  Wenige Sekunden danach ertönte das Geräusch erneut.
  Es kam aus dem Babyfon.
  Susan!
  Angie ließ das Geschirrtuch fallen und stürmte auf den Flur und die Treppe hinauf. Immer wieder ertönte das Geräusch in ihrem Kopf: Ein ersticktes Gurgeln. Ihre Tochter erstickte gerade!
  Sie nahm zwei Stufen auf einmal, ihr Hals war wie zugeschnürt. Wie in Zeitlupe näherte sie sich der Tür zu Susans Zimmer, ihre Beine wollten ihr einfach nicht mehr gehorchen, es war wie in einem Albtraum.
  Schließlich war sie da, sie stieß die Tür auf.
  Ihre Tochter hing an einem Strick von der Decke. Das kleine Gesichtchen blau angelaufen, die goldigen Locken wirr im Gesicht.
  Das war das Ende von Susan Scott. Und damit auch das Ende von Angie und James. Schon am nächsten Tag verließ James seine Frau. Wiederum einen Tag später hatte sie sich umgebracht.
  Seitdem gilt das Haus als verflucht. Niemand weiß, wie die kleine Susan an den Strick gelangen konnte. Selbstständig unmöglich. Keiner der Nachbarn hatte etwas gesehen. Die Fenster waren geschlossen, die Haustür verriegelt.
  Natürlich glaubte das keiner von uns. Wir, das waren meine vier besten Freundinnen Lucy, Pam, Mel und Jen, und natürlich ich. Wir sind mit dem Mythos um das Haus aufgewachsen. Schon als kleine Kinder sind wir immer darum herumgerannt, auf den Grundstücken, auf denen früher die Nachbarshäuser gestanden hatten. Aber näher heran hatten wir uns nie gewagt, unsere Eltern hatten es verboten.
  Verbote von Eltern werden meist gebrochen. Keins hatte jedoch die Auswirkungen wie jenes hier.
  Wir waren fünfzehn Jahre alt, alle fünf. Es geschah an meinem Geburtstag. Wir wollten etwas Besonderes machen, die Feier war schließlich an Halloween.
  Und was passte besser zu einer Halloween-Party als ein verfluchtes Haus? Genau, nichts.
 Mel hatte das Spiel Gläserrücken dabei, oder wie es heißt. Damit wollten wir mit dem Geist der toten Susan sprechen. Oder es zumindest versuchen. Es kam schließlich nur auf den Kick an.
  Einzubrechen war leicht. Mit Taschenlampen bewaffnet und ängstlich kichernd schlichen wir uns an. Der Holzboden der Terrasse knarzte, als wir uns der Haustür näherten.
  Sie war nur angelehnt, als hätte sie auf uns gewartet. Niemand fragte sich, wieso sie nur angelehnt war, aber sie war es. Sie war es wohl schon die ganzen Jahre über. Musste.
  Es war wirklich gruselig. Das dunkle Haus, das Knarzen überall, die Hintergrundgeschichte.
  Ja, es war die richtige Location für unseren Horrorabend.
  Keine von uns sollte jemals einen nächsten Morgen erleben.
  Der richtige Raum war schnell gefunden. Es war wohl ein Wohnzimmer gewesen, früher. Damals. Der Boden war mit einer dicken Staubdecke belegt, darunter lag burgunderroter Teppich. Wir kümmerten uns nicht um den Staub, sondern setzten uns.
  Das Spiel begann auch gleich danach. Unterbewusst wollten wir wohl alle so schnell wie möglich wieder nach Hause.
  Wir legten unsere Zeigefinger auf das umgedrehte Glas, das in der Mitte des Brettes voller Buchstaben stand.
  Halb belustigt begann Mel, den Geist von Susan anzurufen. Wir waren alle erschrocken, als sich das Glas bewegte – wirklich alle. Noch heute weiß ich, dass sich das Glas wirklich bewegt hatte. Nie hatte ich so erschrockene Gesichter gesehen wie damals die meiner Freundinnen, als das Glas den Satz Ihr seid alle des Todes bildete. Jenn rannte zuerst hinaus, es folgten Lucy, Pam, und Mel selbst. Später sollte ich erfahren, dass keiner von ihnen ihr Haus noch erreicht hatte.
  Ich blieb sitzen. Ich konnte mich nicht rühren, mein Finger war wie auf dem Glas festgeklebt, meine Beine gehorchten mir nicht. Und meine Augen fixierten starr die durchscheinende Kindergestalt, die in der Ecke des Raumes stand und mich anstarrte.
  Goldblonde Locken umrahmten das friedliche, junge Kindergesicht. Ich wusste sofort, dass es der Geist von Susan war. Ich wusste es einfach. Auch wenn sie nicht blau angelaufen war, wie es erzählt wurde.
  Noch immer war ich starr, als Susan die Hände ineinander faltete und in ihrem langen Schlafkleid auf mich zuschwebte. Sie lächelte niedlich, kleine Grübchen bildeten sich auf ihren Backen.
  Nicht, dass eine Einjährige laufen oder sprechen, geschweige denn schweben konnte, aber diese hier tat es. Mary, sagte sie lächelnd zu mir. Ich bin ja so froh, dass du gekommen bist. So lange habe ich auf dich gewartet.
  Kühle Geisterfinger strichen über meine Kehle, und mir brach der Angstschweiß aus. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, ach was, höher. Wenn ich nur nicht so gelähmt wäre, wenn ich nur weglaufen könnte!
  Jetzt bin ich erlöst, säuselte es an meinem Ohr. Etwas Eiskaltes berührte meinen Nacken, dann spürte ich Blut meinen Rücken herabrinnen.
  Wie wundervoll, hauchte es, und dann: Du bist meine Rettung.
  An den Schmerz, der folgte, und an das Blut, das im Takt meines rasenden Herzens aus einer zweiten Bisswunde in meinem Hals auf das unbefleckte Gesicht der Einjährigen schoss, möchte ich gar nicht mehr denken.
  Als ich erwachte, war Susan weg, und mit ihr meine Verletzungen.
  Und meine Menschlichkeit.
  Ich bin jetzt wie sie. Verdammt, für immer und ewig oder so lange, bis mich jemand erlöst, in diesem Haus zu leben. Ich weiß, dass mich so bald niemand suchen wird.
  Alle haben mich vergessen. Meine Mutter, mein Vater, mein Bruder. Es ist als hätte ich nie existiert. Dies ist Teil des Fluches, der auf mir lastet.
  Dieses Notizbuch ist sehr schön. Ich würde gerne noch mehr aufschreiben, doch der Bleistift lässt es nicht mehr zu. Er ist eigentlich gar nicht mehr vorhanden.
  Vielleicht werden ja irgendwann wieder Mädchen kommen, von denen ich mir eine aussuchen kann, um erlöst zu werden. Und vielleicht nimmt eine der Flüchtenden dieses Notizbuch mit, das ich gleich sehr deutlich in die Mitte des Wohnzimmers legen werde, und vielleicht wird es der Finder ihrer Leiche lesen können.
  Ich hoffe es so sehr. Hoffe so sehr, dass dieser Fluch einmal ein Ende haben wird.


©StefanieRoss

2 Kommentare:

  1. Tolle Geschichte!
    Eigentlich habe ich gerade gar keine Zeit und muss mich für die Arbeit fertig machen aber nach den ersten Sätzen musste ich einfach weiter lesen. Eine spannende Einleitung ist sehr wichtig
    :)

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