Samstag, 9. November 2013

Mein Freund, der Vampir

Es war an einem kalten Novemberabend, als ich meinen besten Freund das erste Mal sah.
  Es war der Geburtstag einer Freundin gewesen, meiner besten Freundin. Sie hatte eine abgelegene Hütte an einem Waldrand gemietet, Tonnen von Alkohol gekauft und die halbe Welt eingeladen. Dabei hatte sie mir noch zwei Tage zuvor versprochen, wir würden gemeinsam etwas unternehmen, so ganz ohne Alkohol und Drogen. Ich wünschte es mir so sehr, dass sie wenigstens ein Wochenende lang fort von diesem Teufelszeug kam.
  Ich hätte mir ja denken können, dass sie ihr Versprechen nicht hielt. Sie hielt ihre Versprechen nie. So war sie nun einmal, und trotzdem war sie meine beste Freundin.
  Ich hatte schon lange darüber nachgedacht, diese Freundschaft zu kündigen. Mir fiel immer öfter auf, dass Melissa mich ausnutzte – erst unauffällig, wenn sie sich Geld borgte und immer wieder vergaß, es zurückzugeben, und später auffälliger, als hielte sie meine Freundschaft und meine Unterstützung für selbstverständlich.
  Aber das war sie nicht. Ich könnte die Freundschaft leicht brechen – es würde mir nichts ausmachen. Ich hätte es schon lange getan, wäre da nicht die Eigenschaft meiner Persönlichkeit gewesen, dass ich Menschen gerne verletzte, wenn ich wütend auf sie war. Und ich war wütend auf Melissa. Im Moment jedoch hatte ich das Gefühl, sie würde nur gelangweilt mit den Schultern zucken, wenn ich es ihr sagte.
  Es war wie gesagt an Melissas siebzehntem Geburtstag, als ich ihn das erste Mal sah. Ich ging gerade, noch ziemlich unentschlossen, zu Melissa, um meine Freundschaft mit ihr zu kündigen. Nicht gerade der passendste Zeitpunkt, denn sie war schon stockbesoffen, obwohl es noch nicht einmal zwölf Uhr war. Ich ging trotzdem, denn ich war zu feige, es ihr in nüchternem Zustand zu sagen. Meine Obsession, sie verletzen zu wollen, ließ ich dabei außer Acht. Ich wollte es einfach hinter mich bringen.
  Bevor es allerdings dazu kam, rempelte mich ein großer Junge an, den ich nicht kannte. Er fing mich mit starken Armen auf, stellte mich wieder auf beide Beine und entschuldigte sich höflich, wobei er mich aus einfach unglaublichen Augen anblickte, eines orange, fast rot, das andere strahlend blau. 
 Er war mir total sympathisch, und vor allem noch nüchtern, während alle um uns herum herumhampelten und sich in die Kübel der Zimmerpflanzen übergaben. Ich verliebte mich erstmal in ihn.
  Ich glaube, er sah mir an, dass ich mich hier nicht wohlfühlte, und führte mich nach draußen an die frische, kühle Luft. Es lag schon Schnee überall, und mein Atem bildete Dampfwolken vor meinem Mund. Meine Haut unter dem kurzen schwarzen Partykleid wurde von einer Gänsehaut überzogen und ich schlang die Arme um mich.
  Mein Begleiter lächelte mich charmant an, dann zog er das Jacket seines Anzugs aus und reichte es mir wortlos. Erst wollte ich es nicht annehmen, doch da ich nicht vorhatte, allzu schnell wieder nach drinnen zu gehen, zog ich es schließlich doch über. Außerdem schien der Junge nicht zu frieren.
  Jetzt streckte er die Hand aus und deutete auf einen umgefallenen Baumstamm etwa fünf Meter von uns entfernt, der ein wenig vom Licht der Lampen aus dem Haus erhellt wurde. „Wollen wir uns setzen?“, fragte er.
  Ich nickte. Bis jetzt war er ein sehr angenehmer Begleiter.
  Als wir dorthin schlenderten, legte er eine kalte Hand um meine Hüfte. Erst dachte ich, er wolle sich an mich heranmachen, doch gleich darauf erkannte ich, dass er es nur tat, weil der Boden von rutschigem Eis überzogen war. Er ließ meine Hüfte auch sofort los, sobald wir saßen.
  Jetzt betrachtete ich ihn genauer, nicht mehr so oberflächlich wie zuvor. Seine Haut war ungewöhnlich hell, völlig makellos und rein. Sein schwarzes Haar war zerzaust, was ihn ziemlich sexy machte. Und unter dem durchscheinenden weißen Hemd sah ich kräftige Muskeln.
  Mit einem Satz: Er erinnerte mich verdammt an Edward Cullen aus Stephenie Meyers Biss-Reihe.
  Was ihn natürlich noch ein wenig attraktiver machte.
  „Wie heißt du?“, fragte er mich. Ich kuschelte mich etwas enger in sein Jacket und antwortete grinsend: „Bella Swan.“
  Doch anstatt zu lachen sah er einfach nur gequält aus. Weshalb?, fragte ich mich da. Ich dachte natürlich kein bisschen mehr an meine Edward-Cullen-Theorie, schließlich gab es so etwas wie Vampire gar nicht.
  Ab da wurde mein Abend richtig interessant. Der gequälte Ausdruck währte nur eine Sekunde, dann grinste er ebenfalls. Schließlich tauschten wir unsere richtigen Namen aus – ich sagte ihm, dass ich wirklich Isabella hieß, und er meinte, sein Name sei Thomas.
  Ich glaube, wir redeten stundenlang. Über dies und das, erst ein wenig Smalltalk, dann wurden unsere Gespräche allmählich privater. Ich wusste zwar, dass man Fremden nicht so viel über sich erzählen sollte, aber dieser Junge… Thomas hatte etwas an sich, das mir ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermittelte. Meine Verliebtheit war verschwunden, ich blickte Thomas einfach gerne in die Augen, hörte ihm zu, wenn er etwas sagte, und genoss die Aufmerksamkeit und den Ernst, wenn ich ihm von meinen Problemen erzählte. So etwas hatte mir bei Melissa immer gefehlt: Jemand, an den ich mich wenden konnte, wenn ich Probleme hatte.
  Auch wenn ich bezweifelte, dass ich Thomas nach dieser Party jemals wieder sehen würde, sah ich genau diesen Jemand in ihm.
  Heute war mein letzter Tag hier. Ich zog um, nach Hamburg, was mindestens vierundzwanzig Stunden Fahrt von hier entfernt war, mit dem Flugzeug acht.
  Ich glaube, ich hätte diese Fahrt sogar auf mich genommen. Unsere soeben entstandene Vertrautheit schien so etwas wie Liebe auf den ersten Blick für Freunde zu sein.
  Als er also gegen drei Uhr morgens mit einem Blick auf seine Armbanduhr aufstand, spürte ich einen Stich der Enttäuschung im Herzen.
  Doch dann sagte er: „Wir haben unsere ganzen Lebensgeschichten ausgetauscht. Doch etwas habe ich dir verschwiegen. Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen.“
  Er reichte mir eine Hand, um mir aufzuhelfen. Fast sofort knickten meine Beine unter mir ein – vor lauter Gesprächen hatte ich glatt vergessen, dass es Winter war und überall Schnee lag. Doch statt eine Minute zu warten, bis das Blut in meinen Beinen wieder zu zirkulieren begann, hob Thomas mich einfach auf seine Arme und spazierte mit mir in den Wald.
  Ich umklammerte etwas hilflos seinen Hals und fragte etwas kleinmädchenhaft: „Wohin gehen wir?“
  Thomas verzog seine Lippen zu einem Strich. „Du weißt nicht, wie wichtig du mir in den letzten Stunden geworden bist. Ich habe noch nie so jemanden wie dich kennengelernt. Ich möchte dich in das große Geheimnis meiner Familie einweihen.“
  In diesem Moment machte er mir Angst, und gleichzeitig tauchte wieder die Vampir-Theorie in meinen Gedanken auf. Ich wollte mich tatsächlich von ihm losmachen, der er packte mich nur ein wenig fester und meinte traurig: „Bitte vertrau mir doch“, während er mich aus seinen inzwischen so vertrauten, rot-blauen Augen ansah.
  Ein guter Freund durfte mir keine Angst machen, das wusste ich. Deshalb sagte ich, so leise, dass ich erst glaubte, er habe es nicht gehört: „Thomas. Bitte lass mich runter. Ich möchte das Geheimnis nicht wissen, wenn du mir dabei solche Angst machst.“
  Erst lief er stur weiter, tat, als hätte er nichts gehört. Dann drosselte er sein Tempo. Schloss seine Augen. Und setzte mich langsam ab.
  Ich blickte ihn traurig an. Wie wichtig mir Thomas wirklich war, erkannte ich erst jetzt. Mein freundschaftliches Empfinden zuvor war nichts gegen diese tiefe Liebe, diesen absurden Beschützinstinkt, den ich nun ihm gegenüber empfand.
  Seine Nasenlöcher blähten sich, als er tief einatmete. Dann öffnete er die Augen. „Es tut mir so Leid. Ich wollte dir keine Angst machen. Ich glaube wirklich, es ist besser, wenn du mein Geheimnis nicht kennst.“
  Ich nickte traurig. Dann sagte ich ihm das, was ich bisher unauffällig verschwiegen hatte. „Ich ziehe morgen nach Hamburg. Vielleicht sehen wir uns nie wieder.“
  Ich sah deutlich, wie sehr ihn das verletzte. Er ergriff meine halb erfrorenen Hände, hob sie an seine Lippen und drückte einen eisigen Kuss darauf. „Isabella“, murmelte er dabei meinen Namen.
  Dann verschwand er im Wald.
  Jetzt stehe ich hier in Hamburg auf dem Balkon meiner neuen Wohnung. Seit zwei Monaten habe ich nichts mehr von Thomas gehört. Er hatte mir weder geschrieben, noch hatte er angerufen, obwohl wir sowohl Adressen als auch Nummern ausgetauscht hatten. Fast glaube ich schon, er habe mich vergessen, da höre ich ein Flattern über mir. Als ich den Kopf hebe, sehe ich nur noch den durchscheinenden Flügel einer Fledermaus, die gerade etwas fallengelassen hatte.
  Der Brief landete direkt vor meinen Füßen. Erst zögerte ich, ihn zu nehmen, hielt weiter nach der Fledermaus Ausschau, doch schließlich hob ich ihn auf und öffnete ihn.
  Der Inhalt war knapp, bedeutungslos. Und trotzdem ließ er mein Herz höher schlagen. Er lautete: Morgen Abend, neben der Kirche.



©StefanieRoss 

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