Donnerstag, 14. November 2013

Alles fort



Er war ein netter Mensch, denke ich, während ich mir ein Brot schmiere. Es ist frisch, riecht nach gerade aus dem Ofen gekommen. Den Bäcker kennen wir schon ewig, er backte uns schon das Brot, als ich noch gar nicht da war. Er macht immer Körner rein, viele verschiedene Sorten, und niemand kauft ein anderes als das hier. Mittlerweile backt er glaube ich nur noch das. Ich schnuppere an der mit Butter bestrichenen Brotscheibe und muss erneut denken: Er war ein netter Mensch.
  „Was machst du denn da“, herrscht mich mein Vater an. Er sitzt am Küchentisch und wartet auf sein Brot. Auf dem Tisch steht ein Topf mit Frankfurtern und ein Glas polnischen Senfs. Meine Mutter sitzt meinem Vater stumm gegenüber und starrt auf die Tischplatte.
  Ich wende mich ab und streiche Erdbeermarmelade auf das Brot. Der Saft sichert in die Scheibe ein, wird aufgesogen. Es sieht aus wie Blut, das in ein Bettlaken sickert. Helles, pinkes Blut.
  Ich habe noch nie Blut gesehen, nicht richtig. Nur aus kleinen Schürfwunden. Ich bin erst zwölf und bisher wohlbehütet aufgewachsen.
Ich hätte ihn gern näher kennengelernt, beginnen meine Gedanken sich erneut um das einzige Thema zu drehen, das sie im Moment denken können. So ein netter Mensch.
  Ich lege meinem Vater das Brot auf den Teller und setze mich. Meine Mutter und ich haben Brotscheiben nur mit Butter. Ich kenne niemand anderen, der Frankfurter mit Erdbeermarmeladenbrot isst außer meinen Vater. Er beißt herzhaft in das Blutbrot und ich wende mich meinem Teller zu. Die Brotscheibe liegt da, einsam und allein, ohne Blut. Sie sieht lecker aus, doch ich habe keinen Hunger.
  Ich werfe einen verstohlenen Blick auf meine Mutter. Sie scheint es zu bemerken, denn ihr starrer Blick auf die Tischplatte wirkt plötzlich gezwungen. Eilige wende ich mich wieder meinem Unschuldsbrot zu, rupfe Stückchen heraus und ordne sie neben der Scheibe in einem Kreis an. Blutbrot, Unschuldsbrot. Vielleicht war es ja Hassbrot und Liebesbrot. Meine Mutter hatte auch ein Liebesbrot. Sie liebte ihren Bruder, und ich liebte ihn auch. Fand ihn zumindest sehr nett. So ein netter Mensch.
  Mein Vater mochte ihn nicht. Hasste ihn. Ich glaube, er ist sehr froh, dass er jetzt weg ist und er meine Mutter mehr für sich hat. Sie hat schon versprochen, aus dem Kirchenbeistand auszutreten. Sie liebte ihren Bruder, und sie liebte ihre Arbeit in der Kirche. Alles weg. Kein Wunder, dass sie so traurig war.
  Ich bin auch traurig. Es ist der erste Todesfall in meiner Familie, und heute Morgen war es auch meine erste Beerdigung.
  „Nun esst doch endlich, das ist ja grauenvoll mit euch.“  Ich starre auf meinen weißen Unschuldsteller mit meinem butterbestrichenen Unschuldsbrot. Ich muss meinen Vater nicht ansehen, um zu wissen, wie er aussieht. Vor Zorn über unsere seiner Meinung nach unberechtigte Trauer ist er ganz rot im Gesicht. Sicher hat er noch ein wenig Hassbrotblut an seinem Mundwinkel kleben.
  Kindlicher Zorn wallt in mir auf. Ich spüre, dass er kindisch ist, doch ich bin noch ein Kind ich darf das. „Lass uns trauern, Papa“, sage ich mit unterdrückter Wut. Plötzlich merke ich, wie wütend ich bin. So fühlte ich mich noch nie.
  Mein Vater lachte höhnisch. „Um diesen Waschlappen von Schwager? Niemals.“
  „Er war ein bekannter Autor“, wagte ich zu widersprechen. Das war Onkel Friedrich tatsächlich gewesen. Sehr gläubiger Pfarrer der örtlichen Kirche und ein recht bekannter Autor. Er schrieb kirchliche Texte für Zeitschriften und hatte ein Buch über den Glauben im einundzwanzigsten Jahrhundert geschrieben.
  Der spöttische Ton wurde beibehalten, und diesmal blickte ich ihn an. Mein Vater hatte die Hände gefaltet und in die Höhe gehoben. „Im Angesicht des Todes sind wir alle gleich, sagte er das nicht immer? Nun, sein Erfolgt wird ihn nicht vor dem Fegefeuer beschützen.“
  Ich wusste, dass das Zitat aus irgendeinem Horrorfilm stammte, den ich noch nicht sehen durfte. Der Satz, den ich kannte, lautete: Im Angesicht Gottes sind wir alle gleich. Vielleicht ist es auch dasselbe.
  Meine Mutter erhebt sich, zeigt stumm ihre Ablehnung gegen die Worte meines Vaters. „Ich werde wieder in die Kirche eintreten“, sagt sie und flieht ins Wohnzimmer.
  Ich folge ihr.
  Ich spüre, dass mein Vater wieder rot ist. Wütend.
  Mein Unschuldsbrot liegt unberührt auf dem weißen Teller.

  
©StefanieRoss

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