Donnerstag, 21. November 2013

Morgendepression


Ermattet trottete sie die Treppe hinunter, eine Hand hilfesuchend auf das Geländer gelegt, die andere schwach über ihre müden Augen streichend. Der Tag war hart gewesen, angefangen bei ihrem frühmorgendlichen Zusammenbruch. Kein Mensch sollte so etwas durchmachen, fand sie, und auch sie nicht, wenngleich sie sich selbst hasste wie keinen anderen Menschen. Diese geistige Qual, die sie durchmachen musste, war einfach unmenschlich, und niemand, nicht einmal der gewissenloseste Schwerverbrecher, sollte mit einer solchen Bürde leben müssen. Die ständigen Zusammenbrüche, die Albträume, in denen die Hand ihrer Großmutter auf sie zusauste, bevor sie mit dem Bild der boshaft glimmenden Augen in ihrem Kopf aus dem Schlaf schreckte, schweißgebadet, verzweifelt bis auf die Knochen, schreckliche Bilder aus ihrer Vergangenheit unauslöschlich hinter die Stirn gedruckt und alleine, so völlig einsam und verloren, all der Angst und den Selbstzweifeln ausgesetzt, und keine Hand, sie sie vor dem Abhang zurückhielt, in den sie jeden Moment zu fallen drohte.
  Nein, niemand sollte so etwas durchmachen müssen. Niemand. Vielleicht sollte sie es einfach beenden, das alles. Es würde vorbei sein, für immer – all der Schmerz, der Drang, ihn wegzutrinken, mit Alkohol zu ersticken, bis die Flamme des Selbsthasses verloschen war, doch nur bis zum nächsten Morgen, an dem alles nur noch schlimmer war als an dem zuvor.
  Vielleicht war es die einzige Möglichkeit. Vielleicht war es richtig so. Was gab es zu verlieren? Ihr Leben war schon lange vorbei. Hatte eine gefolterte Seele zurückgelassen, die sich nie wieder würde erholen können. Niemals wieder. Zu tief waren die Schnitte darin, zu tief die Striemen der unbarmherzigen Peitsche des Lebens, das sie gezeichnet hatte auf immer.
  Als sie die letzte Stufe erreichte, sprang ihr der Hund entgegen. Colin. Der einzige Anker in ihrem Leben. Sie hatte ihn mit vierzehn bekommen, als sie die Frau noch nicht kannte, die ihr Leben zerstört hatte, nein, die ihr Leben dazu verleitet hatte, sie zu zerstören. Als alles noch gut war. Mittlerweile war Colin zehn, ein alter Bursche. Er erinnerte sie immer an die Zeit, in der sie noch ein behütetes Küken in Mamas Nest gewesen war. Als sie ein sorgloser, glücklicher und rebellierender Teenager gewesen war, der jeden Sonntag mit seiner Clique ausging und vom Leben nur erwartete, dass der Moment schön werden würde, dass sie jeden Atemzug genießen und ihren Spaß haben konnte. Das unbeschwerte Leben eines pubertierenden Jugendlichen noch einmal erleben zu dürfen, dafür würde sie in diesem Augenblick alles geben, in dem sie Colin hinter den Ohren kraulte und seine weiche, nasse und stinkende Hundezunge über ihr Gesicht lecken fühlte. Colin, ein altes, aber noch immer energiegeladenes Fellbündel, das ihr Tonnen von Liebe schenken konnte, ohne dem müde zu werden. Vielleicht war das Ende doch nicht der letzte Ausweg. Nicht, solange sie jemanden hatte, der ihr Herz noch ein wenig erfreuen und sie von all den schrecklichen Geschehnissen ablenken konnte, die in Dauerschleife, und ohne an zu realistischem Grauen zu verlieren, in ihren Gedanken rotierten, wieder und wieder. Und wieder, immer wieder. Den ganzen Tag, die ganze Nacht. Es war auf Dauer so erschöpfend, und doch ließ die Wahrheit nicht nach, hatte sie nach wie vor mit seinen scharfen, spitzen Klauen gepackt und schüttelte sie immer wieder erbarmungslos aus ihrer Traumwelt, schaffte sie es denn einmal, in ihr zu versinken. Hätte sie diese kurzen, gedankenlosen Traummomente nicht, die ihr nur Colin verschaffen konnte, indem er sie an diese wunderschöne, schwerelose Zeit erinnerte, die niemals wiederkehren würde und die beinahe schon vergessen war, würde sie ein letztes Mal zusammenbrechen und nicht wieder würde aufstehen können.
  Niemals.
  So vieles, das niemals wieder passieren würde. Vergaß sie, die Maske der professionellen Gleichgültigkeit aufrecht zu erhalten und gab sich ihren Gefühlen hin, wie in diesem Moment, tauchte das Wort Niemals erstaunlich oft auf.
  „Niemals“, flüsterte sie Colin ins Ohr und erntete ein begeistertes Wau. Ihr Hund sprang nach hinten, wedelte mit dem Schwanz und schnappte sich dann ihr weites Oberteil mit den Zähnen, um sie in die Küche zu zerren. Die Aktion entlockte ihr tatsächlich ein Lachen, das beinahe unbeschwert und… glücklich klang.
  Während sie Colin sein Futter in den Napf füllte, wappnete sie sich für den Tag. Dann schaltete sie das Radio ein und begann zufrieden mitzupfeifen. Die erste Hürde des Tages war geschafft. Den Rest würde sie auch noch auf die Reihe bekommen.



©StefanieRoss

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