Donnerstag, 6. Februar 2014

Vielleicht ist das Schicksal wirklich ein mieser Verräter

Es ist Mittagszeit. Der Küchentisch ist gedeckt, um ihn herum sitzt Familie Schmidt. Es scheint ein perfektes Bild des familiären Friedens zu sein. Wäre da nicht die seltsame Armbewegung des Vaters. Sein Arm bewegt sich nur auf und ab, der Winkel von Ober- zu Unterarm ändert sich nicht. Es sieht monoton aus. Und tatsächlich: Erst auf den zweiten Blick bemerkt man, dass auch mit seiner Hand etwas nicht stimmt: Über sie ist ein hautfarbener Handschuh gezogen.
Die Situation ist eindeutig: Dem Vater fehlt ein Arm. Stattdessen trägt er eine Prothese; eine Konstruktion, die seinen Arm ersetzt. Mithilfe von schraubenverstellbaren Metallfingern hält sie die Essgabel.
Wie ihm geht es vielen. Menschen mit Behinderung gibt es überall auf der Welt, sei sie durch die Geburt oder einen schweren Unfall ausgelöst worden. Erdbebenkatastrophen wie beispielsweise in Haiti fordern viele Opfer. Ganze Gliedmaßen werden von Trümmern zerquetscht und müssen amputiert werden. Was ist dann also naheliegender als eine Prothese? Sie erleichtern den Alltag und geben dem Verletzten ein Gefühl der Normalität in ihrem seitdem alles andere als normalen Leben. Nicht nur bei einem Beispiel wie dem der Familie. Menschen müssen sich finanzieren. Nur 0,25% aller Firmen nehmen Menschen mit körperlicher Behinderung bei sich auf. 0,001% behaupten es sogar, tun es jedoch nicht. Diese Zahlen sind eindeutig. Sie zeigen nicht nur, dass der Mensch einen Hang zum Lügen hat, sondern auch dass Menschen mit Behinderung automatisch abgestoßen werden, und das nicht nur, weil sie nicht arbeiten können. Aber um auf das Thema der Erleichterung im Bereich Arbeit zurückzukommen: Obwohl wir gerade gesehen haben, dass körperlich benachteiligte Menschen eben nicht so gerne eingestellt werden, kann man den Aspekt des eindeutigen Vorteils nicht von der Hand weisen. Einfache Arbeiten können auch von Menschen, die eine Prothese tragen, ausgeführt werden. Diese Tatsache ist überlebenswichtig; nicht jeder hat Verwandte und Bekannte, die sich um einen kümmern. Also was tun, wenn man völlig alleine dasteht? Nicht nur ohne andere Menschen, sondern auch ohne Arme oder Beine? Behinderungen können Existenzen gefährden. Und nicht nur durch die gerade eben erwähnte Tatsache des Alleinseins. Sondern auch durch eine viel Wesentlichere, an die kaum jemand denkt.
Folgendes Szenario: Sie haben einen Autounfall. Ihr Auto fährt mit voller Wucht gegen einen Baum. Die Motorhaube faltet sich zusammen, der Baum rast auf sie zu. Vielleicht denken sie ja: Endlich. Denn sie sind todunglücklich, weil es Menschen auf der Welt gibt, die einen unglaublich verletzen können.
Vielleicht denken sie das ja aber auch nicht, und dann rast das Ende in Form eines Baumes auf sie zu. Und vielleicht, ganz vielleicht, hat das Schicksal Erbarmen mit ihnen und verkeilt nur eben mal ihr Bein zwischen den Sitzen.
Vielleicht ist das Schicksal aber auch ein mieser Verräter, wie John Green mit dem Titel seines neuesten Buches überraschend scharfsinnig feststellt. Und dann passiert es eben, dass ihr Bein nicht nur verkeilt, sondern gnadenlos zerquetscht und zermahlen wird.
Das Thema von eben war jedoch der andere Grund, weshalb die Existenz gefährdet ist. Das Szenario haben wir nun. Das Unglück ist geschehen. Sie leben noch. Das Bein muss ab.
Und nun? Sie denken sicher nicht sofort an eine Prothese. Nein, im Gegenteil. Es werden sie Gedanken plagen, die den Geist jedes verletzten Menschen, seien es körperliche oder psychische Verletzungen, umschwirren wie ein gnadenloser, wütender Schwarm angriffslustiger Wespen: Es sind die Gedanken an Selbstmord.
Denn wie sollte es anders sein? Stellen Sie sich nur die Schmerzen vor, die sie erleiden müssen. Wie schlimm war es, als sie sich damals bei diesem Fahrradunfall das Bein brachen? Eine Lappalie. Oder der Sturz von der Treppe, bei der ihr Schädel in Mitleidenschaft gezogen wurde? Lächerlich. Ihr Bein ist nutzlos. Der Knochen nicht nur gebrochen, sondern zermalmt. Die Nervenbahnen – aktiv. Die Schmerzen? Nicht zum aushalten…
Auch ihre Psyche wird angegriffen. Diese wird in den meisten Fällen stärker belastet als der Körper. Der Freund steht einem plötzlich völlig gleichgültig gegenüber? Der Fahrradunfall ist nichts dagegen. Die Mutter stirbt? Treppe, ich komme…
Wie Sie sehen, muss man das Leben lieben, um es weiterhin akzeptieren zu können, nachdem einem Menschen etwas Derartiges geschehen ist. Sollte es tatsächlich Menschen geben, die eine solche Verletzung überwinden können, ist eine Prothese genau das richtige. Der Anschein der Normalität ist nicht garantiert, doch zumindest möglich. Beinprothesen sind mittlerweile so intelligent, dass die Bewegung so fließend ist, als sei sie ein richtiges Bein. Es gibt auch Beinprothesen für den Sport, mit denen Sportler zu bis zu Höchstleistungen rennen oder springen können, wenn nicht sogar besser als „vollständige“ Menschen. Andere Prothesen wiederum sind fast schon mit dem Körper verschmolzen, sodass sie mithilfe der Gedankenströme, die das Gehirn aussendet, bewegt werden können, als seien sie richtige Körperteile.
Das Problem bei der ganzen Sache waren seit der Weiterentwicklung der Prothese die Kosten. Nicht jeder kann sich diese Unterstützung leisten, schon gar nicht die modernsten Varianten. Viele lassen es dann lieber ganz bleiben. Ob man mit dem Fehlen eines Teiles seiner selbst weiterhin (sowohl körperlich als auch physisch) am Leben bleiben kann, kommt natürlich auf das Individuum an.
Ist man jedoch stark genug, einen Willen zu haben, so ist die Prothese, sei es nun ein Bein, ein Arm oder gar ein Herz, die Möglichkeit, wieder glücklich zu werden.

 
©StefanieRoss

1 Kommentar:

  1. Wow, super Geschichte. Behinderte Menschen sollten angenommen werden wie sie sind.
    Von jedem. Ich finde es toll, dass du darüber schreibst, weil es ein Thema ist, das viele zu
    umgehen versuchen. Ich schreibe gleich einen ganzen Roman darüber und manchmal fällt
    es schwer, die richtigen Worte zu finden.

    Viele liebe Grüße, Rainbow ☼♥
    walkingaboutrainbows.blogspot.com

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