„Johannes, oh Johannes!“, klagte Joséphine. „Wie konnte er das tun, Johnny? Wie konnte er nur!“ Und dann: „Sie haben ihn entführt, oh nein, was tun sie jetzt nur mit ihm? Wir müssen ihn befreien!“ Johnny tätschelte nur ihre Schulter, während Steffie mit dem Schatz zurückkehrte.
„Und da waren es nur
noch drei…“
„Wir müssen Johannes
retten!“
„Nein müssen wir
nicht. Er hat uns elendig verraten. Du hättest ihn nie wieder gesehen.“
Joséphine schniefte.
„Doch. Er hätte mich geholt. Er liebt mich schließlich!“
„Hm.“
„Was, hm?“
„Ach nichts. Lasst
uns Jamdi holen und dann verstecken wir uns im Wald. Ich wette, der Kerl war
hinter dem Schatz her, und bei so was gibt man nicht so schnell auf. Vor allem
nicht für einen Jammerlappen wie Johannes.“
„Beleidige ihn
nicht!“
„Würde mich nicht
wunder, wenn er unterwegs aus dem Helikopter geschmissen wird.“
Joséphine grollte
stumm vor sich hin, während sie an der Wand der Schnecke entlangliefen. Mit der
Zeit wurden die Büsche ein wenig dicker und voller, und bald sahen sie in der
Ferne etwas herumzappeln.
Steffie strahlte.
„Ah, Jamdi, er ist noch da. Ist das nicht wundervoll? Hoffentlich hat er
gelernt, sich von Pflanzen zu ernähren und hat nicht sich selbst angeknabbert.“
„Apropos anknabbern
– ich hab ewig nicht als Pflanzen gegessen“, murrte Joséphine. Und das stimmte
schließlich. Sie fühlte sich mittlerweile wie ein Skelett, so oft hatte sie auf
Essen verzichten müssen.
„Hm“, meinte Johannes.
„Wir können Fliegen essen. Da summen ja genug hier rum.“
Fliegen essen? Nein
danke! Die Fliegen waren Joséphine zwar auch schon aufgefallen, aber sie wäre
niemals auf die Idee gekommen, sie zu essen!
Sie näherten sich
dem zappelnden Ding. Joséphine merkte, dass es ein schwarzer Mensch war, der
krause schwarze Haare hatte und einen Knochen durch die Nasenwand. Es sah
irgendwie ekelhaft aus. Der Kerl war nackt bis auf einen Lendenschurz aus einer
Art Haut. Doch wohl keine… Menschenhaut? Joséphine wurde schlecht.
Als Jamdi sie
bemerkte, starrte er sie mit wütenden, fast schwarzen Augen an und fletschte
die Zähne. Sie waren alle spitz und fast schwarz. Joséphine bezweifelte, dass
Steffie es schaffen würde, aus diesem… Kannibalen
einen zivilisierten Menschen zu machen.
„Jamdi!
Jamdi-Jamdi!“, grölte Jamdi, wie um seine Unzivilisiertheit zur Schau zu
stellen.
Um seinen Hals war
eine kaum sichtbare, dünne Schnur gebunden, die jedoch allerhand auszuhalten
schien.
Steffie stapfte auf
ihn zu. „Sitz“, knurrte sie. Sofort verwandelte sich Jamdi in einen
unterwürfigen Welpen und kauerte sich auf den Boden. Dann band Steffie das Seil
vom Busch los und drehte sich zu Joséphine und Johnny um. „Also los, lasst uns
im Wald verschwinden. Macht euch übrigens keine Sorgen um Jamdi, der läuft
immer wie ein Hund. Nicht, dass ihr mich für eine Sklaventreiberin haltet.“
Pah, als würde Joséphine
sich Sorgen um diesen Ureinwohner machen.
Statt direkt zum Wald
zu laufen, besuchten sie noch einmal den Fluss und füllten dort ihre Flaschen
auf. Dann liefen sie gen Nordosten auf den Wald zu.
Bald erreichten sie
ihn, und erleichtert registrierte Joséphine, dass er wieder „normal“ war:
Blätterrauschen, auch wenn alles aus Palmen bestand, Tiergeräusche wie
Vogelzwitschern und das entfernte Brüllen von Affen, und die alltägliche
Schwüle eines Regenwaldes.
Unterwegs aßen sie
tatsächlich Fliegen, die hier so träge herumschwirrten, dass man sie einfach
aus der Luft schnappen konnte. Sie waren nicht sonderlich nahrhaft, und die
nervigen Chitinpanzer blieben immer zwischen den Zähnen stecken, aber sie
schmeckten ganz hervorragend nach Nougat, und zum Überleben musste es reichen.
Da die Bäume am Rand
des Waldes noch sehr licht waren, wanderten die drei überlebenden Gefährten
weiter in den Wald hinein, bis sicher war, dass der Helikopter, sollte er
zurückkehren, sie nicht erblicken konnte.
Zwei Mal hörten sie
an diesem Tag wieder den Helikopter, wie er über den Wald flog. Einmal wurde
sogar wieder der Lautsprecher eingeschaltet und übertrug folgende Nachricht:
„Rückt den Schatz raus ihre elenden Flüchtlinge, oder eurem kleinen
Hosenscheißer wird es schlecht ergehen!“ Natürlich wollte Joséphine sofort
losrennen, ein Menschenleben sei schließlich wertvoller als ein Haufen
Edelsteine, doch Johnny und Steffie ließen sie nicht. Die beiden wussten, dass
der Entführer nicht aufgeben würde, und sie wollten ihn unbedingt schnappen,
und nicht einfach nur loswerden. Joséphine verfluchte das Agentendenken ihrer
Begleiter.
*
Johannes erwachte mit schmerzendem Schädel. Er erinnerte
sich daran, wie er in den absolut dunklen Helikopter geklettert war und wie ihm
dann eins über den Schädel gezogen wurde. Danach nichts mehr.
Er wusste nicht, wo
er sich befand, denn es war noch immer stockdunkel, aber der Helikopter flog.
Seine Hände und Beine waren gefesselt, und um seinen Hals lag eine Eisenkette,
die ihn an der Wand hielt.
Mittlerweile bereute
er es natürlich, dass er einfach abgehauen war. Er hätte auf Steffie hören
sollen, als sie sagte, es sei eine Falle. Aber er war blind gewesen. Absolut
blind.
Er hatte sie alle
verraten. Und er hatte Joséphine im Stich gelassen. Wie hatte er das nur tun
können! Wie konnte er nur! Argh!
Er dämmerte eine
Weile vor sich hin. Er fragte sich, wohin der Flug ging. Sie flogen schließlich
schon eine ganze Weile. Einmal hörte er den Lautsprecher: „Rückt den Schatz
raus ihre elenden Flüchtlinge, oder eurem kleinen Hosenscheißer wird es
schlecht ergehen!“
Kleiner
Hosenscheißer? War etwa er damit gemeint? Elende Entführer!
Zumindest verriet
ihm das, dass sie noch immer auf der Insel waren. Anscheinend überflog der
Helikopter die ganze Zeit die Insel, auf der Suche nach Joséphine, Steffie und
Johnny. Johannes war froh, dass der Jemand sie noch nicht gefunden hatte.
Plötzlich traf ihn
ein Taschenlampenstrahl mitten ins Gesicht. Er sah, dass er durch eine kleine
Glasscheibe in einer Tür fiel. Im nächsten Moment wurde die Tür aufgestoßen,
und der Jemand trat herein. Der Strahl der Taschenlampe blieb auf Johannes’
Gesicht gerichtet, sodass er die Augen zusammenkneifen musste.
„Na, endlich wach?“
Hämisches Gelächter. „Gut. Ich wollte dir nämlich nur mitteilen, dass du
sterben wirst, wenn deine Freunde meinen Schatz nicht rausrücken!“
Und damit verschwand die Gestalt wieder und
ließ den hungrigen Johannes allein.
*
Gegen Abend erreichten sie eine Höhle. Von außen sah es
eigentlich nur aus wie eine Felsenansammlung, wäre da nicht der kleine,
unauffällige Eingang gewesen. Allerdings musste man, um dorthin zu gelangen,
durch einen Tümpel mit grünem, ekelhaftem Wasser, das voller Schilf und
rotzgelben Fröschen war.
„Seht mal, da liegt
ein Kanu“, sagte Joséphine. Tatsächlich lag da, fast verdeckt von den
Schilfstängeln und bedeckt von Fröschen, ein kleines, braunes Kanu.
„Da passen wir
unmöglich alle rein“, schnaubte Johnny.
„Richtig“, stimmte Joséphine
zu. „Lassen wir diesen Kannibalen einfach hier. Steffie, binde ihn doch mit
deiner Zauberschnur an die nächste Palme.“
Steffie blitzte sie
wütend an. „So ein Quatsch. Jamdi gehört zu uns. Wir passen da alle rein.
Stimmt’s, Jamdi?“
„Jamdi! Jamdi!“
Steffie watete
knietief bis ins Wasser, um das Kanu ans Ufer zu holen. „Das Kanu muss von den
Einwohnern von Jamdis Dorf kommen. Es ist auf jeden Fall handgemacht.“
Natürlich, was den
sonst? Sollte es aus dem Boden gewachsen sein? Natürlich war es handgemacht! Joséphine
war noch immer wütend auf Steffie.
Sie setzten sich
alle ins Boot. Es ging tatsächlich. Nur leider saß Joséphine eng an Jamdi
gedrückt, der einen übelkeitserregenden Geruch an sich hatte. Er starrte sie
neugierig an. Sie ignorierte ihn. Er knabberte an ihrem Arm, bis sie ihn
schlug. „Lass das, Menschenfresser!“ Er wich zurück und jaulte erbärmlich. Doch
ab da ließ er sie in Ruhe.
Mit den beiden
Paddeln, die im Kanu lagen, lenkten Steffie und Johnny das Kanu auf den
Höhleneingang zu. „Dort sind wir sicher“, meinte Steffie. „Falls der Helikopter
auf die Idee kommen sollte, irgendwelche Bomben auf uns fallen zu lassen.“
Als sie in das Dunkel eintauchten, legte sich
eine eiskalte, feuchte Schicht auf Joséphines Arme. Sie bereute es jetzt, nur
ihr Top anzuhaben, doch sie wagte es nicht, ihren Pullover herauszuholen. Das
Kanu wackelte schon so genug.
„Es ist so dunkel“,
wisperte sie.
„Greif vorsichtig in
meinem Rucksack“, wisperte Steffie zurück. „Irgendwo muss das Feuerzeug
liegen.“
Die beiden hatten
aufgehört zu paddeln und warteten, während Joséphine mit zitternden Fingern
nach dem Feuerzeug suchte. Sie spürte schon förmlich, wie sie in das eiskalte,
ekelhafte Wasser fiel und unterging wie ein Stein. Einmal ertrinken hatte ihr
schon gereicht.
Endlich fand sie das
Feuerzeug. Das erste, das sie sah, war das Gesicht Jamdis, der sie hungrig
anstarrte. Sie erschrak so sehr, dass sie fast aus dem Kanu fiel. Doch schon
Millisekunden darauf wurde sie abgelenkt von dem Flattern, das über ihren
Köpfen erklang: Fledermäuse!
Die Decke war sehr
hoch, und die Fledermäuse flüchteten nur durch den Eingang, ohne sie
anzugreifen, doch eine von ihnen flog zu tief und verhedderte sich in Joséphine
Haaren, die vor Schreck das Feuerzeug fallen ließ, aufschrie und sich zu
befreien versuchte, wobei fast das Kanu umkippte. Sie spürte einen Stich in
ihrem Daumen, und dann war das Geflatter in ihren Haaren verschwunden.
Das Feuerzeug
leuchtete wieder auf. Steffie hielt es mit grimmigem Gesicht in der Hand. Joséphine
betrachtete ihren Daumen. Zwei kleine rote Punkte waren darauf zu sehen, als
hätte ein Vampir sie gebissen Hoffentlich
verwandle ich mich jetzt nicht in eine Fledermaus, dachte Joséphine mit
panischer Ironie.
Steffie drückte ihr
wortlos das Feuerzeug in die Hand und paddelte weiter. Ein Blick auf die
elektronische Uhr an Steffies Handgelenk sagte ihr, dass es sieben Uhr abends
war. Sie war unglaublich müde.
„Können wir nicht
irgendwo anhalten und schlafen?“, murmelte sie.
Steffie gähnte. „Ich
bin auch müde. Vielleicht finden wir heute noch was. Wenn nicht, musst du wach
bleiben. Sonst kippt das Kanu um.“
Nach überraschend
kurzer Zeit, gegen neun Uhr abends, fanden sie den Ausgang. Das Wasser endete
noch in der Höhle, uns bis zum Eingang lag eine Fläche aus nassem Sand.
„Hier bleiben wir“,
entschied Johnny. Es ist noch in der Höhle, aber nicht mehr im Wasser. Was kann
man sich mehr wünschen?“
Joséphine wollte
murren, denn draußen war es viel wärmer, doch sie wusste auch, dass es hier
sicherer war, sollte der Verrückte wirklich Bomben vom Himmel werfen.
Trotz ihrer
Müdigkeit schlief Joséphine erst spät ein, denn sie hatte ständig Angst,
angeknabbert aufzuwachen. Außerdem stank Jamdi so abscheulich nach rohem
Fleisch und Blut, dass sie die ganze Zeit mit dem Würgreiz kämpfen musste.
Der nächste Tag
begann mit einem Gewitter, das sie alle weckte. Sie waren froh, einen Unterschlupf
zu haben und nicht davon aufgewacht zu sein, mit golfballgroßen Regentropfen
bombardiert zu werden. Zum Glück hatte Joséphine am Abend zuvor wieder ihren
Pullover angezogen, sodass sie nicht fror.
Gegen zehn Uhr hörte
der Regen auf und sie marschierten los. Heute war der Tag, an dem der
Helikopter kommen sollte, um sie abzuholen.
Der Ausgang aus der
Höhle lag anscheinend nah am Waldrand, denn schon nach halbstündiger Wanderung
traten sie auf den Strand hinaus. Der Sand war nass, und das Meer war grau und
aufgewühlt. Dunkle Wolken türmten sich am Himmel, und die Haare wurden Joséphine
ins Gesicht gepeitscht.
„W-wir w-warten
h-hier“, zitterte Steffie. Trotz der wärmsten Klamotten, die sie dabeihatten,
war allen kalt, denn die waren mittlerweile feucht und klamm.
Sie verkrochen sich
wieder zwischen die Bäume, wo sie ein wenig vor dem kalten Wind geschützt
waren. Nach etwa zweistündigem Warten hörten sie Rotorenrattern – doch welcher
Helikopter war es? Der Gute oder der Böse?
Sie versteckten
sich, so gut es ging, und warteten darauf, dass der Helikopter in Sicht kam.
Er war weiß und viel
kleiner als der andere, der schwarz war. Es war der gute Helikopter.
Steffie stürmte auf
den Strand und winkte mit beiden Armen. Der Helikopter hielt über ihnen und
ließ sich auf etwa zehn Meter hinunter, ladete aber nicht. Der Strand war auch
viel zu schmal dafür.
Eine Strickleiter
wurde heruntergelassen, was Joséphine an Johannes’ Verschwinden erinnerte.
Mühsam kletterte sie das schwankende Ding hinauf, hinter Steffie und Johnny
her. Jamdi lief erst unschlüssig hin und her, dann folgte er ihnen.
Im Inneren des
winzigen Helikopters war es schön warm. Er bestand aus einer Rückbank, auf der
drei Personen Platz hatten, einem Pilotensitz und einem Copilotensitz. Alle
Sitze waren leer.
Sobald die Türen
geschlossen und der Lärm halbwegs verstummt war, fragte Joséphine: „Wo ist denn
der Pilot?“
Steffie hievte sich
auf den Pilotensitz. „Autopilot. Die Insel ist geheim, und die Geheimpolizei
möchte so wenig Menschen wie möglich in ihre Existenz einweihen, also haben sie
sich den Piloten gespart.“
Johnny setzte sich
auf den Copilotensitz, während sich Joséphine auf die Rückbank neben Jamdi
setzen musste.
„Und was machen wir
jetzt?“, fragte Joséphine. Eigentlich könnte jetzt alles gut enden – sie würden
nach Hause fliegen und den Schatz unter sich aufteilen. Basta.
Aber da war noch Johannes,
der sterben würde, wenn sie ihn im Stich lassen. Und Joséphine glaubte auch
nicht, dass der Jemand sie einfach gehen lassen würde – wenn Steffies Theorie
stimmte und der Jemand sie speziell ausgesucht hatte (warum auch immer, denn
das Rätsel hatte nicht besonders viel mit Elektronik zu tun), dann wusste er
natürlich auch, wo ihr Haus wohnte.
„Keine Ahnung“, beantwortete
Steffie Joséphines Frage. „Aber dieser Helikopter hat eine übelst geile
Panzerfaust, damit könnten wir den anderen Helikopter einfach in die Luft
jagen, wenn er sich blicken lässt.“
„Nein!“, schrie Joséphine.
„Da ist doch noch Johannes drin!“
„Hmpf. Der ist
sicher schon tot“, schnaubte Steffie. „Oder was meinst du, Jamdi?“
„Jamdi!
Jamdi-Jamdi!“
„Na also. Er gibt
mir recht.“
Johnny schüttelte
den Kopf. „Wir müssen den Jungen wirklich retten. Wir können ihn nicht einfach
sterben lassen. Und vor allem sollten wir nicht einfach davon ausgehen, dass er
schon tot ist.“
Steffie grübelte.
„Okay, neuer Plan: Wir fliegen über die Insel und suchen den Scheißkerl, und
wenn wir ihn gefunden haben, dann… dann landen wir und zwingen den Kerl damit,
auch zu landen. Sobald die Tür seines Helikopters sich öffnet, stürmen ich und
Johnny hinein, bringen den Jemand um und retten Johannes. Ende.“
„Klingt gut“, gab Joséphine
zu. „Aber wo bin ich dabei?“
„Du bleibst
natürlich hier! Das ist viel zu gefährlich für dich!“
„Ich bin kein
kleines Kind mehr!“
„Na und? Es geht
hier nicht darum, wie alt du bist. Du hast nicht die Ausbildung wie ich und
Johnny, und ich will nicht, dass dir etwas passiert.“
Johnny nickte ernst.
„Ich auch nicht. Tu es für uns.“
Joséphine schmollte
ein wenig, dann nickte sie uns hoffte, dass es glaubwürdig aussah. Sie hatte
nicht vor, untätig hier sitzenzubleiben. Schon gar nicht, wenn Jamdi neben ihr
saß.
„Gut.“ Steffie
drehte sich um und ergriff den Steuerknüppel. Dann schaltete sie den
Autopiloten aus und stieg höher, bis sie fast die ganze Insel im Blick hatten.
Sofort sahen sie den riesigen schwarzen Helikopter, der am anderen Ende der
Insel am Himmel schwebte.
Sofort schwenkte er
zu ihnen herum und flog auf sie zu. Joséphine schlug das Herz bis zum Hals.
Was, wenn er auf sie schoss? Wenn er einfach beschloss, ihren Helikopter zu
vernichten und den Schatz zwischen ihren Leichen zu suchen?
Aber das tat er
nicht. Ruhig flog er auf sie zu, und als er etwa einen Kilometer entfernt war,
ließ Steffie ihren Helikopter sinken und schließlich landen. Dann schaltete sie
den Motor ab. Als sie sah, dass der schwarze Helikopter ebenfalls sank, öffnete
sie sofort die Tür stürmte mit Johnny hinaus.
*
Johannes wehrte sich so gut es ging, als ihm ein Knebel in
den Mund gedrückt wurde. Es brachte nichts. Er konnte den Mann nicht erkennen,
der das tat, aber er erinnerte ihn an den Koch.
Er kann es nicht sein, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Du hast gehört, wie er gestorben ist, und du
hast am nächsten Morgen seine Leiche gesehen. Trotzdem bekam Johannes
Steffies Worte nicht aus dem Kopf. Dass das nur eine Puppe sei, und dass der
Koch noch lebe.
Vielleicht war es ja
wirklich der Koch.
Vielleicht war es
aber auch nur irgendein Chinese. Wie gesagt, das Licht war schlecht.
*
Joséphine kletterte
auf den Pilotensitz, bereit, jeden Moment aus der offenen Tür zu springen,
sobald Steffie und Johnny im fremden Helikopter verschwunden waren.
Sie beobachtete, wie
der schwarze Helikopter landete, wie sich an der Seite eine einzige, winzige
Klappe öffnete, und wie Johnny und Steffie sofort hineinstürmten, die Waffen
gezückt.
Sie schnappte sich
die Waffe, die an der Tür des Helikopters hing, sprang aus dem Helikopter und
knickte sich dabei einen Fuß um. Doch sie ignorierte es und humpelte auf den
bösen Helikopter zu. Jetzt ging es um Leben und Tod, das wusste sie.
Sie rannte auf die
kleine Klappe zu. Es war stockdunkel darin, doch aus dem Licht, das hineinfiel,
er kannte sie Steffie und Johnny, die mit erhobenen Waffen dastanden. Steffie
fuhr herum und richtete ihre Waffe auf sie. „Wer ist da?“
Da wurde Joséphine
klar, dass Steffie sie nicht sehen konnte, da das Licht hinter ihr war. „Ich
bin’s“, sagte sie mit fester Stimme.
„Du solltest im
Helikopter bleiben“, zischte Johnny. „Verschwinde!“
„Niemals!“
„Na gut. Lassen wir
sie dabei sein“, sagte Steffie gehetzt. „Wir müssen uns jetzt beeilen! Der
Jemand wusste, dass wir hereinkommen wollten – sonst hätten wir ihn hier
erwischt. Er versteckt sich. Er spielt sein Spiel mit uns.“
„Du gehst rechts,
ich geh links“, sagte Johnny. Rechts uns links befanden sich Türen mit
Sichtfenstern, die mit Klappen geschlossen waren. „Auf drei! Eins, zwei… drei!“
Sie öffneten die
Türen und hoben sofort wieder ihre Waffen hoch. Nichts passierte.
„Johnny? Hier ist Johannes.
Was ist bei dir?“
„Nichts. Nur ein
kleiner Gang mit ein paar Türen. Komm her, wir suchen den Kerl. Joséphine kann
ja bei Johannes bleiben.“
„Okay.“ Steffie lief
zu Johnny, und sie schlugen die Tür wieder hinter sich zu.
„Johannes!“, rief Joséphine
und eilte auf die Tür zu, hinter der Steffie Johannes gesehen hatte. Sie war
von alleine zugefallen, und Joséphine drückte sie auf. Im spärlichen Licht sah
sie Johannes’ bleiches Gesicht mit einem Knebel im Mund. Sein Hals war mit
einer Eisenkette an die Wand gekettet, seine Hände und Füße waren gefesselt. Er
blickte sie mit weit aufgerissenen Augen an und schüttelte panisch den Kopf.
Was wollte er damit
sagen? „Johannes? Was… ist los?“
Sie trat einen
Schritt näher. „Gnnhp! Hn-hn! Nhhp!“, rief Johannes, doch der Knebel machte aus
seinen Sätzen sinnloses Gestammel. Joséphine trat noch einen Schritt näher zu
ihm, um ihm den Knebel aus dem Mund zu ziehen, doch in diesem Moment spürte sie
den kalten Lauf einer Waffe in ihrem Genick.
Es war noch jemand
in diesem Raum gewesen. Das war es, was Johannes ihr hatte sagen wollen.
„Dreh dich um,
Miststück. Und Hände hoch.“ Sie atmete tief ein. Diese Stimme kannte sie. Sie
hatte zwar mit Akzent gesprochen, doch dieser war jetzt vollkommen
verschwunden.
Sie schielte auf die
Waffe in ihren Händen. Wäre sie schnell genug, um sie einzusetzen, bevor sie
selbst erschossen wurde? Vermutlich nicht. Dann drehte sie sich mit erhobenen
Händen um – und blickte dem Koch ins Gesicht.
Er grinste böse. An
ihm war nichts mehr vom immer gut gelaunten Touristen zu sehen, und auch nichts
mehr vom deprimierten Familienvater. Das hier war reine Bosheit. „Na,
überrascht? Das dachte ich mir. Ich weiß schließlich, dass ich ein begnadeter
Schauspieler bin. Hast mir das alles abgenommen, was? Tja, und nun…“ Er ließ
den Waffenlauf an ihrer Kehle entlangwandern. „… nun beenden wir diese ganze
Tragödie. Und ich schnappe mir den Schatz und verschwinde.“
Joséphine
unterdrückte das Zittern in ihrer Stimme. „Sie haben das Ganze organisiert? Sie
haben ein Flugzeug voller unschuldiger Menschen abstürzen lassen, nur um an
diesen Schatz zu kommen? Sie haben Lixiti und Kabuki getötet?“
Er lachte erfreut
auf. „Ach nein, wie amüsant du doch bist. Aber da du ohnehin gleich sterben
wirst, werde ich es dir erzählen: Ich bin auch nur ein kleiner, unbedeutender
Mittäter. Mein Vorgesetzter hat das alles organisiert, den Flugzeugabsturz und
meine angebliche Familie. Die Menschen im Flugzeug – tja, die sind
bedauerlicherweise tot. Es war nicht schwer, zwei Leute zu finden, die sich als
Piloten einschleusen ließen, um Selbstmord zu begehen. Es gibt viele solcher
verrückter Menschen. Was „Lixiti“ und „Kabuki“ angeht – die beiden leben noch.
Sie sind genau wie ich Schauspieler, aber damit endet ihre Rolle auch schon.
Sie befinden sich wieder in Asien und schwimmen in dem Geld, das sie hier
verdient haben. Ich bin geblieben. Ich habe einen Vertrag mit meinem
Vorgesetzten – wir teilen uns den Schatz.“ Wieder ein boshaftes Grinsen.
„Allerdings behalte ich den Schatz für mich. Deine beiden Freunde kümmern sich
ja um den Trottel, mit dem ich den Vertrag gemacht habe, und somit steht der
Schatz mir zu. Jetzt erledige ich das hier und mache mich aus dem Staub.“
Er krümmte den
Zeigefinger, und in diesem Moment passierten viele Dinge gleichzeitig: Jamdi
stürmte auf vier Beinen aus dem Nichts hervor und verbiss sich in der Wade des
Kochs. Gleichzeitig drückte dieser ab, verfehlte jedoch Joséphine und traf
stattdessen den armen Johannes. Joséphine, die Jamdi ankommen sah, drückte im
selben Moment selbst ab und traf den erschrockenen Koch mitten in die Brust.
Er stolperte zurück,
starrte verwundert auf den größer werdenden Blutfleck auf seiner Brust, dann
auf Joséphine, und schließlich auf seine Waffe. „Du…Luder“, spie er und spuckte
dabei Blut aus. Dann hob er die Waffe und schoss auf Joséphine.
Johannes schrie
durch seinen Knebel auf, als Joséphine gleichzeitig mit dem Koch zu Boden sank.
Sie spürte nur Schmerz in ihrer Brust, schlimmer noch als damals vor so wenigen
Tagen, als sie beinahe ertrunken wäre. Sie atmete gurgelnd ein. Es war ein
Lungenschuss. Sie hatte Blut in der Lunge. Sie würde sterben.
Das war ihre letzte
Erkenntnis, bevor sie ohnmächtig wurde.
*
Joséphine erwachte im Himmel.
Zumindest glaubte
sie, dass es der Himmel war. Es war so hell, dass sie die Augen nicht öffnen
konnte, und es war so still, dass sie glaubte, taub zu sein. Oder als sei
Frieden. Wie im Himmel. Außerdem war ihr letzter Gedanke sowieso gewesen, dass
sie sterben müsste. Also war sie wohl tot.
Obwohl… müsste sie
dann nicht in der Hölle sein?
Durch diese
Erkenntnis riss sie die Augen auf. Alle Eindrücke stürmten auf sie ein, und
auch ihr Gehör kehrte zurück. Sie hörte ein schnelles Piepsen, ihren eigenen,
keuchenden Atem. Sie spürte höllischen Schmerz in ihrer Brust. Und sie sah,
dass das Licht, das von oben kam, von einer Lampe herrührte. Die Luft roch
plötzlich nach Desinfektionsmittel.
Ah.
Ein Krankenhaus.
Eine Schwester
stürmte durch eine Tür, vermutlich angelockt durch das ungewöhnlich hohe
Piepsen. Sie überprüfte die Werte auf einem Computer neben ihr und beugte sich
dann über sie. Joséphine sah nur ein verschwommenes Gesicht. „Frau Princet?
Können sie mich hören?“
Sie nickte nur
schwach, wodurch eine neue Schmerzwelle hervorgerufen wurde. Dann wurde sie
wieder ohnmächtig.
*
Das nächste Mal erwachte sie erfrischter. Sie konnte klar
sehen, normal hören und riechen, und der Schmerz war auf ein erträgliches Maß
gesunken. Sie drehte den Kopf um ein paar Millimeter und sah Steffie auf dem
Besucherstuhl sitzen. Ihre Freundin grinste sie an.
„Endlich wach? Wie
geht’s dir?“
Joséphine merkte,
dass sie nur krächzen konnte. „Ganz… okay. Was ist passiert?“
„Ah, ich merk schon,
das Sprechen klappt nicht so besonders. Also hör einfach zu. Ich kann’s gar
nicht mehr erwarten, dir das alles zu erzählen.
Also. Ich habe mit
Johnny alle Türen ausprobiert. Hinter der letzten fanden wir das Cockpit. Dort
stand auch schon unser geheimnisvoller Jemand mit erhobener Waffe und feuerte
sofort auf uns. Das hatten wir zwar erwartet, aber trotzdem wurden wir
getroffen. Ich am rechten Arm und Johnny in der linken Schulter.“ Erst jetzt
sah Joséphine, dass Steffies rechter Arm bandagiert war. „Der Kerl konnte
verdammt gut schießen, denn er traf uns jeweils in die Arme, in der wir unsere
Waffen hielten. Wir ließen sie also gezwungenermaßen fallen. Doch das Glück war
für einen Moment auf unserer Seite: Die Waffe unseres Jemands war leer. Er
fluchte also, öffnete eine Klappe in der Decke des Helikopters und wollte
verschwinden. Vermutlich, um den Schatz aus unserem Helikopter zu klauen. Johnny
rannte zum Pilotensitz und… ich weiß nicht, ob ich es dir erzählen soll. Es war
auf jeden Fall ziemlich eklig. Also der Jemand kletterte gerade auf das Dach
des Helikopters, da schaltete Johnny ihn ein – und der Jemand wurde von den
Rotorenblättern zerfetzt. Durch die offene Luke regnete es Blut und Fleisch.
Richtig ekelhaft. Aber der Kerl war auf jeden Fall tot.“
Joséphine drehte ihr
Gesicht wieder zur Decke und dachte darüber nach. Sie fand es okay. „Wer… war…
der… Jemand?“, krächzte sie. Herrgott nochmal, sie klang wie ein Kettenraucher!
„Ah, der Jemand.
Sehr faszinierend. Wir fanden einen Vertrag zwischen einem gewissen Chin Tao
und einem Gabriel Oertel. Klingelt’s da?“
Joséphine versuchte
ein Grinsen. „Ich… muss kotzen.“
Steffie grinste
zurück. „Ah, deinen Humor hast du nicht verloren. Sehr gut. Aber ich erzähle
mal weiter. Also, es regnete Gabriel, und dann fanden wir den Vertrag. Da
wussten wir sofort, dass der Koch – wir dachten uns, dass er dieser Chin Tao
sein musste – auch hier irgendwo sein musste. Also rannten wir zurück zu euch
und fanden alle wie tot am Boden liegen. Johannes war ohnmächtig, er hatte eine
Schusswunde im Arm. Du warst ohnmächtig, du hattest eine Wunde in der Brust.
Ganz ehrlich, zuerst habe ich dich für tot gehalten. Dann habe ich jedoch erste
Hilfe geleistet und dich vermutlich ziemlich knapp noch gerettet. Du bist nicht
aufgewacht, und wir haben dich sofort aufs Festland in ein Krankenhaus
geflogen. Dort wurden wir alle versorgt – und ta-daa, da sind wir, alle froh
und munter.“
Joséphine runzelte
die Stirn. „Du verschweigst mir etwas. Was war mit dem Koch und Jamdi?“
Steffies Grinsen
geriet ein wenig zur gequälten Grimasse. „Ach, Jamdi. Und ich habe mir solche
Hoffnungen gemacht. Er hat den Koch aufgegessen. Glaub mir, sei froh, dass du
ohnmächtig warst. Das hättest du nicht sehen wollen. Ich hab Jamdi zurück in
den Wald geschickt.“
„Guuut“, meinte Joséphine
schläfrig. „Bin ich eigentlich noch in Lebensgefahr?“
„Ich glaube nicht.
Die Schwester meinte, du seiest einmal aufgewacht. Da war deine Situation noch
kritisch. Es war kurz nach der Operation, in der sie die Kugel aus deiner Lunge
geholt haben. Du hattest echt Glück. Du bist vermutlich der erste Mensch, der
einen Lungenschuss überlebt hat.“
„Wie schön“, gähnte Joséphine.
„Hey hey, nicht
einschlafen. Es gibt da noch jemanden, der dich sehen möchte.“
Joséphine riss die
Augen auf. Johannes!
Die Tür öffnete sich
erneut, und Johannes trat ein. Sein Arm war bandagiert. Ohne ein Wort der
Begrüßung ergriff er ihre Hände und fragte: „Joséphine. Willst du mich
heiraten?“
Ihr traten die
Tränen in die Augen. „Es ist neutral.“
„Hä?“
„Das heißt ja,
verdammt!“
Überglücklich beugte
er sich zu ihr herunter und küsste sie auf den Mund.
Prolog
Die Hochzeit fand auf der Golden Gate Bridge statt, die die
Braut ja auf ihr Handgelenk tätowiert hatte. Es war ein großes Fest, und auch
wenn der Bräutigam ständig über Dinge stolperte und zwei verschiedene Socken
anhatte, sagte die Braut „ja“.
Das Brautpaar machte
Flitterwochen auf einer einsamen Insel, deren Namen und Ort niemand kannte, und
schon ein Jahr später folgten süße kleine Zwillinge, beides Jungen, namens Toni
und Leon, die beide die niedlichen Sommersprossen ihrer Mutter und die dunklen,
fast schwarzen Augen ihres Vaters geerbt hatten.
Die Braut selbst, Joséphine
Dinger, zog mit ihrem Mann und ihren Kindern in ein amerikanisches Gebirge, und
niemand außer ihren engen Freunden kennt ihren genauen Aufenthaltsort.
Die Firma, Microsoft
Productions, ist weiterhin die bekannteste und erfolgreichste Firma weltweit
und gehört noch immer Joséphine, wird mittlerweile jedoch von einer zwielichten
Person namens Johson geleitet.
Joséphine Dinger ist
die reichste Frau der Welt und genießt ihr Leben, auch wenn sie ab und zu
Atembeschwerden hat, von denen niemand weiß, wo sie herrühren.
← TEIL 2
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