Der Wind wehte leise. Joséphine konnte es hören. Es hörte sich an wie ein gleichmäßiges Rauschen… nein. Es war irgendwie… stoßartig. Wie… Atem? Und ein Gurgeln, ein undefinierbares Gurgeln. Woher kamen diese Geräusche? Gerade eben war es noch so friedlich gewesen, so still, so schwerelos.
Die Geräusche wurden
lauter. Diesmal hörte es sich an wie ein Luftballon, der aufgeblasen wird.
Regelmäßig, wie
Atemzüge. Tshhh… tshhh… tshhh…
Und das Gurgeln. Wie
Wasser am Boden des Luftballons.
Viel Wasser.
Wieso waren diese
Geräusche da? Es klang so sehr nach Leben. Zu sehr. Und sie war doch schon tot.
Sie wollte zurück in die Stille! Wer brauchte schon Leben?
Marie.
Marie?
Wer war Marie?
Was tat dieser Name
in ihrem Kopf, der hätte leer sein müssen?
Irgendwie berührte
dieser Name etwas in ihr. Wie konnte das sein? Sie sollte nichts mehr fühlen!
Sie sollte nichts mehr denken! Sie sollte in der beschützenden, friedlichen
Leere des Todes schweben.
Marie.
Marie…
Marie!
Mit einem Ruck
setzte Joséphine sich auf. Etwas knallte gegen ihr Gesicht und verschwand dann
fluchend wieder. Sie holte tief Luft, öffnete ihre Augen und…
Feuer!
Ihre Lunge brannte,
und sie hustete, hustete, hustete. Und ihre Augen waren zu, es war zu hell. Das
Feuer? Nein, da war kein Feuer. Es war nur in ihrer Lunge…
Gefühlte fünf
Minuten saß Joséphine da und hustete Liter von Wasser aus. Mit einem Schlag war
alles da: Der Flugzeugabsturz, der Sprung, das Glück, das sie gefühlt hatte,
als sie den alten Mann angegrinst hatte, und der Horror, als sie unter der
Plane gefangen war. Und der Tod.
Der Tod…
Das süßeste aller
Erlebnisse. Frieden, Ruhe, Vergessen. Wäre nicht Marie gewesen, der Name ihrer
Schwester, die sie über alles liebte, wäre sie vermutlich noch immer dort. In
der unendlichen Schwärze des Friedens.
Joséphine atmete
röchelnd ein. Es schmerzte, als hätte sie den ganzen Tag geschrieen. Auch ihre
Augen brannten. Sie spürte ihre nassen Kleider, die ihr unangenehm am Körper
klebten, und den feinen Sand an ihren Armen und Beinen. Sie spürte Wärme von
oben, die Sonne, und den sanften Wind, der sie streichelte, sie entspannte und
ihr das Gefühl eines Sommerferien-Ausflugs gab.
Sie behielt die
Augen geschlossen, atmete, hörte zu. Neben ihr war leises Gemurmel zu
vernehmen.
„Sie hat mir die
Nase gebrochen!“ Ein Mann.
„Seien Sie still und
freuen sich lieber, dass Sie sie gerettet haben!“ Wieder ein Mann, ein anderer.
Sie ignorierte die
Stimmen und konzentrierte sich aufs Atmen. Es wurde allmählich leichter,
schmerzfreier. Ihr war klar, dass sie irgendwie und von irgendwem aus dem Wasser
gerettet wurde und nur knapp überlebt hatte. Sie waren irgendwo gestrandet,
wohl kein Festland. Denn sonst läge sie schon längst in einem Auto auf dem Weg
ins Krankenhaus.
Sie viel konnte ihr
trüber Verstand sich noch zusammenreimen. Und sie wusste, sie würde die
Antworten auf ihre Fragen bekommen, würde sie die Augen öffnen.
Aber noch nicht.
Erst nach zehn
Minuten fühlte sie sich etwas besser. Hörte sie da etwa das Flackern eines
Feuers? Wieso lag sie nicht dort? Allmählich wurden ihre nassen Kleider nervig.
Sie setzte sich
vorsichtig auf, die Augen noch immer geschlossen. Das Gemurmel verstummte.
Sicher gab sie ein Bild ab wie eine Mumie, die gerade aus dem Grab erwachte,
auch wenn die Umgebung etwas unpassend sein dürfte. Aber warum nicht?
Sie öffnete die
Augen einen Spalt breit. Helles Tageslicht fiel hinein und blendete sie nach
den scheinbar ewigen Stunden in der undurchdringlichen Schwärze des Todes. Bald
sah sie Genaueres: Ein strahlend hellblauer Himmel, feiner Sand, grüne Palmen,
die sich im leichten Wind wiegten. Vor ihr zwei Männer, die sie schnell
wiedererkannte: Der unglaublich gutaussehende Mann von vorhin und der alte
Mann. Etwas weiter entfernt ein gigantisches Feuer. Alles war in helles
Sonnenlicht getaucht.
Erfreut über den schönen
Anblick öffnete sie die Augen ganz.
*
Der Mann beobachtete grimmig, wie die hübsche Frau ewig
liegen blieb, während er sich mit dem zynischen alten Mann stritt. Dann sah er
ihr dabei zu, wie sie sich langsam aufsetzte, wobei sie aussah wie eine Mumie,
da sie die Augen geschlossen hielt. Dann öffnete sie sie und strahlte übers
ganze Gesicht.
Und was war mit
seiner Nase? Gerade hatte er noch eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchgeführt, da
sie ihm zu schön zum Sterben war, und dann sprang sie auf, brach ihm die Nase
und legte sich einfach wieder hin? Und jetzt beachtete sie ihn nicht einmal!
Wie wäre es mit einem einfachen „Entschuldigung“? Er starrte sie böse an.
Trotzdem kam er
nicht umhin, sich selbst für den Erfolg seiner Behandlung zu beglückwünschen,
und auch der alte Mann warf ihm einen wohlwollenden Blick zu.
*
Joséphine blickte sich etwas genauer um. Jetzt, da sie die
Augen ganz geöffnet hatte, konnte sie das ganze Ausmaß der Schönheit erkennen.
Sie saß am Ufer des Meeres, gerade so weit entfernt, dass die gierig Leckenden
Fluten sie nicht erreichen konnten. Der Strand selbst war der feinste Sand, den
sie je gesehen hatte. Der Strand war etwa zwanzig Meter breit, nicht viel, und
endete in einem dichten Wald aus Palmen. So einen dichten Palmenwald hatte Joséphine
nicht nie gesehen. Sie sah auch Lianen, und fremdartig aussehende Bäume. Das
hier war ganz eindeutig ein Djungel.
Als sie sich
vollgesogen hatte mit der Schönheit, blickte sie ihre Retter an. Auch ihnen
klebte die Kleidung am Körper und betonte ihre Muskeln. Beide hatten einen
überaus ansehnlichen Körper. Dem unglaublich gutaussehenden Mann von vorhin
klebte außerdem das braune Haar platt am Kopf, während die grauen Haare des
alten Mannes das Wasser abperlten. Ob das bei älteren Leuten immer so war?
Bekamen sie wasserabweisende Haare? Bei ihren eigenen Großeltern hatte sie das
nie bemerkt, und sie hatte schließlich vier davon.
Die Gedanken über
das Aussehen ihrer Begleiter ließen sie an sich selbst herunterschauen: Ihr
weißes, etwas durchscheinendes Top klebte ihr am Körper, man konnte deutlich
den schwarzen BH sehen. Der Shorts ging es auch nicht besser. Hmpf. Wenigstens
machte ihr as nichts. Sie brauchte sich nicht ihres Körpers wegen zu schämen!
Außerdem war sie gerade dem Tode entronnen, und außerdem hoffte sie, man konnte
trotz des auf dem Rücken klebenden Sandes ihres Drachen sehen. Als sie
aufstand, wischte sie unauffällig ein paar Mal über ihren Rücken. Ihre Beine
zitterten ein wenig.
Sie warf einen Blick
auf den unglaublich gutaussehenden Mann von vorhin, der sie weiterhin böse
anstarrte. Seine Nase war lila und geschwollen. Was hatte er denn da gemacht?
Sie schüttelte in Gedanken den Kopf über ihn und grinste ihn an.
Die Härte wich aus
seinem Blick und er grinste sie ebenfalls an, während er sich aus seiner
Hockstellung erhob. Er hatte fast gänzlich schwarze Augen, wie Joséphine
auffiel. Sie fragte sich, warum sie darauf achtete. Auf diese Frage kam die
Feststellung, dass sie diese Augen kannte.
Und natürlich das passende Gesicht dazu. Ob er ein Schauspieler war, der in
einem Film mitgespielt hatte, den sie vor ewigen Jahren mal gesehen hatte? Sie
beschloss, ihn später danach zu fragen.
„Geht es Ihnen gut?“
Die Frage ließ Joséphines Blick zum alten Mann wandern. Er trug seine
Sonnenbrille (ganz ehrlich, allmählich fragte sich Joséphine, ob er sie nicht
vielleicht festgeklebt hatte, mit Sekundenkleber oder so was. Das war ja
abnormal, wie lange er sie auf der Nase behalten konnte!), und Joséphine
nickte.
„Ich glaube, ich war
in der Zwischenwelt oder so“, erzählte sie. „Es war fast so schön wie hier.“
„Wie sah es denn
dort aus?“, fragte der unglaublich gutaussehende Mann von vorhin neugierig.
Joséphine zuckte mit
den Schultern. „Es war nur Schwarz, und ich schwebte darin. Aber das wirklich
schöne war eben das Gefühl von Frieden, und diese Losgelöstheit.“
Er schaute sie nur
an, als sei sie verrückt – wie konnte man endlose Schwärze mit diesem
malerischen Strand vergleichen? – und nickte dann abschließend, damit sie bloß
nicht auf die Idee kam, weitere Verrücktheiten zu erzählen.
„Gehen wir zu den
anderen“, meinte der alte Mann und deutete auf das Lagerfeuer. „Ich bin dafür,
dass wir uns trocknen lassen und eine kleine Vorstellungsrunde machen.“
Erst jetzt erinnerte
Joséphine sich wieder an „die anderen“. Der Mann mit seiner Frau und dem Kind!
Sie saßen auf der anderen Seite des Feuers, und da es wie erwähnt wirklich
gigantisch war, hatte Joséphine sie erst gar nicht erkannt. Aber jetzt sah sie
sie: Drei unbewegliche Schatten hinter dem Rauch. „Tun wir das“, stimmte sie
dem Vorschlag des alten Mannes zu. Sie brannte darauf zu erfahren, wer ihre
geheimnisvollen Mitleidenden waren.
Als sie auf die drei
zugingen, konnte man sie besser erkennen: Sie waren Asiaten, in gewöhnliche
Klamotten gekleidet. Der Mann grinste ihnen schon erwartungsvoll entgegen, der
kleine Junge mit großen, neugierigen Augen, und die Frau mit fast schon
feindselig-bösem Blick. Joséphine wollte nicht rassistisch denken, aber sie
fand, dass alle drei aussahen wie die reinsten Klischee-Asiaten. Außerdem hatte
keiner von ihnen ein besonderes Merkmal. Sie wirkten unscheinbar und
unauffällig, alle drei.
Joséphine und die
beiden Männer setzten sich zu der Familie (denn um eine Familie handelte es
sich offensichtlich). Der Mann grinste noch immer, als würde er gleich platzen
wollen, sagte aber nichts. Joséphine beugte sich zum alten Mann hinüber. Dabei
fragte sie sich, ob ihm in seinen langen Hosen und seinem Rollkragenpullover
nicht warm war. „Wieso sind sie eigentlich nicht halb verreckt?“
Und er antwortete
lachend: „Ich habe es vorgezogen, so zu landen, dass sich mein Fallschirm nicht über mir ausbreitet! Und so was
sollte man doch wissen, wie das geht…“ Er bedachte sie mit einem gespielt
tadeligen Blick, und ihre Wangen röteten sich ein wenig. Sie fühlte sich
schuldbewusst, obwohl sie es wirklich nicht gewusst hatte und eigentlich er sich schuldig fühlen sollte, dass er
sie nicht gewarnt hatte.
„Und wo kommt er
plötzlich her?“ Sie deutete auf den unglaublich gutaussehenden Mann von vorhin,
der mit seiner gebrochenen Nase beschäftigt war. Er richtete sie gerade, damit
sie nicht allzu krumm wieder zusammenwachste. Das letzte Mal hatte sie ihn
eigentlich im Flugzeug gesehen, als er in die erste Klasse gestürmt war.
Der alte Mann zuckte
die Schultern. Seine Sonnenbrille rutschte ein wenig vor, und er schob sie
eilig wieder zurück. Also war sie doch nicht festgeklebt. „Ist uns einfach
hinterher gesprungen.“
Joséphine nickte
bedächtig. „Der dritte Fallschirm.“
„Exakt.“
Plötzlich erhob sich
der grinsende Mann und verbeugte sich tief. Dann begann er, zu sprechen. Mit
einem äußert chinesischem Akzent, das heißt, er sprach alle r’s wie ein l aus.
„Wil sind ihnen sehl dankbal, dass sie uns die Möglichkeit zul Flucht geboten
haben. Wil wissen, welche Unannehmlichkeiten wil velulsacht haben, und wil
stehen bei ihnen in glößtel Schuld.“ Frau und Kind nickten nachdrücklich. „Mein
Name ist Kadongxi Wong, abel alle nennen mich den Koch, weil ich beluflich Koch
bin. Und natüllich welde ich mich fül die Dauel unseles Aufenthaltes hiel um
das Essen kümmeln. Dies sind meine Frau Lixiti Wong und mein 8-jähligel Sohn
Kabuki Wong.“ Wieder nickten Lixiti und Kabuki nachdrücklich. Niedliche Namen,
fand Joséphine. Der Koch setzte sich.
Nun erhob sich der
alte Mann, und der unglaublich gutaussehende Mann tat es ihm gleich, also stand
auch Joséphine auf. Der alte Mann begann zu reden. „Wir danken ihnen für die
Höflichkeit, die sie uns entgegenbringen. Es wäre ungünstig gewesen, wenn wir
in Streitigkeiten leben müssten.“ Ernickte Joséphine zu, ein Zeichen, dass sie
sich vorstellen sollte.
Sie schluckte und
hob dann mutig das Kinn. „Mein Name ist Joséphine Princet, und ich bin Leiterin
des weltweit führenden Konzerns für Computerwissenschaft, auch bekannt als
Microsoft Productions.“ Sie nickte und setzte sich wieder möglichst nah ans
Feuer. Sie hatte es einfach nicht lassen können, ein wenig mit ihrer Stellung
anzugeben.
Sie registrierte
einen entsetzten Blick des unglaublich gutaussehenden Mannes von vorhin und
schob ihn auf die Tatsache, dass sie ein so hohes Tier war. Manche Leute
konnten so was ja nicht leiden.
Der alte Mann
verpasste ihm unauffällig einen Tritt und er riss seine Augen von ihr los.
Dann stellte er sich
vor. Joséphines Magen flatterte vor Aufregung, und dann… dann sprach er seinen
Namen aus. Und plötzlich war es Joséphines Herz, das flatterte.
„Mein Name ist Johannes
Dinger. Ich komme aus San Francisco und habe eine gebrochene Nase.“
Er setzte sich
wieder, wobei er stur nach unten blickte. Vielleicht wollte er sich den Anblick
von Joséphines offenem Mund ersparen. Denn so sah sie aus: einen ungläubigen
Ausdruck auf dem Gesicht. Und zwar, weil sie sich erinnerte.
Johannes! Johannes Dinger!
Oh, wie hatte sie ihn gehasst in der Schule. Acht verdammte lange Jahre waren
sie zusammen auf dem Gymnasium gewesen, und im Abitur war er sogar um eine
halbe Note besser gewesen, obwohl sie eine 1,0 hatte. Ihr Leben lang hatte sie
ihn gehasst, gehasst, gehasst!
Doch wie stand es
nun um sie? Er sah unglaublich gut aus, und bis auf den Namen hatte sie noch
keine Verbindung zum alten Johannes gefunden. Vielleicht konnten sie einen
Neuanfang wagen und Freunde werden?
Ihre Gedanken wurden
unterbrochen, als der alte Mann Anstalten machte, sich vorzustellen. Und wer er war, darauf war Joséphine wirklich
gespannt.
Der alte Mann
räusperte sich und nestelte nervös an seiner Sonnenbrille herum. „Ich habe um
ehrlich zu sein keine Vorstellung zu machen, sondern eher ein… Geständnis.“ Er
holte tief Luft, dann hob er seine Hand, führte sie zum langen Bart – und riss
ihn ab! Darunter kam makellose, gebräunte Haut zum Vorschein. Joséphine
verstand nicht, warum es sich hierbei um ein Geständnis handeln sollte. Er
hatte nun eben doch keinen Bart – na und?
Doch er war noch
nicht fertig: Er ließ den falschen Bart auf den Sand fallen, dann hob er erneut
die Hand und zog seine Haare vom Kopf. Eine Perücke! Darunter quollen seidige,
schulterlange braune Haare hervor. Nun ging Joséphine das Licht auf, weshalb
ihr der alte Mann so gar nicht alt vorgekommen war.
Nun schob er die
Ärmel seines langen Rollkragenpullovers nach oben, und Joséphines sah die
Tattoos, die sie bereits tausend Mal gesehen hatte.
Und dann, als er
seine Sonnenbrille von den Augen zog und Joséphine aus spitzbübisch lächelnden,
haselnussbraunen Augen ansah, gab es für sie gar keinen Zweifel mehr, dass sie
Johnny Depp gegenübersaß.
*
Johannes saß missmutig am Feuer, hörte gar nicht mehr zu,
als der alte Schwachkopf sich vorstellte. Er dachte nur an sie: Joséphine.
Joséphine! Joséphine
Princet! Wie hatte er sie geliebt! Acht wundervolle Jahre waren sie gemeinsam
im Gymnasium gewesen, und er hatte jeden einzelnen Tag geliebt wie ein Stück
Schwarzwälder Kirschtorte, an dem er ihre wundervolle Stimme hören und ihr
perfektes Gesicht und ihre fluffigen Haare sehen konnte. Natürlich hatte er
diese Gefühle versteckt, denn er war schließlich ein Mann. Und nach dem ABI
hatte er sie nie wieder gesehen, und schließlich wohl vergessen. Und nun war
sie hier. Oh, Joséphine!
Als sie aufschrie,
blickte er erschocken auf und sah Johnny Depp ins grinsende Gesicht.
*
Joséphine stieß einen Schrei der Überraschung aus, bevor sie
mit offenem Mund ihren Lieblingsschauspieler anstarrte. Johnny Depp! JOHNNY
D-E-P-P! Neben ihr!
Und so… normal. So… menschlich. Joséphine musste sich
eingestehen, dass sie ihn sich als… irgendetwas Übernatürliches vorgestellt
hatte, wie Stars nun mal den Effekt auf ihre Fans haben. Nichts göttlich strahlendes
natürlich, sondern eine Ausstrahlung, die sofort alle Blicke auf sich zog.
Aber wie er dort
stand – gutaussehend, charmant, doch eindeutig ein normalsterblicher Mensch –
mochte sie ihn noch lieber als vorher. Dennoch, sie konnte sich nicht zusammenreißen,
und ihr Mund stand noch weit offen. Erst als sie Johnny Depps gequälten
Gesichtsausdruck sah, war sie rücksichtsvoll genug, ihn zuzuklappen. Johnny
Depp! Er war es wirklich! Nett war er, und sah tausendmal besser aus als in
jedem seiner Filme.
Sie bemerkte, dass
alle Blicke auf sie gerichtet waren – anscheinend war keiner der anderen ein
sonderlich großer Johnny-Depp-Fan –, wurde vor Verlegenheit rot und räusperte
sich.
Da lächelte Johnny
Depp ihr freundschaftlich zu und Joséphine wurde klar, dass er nun auch nicht
anders war als vorhin, als er noch aussah wie ein alter Mann. Er war immer noch
dieselbe Person, und den alten Mann hatte sie auch vorher schon gemocht. Dass
Johnny Depp nun aussah wie Johnny Depp veränderte natürlich etwas, aber das
heißt nicht, dass er etwas Besseres war.
Er wandte sic h
wieder der Familie zu. „Liebe Familie Wong, ich freue mich sehr, ihre
Bekanntschaft zu machen. Ich nehme an, wir sind mit der Vorstellungsrunde
durch?“
Gerade, als er
diesen Satz beendet hatte, knackte vor ihnen im Wald ein Ast, und alle zuckten
zusammen, sogar die sonst reglose Frau, Lixiti. Sekunden darauf trat eine
Person aus dem Wald.
Steffie.
Sie grinste breit,
als sie die überraschten Gesichter sah. „Hi, José!“ Sie begrüßte ihre Freundin.
„Ich hab den Funkruf des Flugzeugs mitbekommen und dachte natürlich sofort,
dass du darin gewesen sein musst und natürlich intelligent genug warst, daraus
zu entkommen.“ Joséphine nickte perplex. Es war doch immer zu einer
Überraschung gut, eine Agentin zur Freundin zu haben.
Steffies Blick
wanderte weiter zu Johnny Depp. „Hey, Johnny! Ich wusste gar nicht, dass du
auch in dem Flugzeug warst!“ Johnny Depp grinste sie an, und sie begrüßten sich
mit einem High-5.
Joséphine mischte
sich ein. „Steffie? Du kennst Johnny Depp?“
Steffie blickte
hilfesuchend gen Himmel. „Äh… ja. Aber ich konnte es dir nicht sagen, weil es
mit meiner Arbeit zu tun hatte und somit strengster Geheimhaltung unterlag.“
Damit gab Joséphine
sich zufrieden, und Steffie wandte sich an Johannes, musterte ihn abfällig von
oben bis unten und rümpfte dann die Nase. „Na, wenn ich den mal nicht kenne.“
Ohne Johannes’
entgeisterten Blick zu beachten drehte sie sich zu der Familie um. Sie
verbeugte sich, sagte etwas auf Chinesisch und lächelte dann. Auch die Familie
lächelte und antwortete in überaus freundlichem Ton, ein beeindruckendes
Erlebnis.
Steffie grinste Joséphine
an. „Nette Chinesen habt ihr da aufgegabelt. Sie kommen aus Hiroshima.“
Joséphine verdrehte
die Augen. „Hör auf mit dem Smalltalk und überleg lieber, wie wir von dieser
verdammten Insel runterkommen. Unsere Handys sind im Wasser geschrottet worden,
und sonst haben wir nichts. Ich hoffe zumindest, der Rettungshubschrauber für
das Flugzeug kommt bald und findet uns.“
Johnny Depp und
Steffie tauschten einen Blick, der Joséphine beunruhigte. Johnny Depp sagte:
„Der Rettungshubschrauber wird definitiv kommen, aber sehen wird er uns nicht.
Unter dieser Insel liegt ein einzigartiges natürliches Material, das eine Kuppel
erschafft, die die Insel von außen unsichtbar macht. An dieses Material kann
man nicht herankommen, und es bewirkt seltsame Dinge auf dieser Insel. Das
Klima, zum Beispiel. Du erwartest, dass es hier immer tropisch sein wird, wie
es auch sein sollte, aber in Wirklichkeit ist es nur Zufall, dass es jetzt warm
ist. Gelegentlich schneit es hier sogar. Und diese Wetterveränderung geschieht
im Laufe einiger Stunden. Jedenfalls, wunder dich nicht, dass diese Insel so
lange unentdeckt geblieben ist.“
Joséphine machte ein
missmutiges Gesicht. Was war das für Quatsch? „Wenn die Insel ach-so-unentdeckt
ist – woher weißt du denn das alles?“
Johnny Depp
wechselte abermals einen Blick mit Steffie, und diesmal antwortete sie. „In
Anbetracht der Umstände denke ich, dass es besser ist, dieses Geheimnis zu
lüften.“ Johnny Depp nickte zustimmend und Steffie fuhr fort. „Johnny ist
Mitglied der amerikanischen Geheimpolizei, und wir kennen uns von der Mission
um diese Insel. Wir sollten das Material unter der Insel bergen, aber es ist
uns nicht gelungen. Der Geheimdienst hat also beschlossen, die Insel einfach
ruhen zu lassen. Sie ist nicht mehr unbekannt, aber eindeutig noch unentdeckt.
Niemand war jemals wirklich hier und hat zum Beispiel eine Karte angefertigt.
Wir beide waren nur unter Wasser.“
Während diese
Informationen verdaut wurden, ließ sich Johannes verlauten. „Und wie kommen wir
jetzt von hier runter?“
„Ja, genau“, stimmte
Joséphine zu. „Wer weiß, welche Monster dieses blöde Material hier erschaffen
hat. Ich will hier weg! Ich will nicht im Schlaf von irgendwem aufgefressen
werden! Hättest du nicht Hilfe holen können, als du erfahren hast, wo wir
sind?“
Steffies Grinsen
wurde breiter. „Das hätte ich tun können, ja. Aber wo bliebe dann der Spaß?“
Joséphines Gesicht
lief rot an. „Du. Hast. Gewusst. Wo. Wir. Sind. Und. Hast. Keine. Hilfe.
Geholt?!“
„Oh-oh.“ Steffie
sprang zurück. „Es tut mir Leid! Ich dachte, ein wenig Abenteuer würde jedem
gefallen.“
„Arggh!“ Joséphine
klatschte sich beide Hände ins Gesicht. Ein normaler Mensch würde jetzt
vielleicht auf den anderen losgehen und ihn zu Brei schlagen (oder es zumindest
versuchen), doch Joséphine war absolut anti-Gewalt, und sie war sich auch nicht
sicher, ob sie jemals jemanden schlagen könnte, wenn er sie nicht gerade
vergewaltigen wollte. „Wir sind verloren und werden vermutlich Wochen auf
dieser Insel verbringen!“
Johnny Depp
schnaubte. „Wochen? Ich tippe eher auf Jahre. Schließlich ist die Insel
unsichtbar, und vermutlich der letzte Ort, an dem unsere Geheimdienste mich und
Steffie suchen würden. Wenn sie uns überhaupt suchen!“
Er hatte schon
fertig gesprochen ehe ihm klar wurde, dass er das Falsche sagte. „Gaaah!“,
schluchzte Joséphine.
Steffie trat zu ihr,
legte ihrer Freundin die Hand auf die Schulter und beobachtete dann mit
schuldigem Gesicht, wie Joséphine zusammensank.
Auf die befremdeten
Blicke der anderen meinte sie nur achselzuckend: „Ich wollte ihr das Leiden
ersparen. Sie wird jetzt erstmal bis morgen durchschlafen. Ich übrigens auch.“
Sie gähnte, streckte sich neben dem Feuer aus und schlief sofort ein.
Die wasserdichte Uhr
an ihrem Handgelenk zeigte die digitalen Ziffern 12:00 an.
*
Johannes trottete zum Ufer. Er musste jetzt allein sein.
Allein sein und nachdenken. Dringend. Seine Gedanken schlugen Purzelbäume, wenn
er zur schlafenden Joséphine sah. Johnny Depp hatte eine Jacke in seinem
Rucksack, die er über sie ausgebreitet hatte, und dann hatte er sie nahe ans
Feuer getragen, weil ihre Kleider noch feucht vom Meerwasser waren.
Er musste sich über
seine Gefühle klar werden, sonst würde er es keine Sekunde länger an ihrer
Seite aushalten.
Liebte er sie? Als
Frau? Oder wollte er einfach eine Freundschaft mit ihr?
Liebte sie ihn?
Als er dann übers
Meer blickte, wünschte er sich, es wäre doch Haie darin gewesen.
Eines stand für ihn
jedoch fest. Er würde jetzt über sein Problem nachdenken. Und wenn er sie nicht
liebte, dann würde er sich selbstständig machen. Sollte er jedoch feststellen,
dass er sie wirklich liebte, dann würde er an ihrer Seite sitzen, wenn sie
aufwachte.
*
„Eeeehngrrrnm…“, grummelte Joséphine, als sie erwachte. Ihr
Kopf schmerzte erbärmlich, und das Licht blendete in ihren Augen. Trotzdem
fühlte sie sich seltsam entspannt, als hätte sich ihr Gehirn während des
Schlafes mit der momentanen Situation angefreundet und beschlossen, dass es
sich nicht mehr lohne, sich darüber aufzuregen.
Der Himmel war
strahlend blau, die Sonne schien noch immer. Also war es noch derselbe Tag. Sie
konnte nicht mehr als ein paar Stunden geschlafen haben.
Sie lag am
Lagerfeuer, neben ihr Johannes, der sie verträumt anschaute (sie merkte es
kaum), auf ihrer anderen Seite Johnny Depp. Steffie neben Johnny, und die
Familie wieder auf der anderen Seite, fast verdeckt vom Feuer und dessen
Rauchschwaden.
Durch müde Augen
hindurch beobachtete Joséphine, wie die anderen zu Mittag aßen, und auch ihr
Magen grummelte. Dadurch wurden Johnny und Steffie auf sie aufmerksam. Steffie
hielt etwas Schwarzes, Zappelndes in der Hand, doch Joséphine konnte nicht
erkennen, was es war. „José!“, rief Steffie. „Du hast den ganzen Tag und die
ganze Nacht durchgeschlafen!“
Joséphine machte
große Augen. Die Müdigkeit war verschwunden. Es war also schon der nächste Tag,
und nicht mittags, sondern morgens? Verdammt! Kein Wunder, dass sie Hunger
hatte.
Nun blickte sie
Johnny Depp ins Gesicht, und er lächelte ihr breit und freundschaftlich zu,
sodass ihr ganz warm ums Herz wurde vor Glück. Sie konnte es immer noch nicht
fassen, dass er neben ihr saß.
Ihr nächster Blick
galt den Kokosnussschalen, die vor den anderen standen. Joséphine fiel auf,
dass alle grüne Blätter über ihre Schale gelegt hatten, als sie merkten, dass
sie wach war. Hm, vermutlich, damit sie sie in Ruhe begrüßen konnten und die Kokosmilch
nicht in der Sonne kaputtging. Neben jeder Schale lag ein buntes Strohhälmchen.
Jemand musste ein Päckchen im Handgepäck gehabt haben.
„Guten Molgen!“ Der
Koch kam hinter seiner Feuerbarrikade herum und grinste ihr zu. „Sie müssen
sehl hunglig sein! Sie haben sehl lange geschlafen! Ich habe ihnen ihl
Flühstück aufgehoben. Gleifen Sie zu!“ Er schob ihr eine appetitlich aussehende
halbe Kokosnussschale zu, über der zwei große, grüne Blätter lagen. Obendrauf
lag ein quietschgelber Strohhalm.
„Danke“, murmelte Joséphine.
Sie hob das Blatt an, in der Erwartung, frische Kokosmilch zu finden, und
schrie auf.
Kakerlaken!
Riesige, schwarze,
zappelnde Kakerlaken!
Igitt!
Igitt!
Igitt!
Die Nuss flog in
hohem Bogen in den Wald, und Joséphine zitterte vor Ekel. Erst jetzt merkte sie
es: Alle um sie herum hielten die Blätter ihrer Kokosschalen fest. Sie hielten
die Kakerlaken drinnen, damit sie nicht abhauten und sie sie gemütlich
verspeisen konnten! Und das war das zappelnde Ding, das Steffie vorhin in der
Hand gehalten hatte!
Wah! Bäh!
Johnny Depp blickte
sie ernst an, dann legte er die Blätter über seiner Kokosnuss beiseite und
griff in das Gewusel. Er holte eine Kakerlake heraus, die ein Loch im Rücken
hatte, aus dem eine ekelhafte gelbe Flüssigkeit kam, und deren Beine sich noch
bewegten. Eine neue Welle der Übelkeit überkam Joséphine. Als Johnny seinen
grünen Strohhalm in das Loch im Rücken steckte und zu saugen begann, während er
ihr noch hypnotisierend in die Augen starrte, sprang Joséphine auf und lief
schreiend davon. Irgendwann merkte sie, dass Steffie hinter ihr herrannte und
blieb stehen. Steffie erreichte sie, kein Bisschen außer Atem. „Es schmeckt
besser als es aussieht! Glaub mir!“
Joséphine blickte
sie angeekelt an. „Du wagst es, mit mir zu reden, du Monster! Dir klebt noch
ein Bein am Mund!“
Steffie tat es weg.
„Ah. Verzeihung. Jedenfalls, ich finde, du solltest es zumindest probieren.
Joséphine
schauderte. „Die leben alle noch.“
„Ja.“ Steffie zuckte
mit den Schultern. „Insekten sind irgendwie schwer zu töten, wenn man sie nicht
total zerquetschen will. Nun komm schon!“
Joséphine ging
ergeben mit. Der Hunger brannte ihr ein Loch in den Magen, und würden die
Blätter an den Bäumen nicht so verdammt unappetitlich aussehen, würde sie sogar
sie essen. Aber in ihrem Handgepäck hatte sie auch nichts zu Essen. Sie hätte
eine Packung Schokoriegel kaufen sollen. Nein, gleich zehn! Hunderte!
Als sie am Feuer
ankamen, hatte der Koch ihr bereits eine neue Schale mit Kakerlaken bereitgestellt.
„Wollen Sie also doch plobielen? Veltlauen Sie mil, sein sehl gute Qualität von
diesel Insel! Kommen aus den Felsen dolt hinten. Hiel, nehmen Sie diesen Stein
und machen Sie ein Loch in Lücken von Kakellake. Und hiel ist Stlohhalm, zum
Tlinken. Habe ich dabei gehabt, aus Hiloshima.“
Joséphine atmete
tief durch. Dann nahm sie eines der zappelnden Dingsda aus der Kokosnuss. Mit
der anderen Hand nahm sie den spitzen Stein und brach damit ein Loch in den
Rücken des Insekts. Es war ein grausames Knacken, und dann find das Insekt noch
schneller zu zappeln an. Beinahe hätte Joséphine es fallen gelassen. Dann hob
sie den Strohhalm auf – und blickte in sechs erwartungsvolle Gesichter.
„Es würde mir
definitiv leichter fallen, wenn ihr mich nicht alle anstarren würdet!“, motzte
sie. Sofort schien jeder der anderen etwas anderes unheimlich interessant zu
finden.
Bevor ihr der
Gedanke kam, dass wenn die Schalen Kokosnüsse waren irgendwo auch mehr davon
waren, war es auch schon passiert: Mit entsetztem Gesicht steckte sie den
Strohhalm in das zappelnde Insekt – es schmatzte, und grüne Flüssigkeit kam zum
Vorschein –, führte ihn zum Mund und saugte.
Ihre Augen weiteten
sich, ihr Herz schlug schneller.
Noch nie hatte sie
etwas so Köstliches gegessen.
*
Johannes grinste, als er heimlich Joséphine betrachtete.
Auch er hatte sich erst in einen McDonald gewünscht, bis er die Kakerlaken
probiert hatte. Sie schmeckten nach nichts Vergleichbarem, recht süß, mit einem
Hauch nach Zitrone und Orange, und etwas Undefinierbarem, das das Ganze
einzigartig machte.
Nichtsdestotrotz
wollte er fort von dieser vermaledeiten, unsichtbaren und mysteriösen Insel.
Mysteriöses hatte ihn noch nie interessiert, weshalb er in der neunten Klasse
auch mit einem Mädchen namens Beatrice zusammen war. Aber, dachte er, Ich war
wohl doch nur mit ihr zusammen, weil ich mich von Joséphine ablenken wollte.
Sie hatte nämlich ziemlich deutlich durchblicken lassen, dass sie ihn nicht
mochte. Und je mehr Aufmerksamkeit er auf sie verwendet hätte, desto
unglücklicher wäre er geworden.
Er seufzte tief und
beobachtete weiter seine große Liebe.
*
Himmel, sie konnte gar nicht genug von diesen abscheulichen
Viechern bekommen! Sie schwor sich, sobald (und wenn überhaupt) sie wieder zu
Hause war, würde sie ein Restaurant eröffnen, mit Delikatessen von dieser
Insel. Gewiss gab es hier noch mehr unentdeckte Köstlichkeiten, und allmählich
behagte es ihr schon, hier auf dieser idyllischen und kulinarisch wertvollen
Insel zu bleiben. Bis auf ihr seltsames Fast-Nahtoderlebnis fand sie ihren
Urlaub bisher viel erholsamer, als er es in Kehl gewesen wäre.
Während sie gegessen
hatte, hatten sich die anderen in ein Grüppchen zusammengefunden. Sie hatte es
kaum bemerkt, solchen Hunger hatte sie, doch nun bemerkte sie Johnny Depp, als
er aus dem Grüppchen heraustrat und auf sie zukam. „Schmecken mir auch, diese Dingsda.
Ich bin sicher, das liegt an diesem Zauberstein! Woanders würden sie vermutlich
schmecken, wie normale Kakerlaken nun mal schmecken würden.“
„Mhmnompfnompf!“ Das
sollte die Frage sein, ob die Kakerlaken dieser Insel auch außerhalb dieser
Insel noch so schmecken würden oder ob es der Einfluss der Insel sei, dass sie
nur genau hier so gut schmeckten.
Allerdings hatte sie gerade den Mund voll und wollte nicht auf den köstlichen
Geschmack verzichten, um diese Frage vernünftig zu stellen.
Johnny schaute sie
einen Moment seltsam an, dann lachte er. „Jedenfalls, wir haben vorhin
beschlossen, Richtung Südosten am Strand entlangzugehen. Das ist dort.“ Er
deutete nach rechts. „Vielleicht finden wir irgendetwas, das uns weiterhilft.
Ich finde diese Idee besser, als hier sitzenzubleiben, bis wir gefunden
werden.“
Joséphine beschloss,
satt zu sein. „Einverstanden. Wann geht’s los?“
„Jetzt gleich.“
Sie nickte, stand auf und klopfte ihre Hände
an den Beinen ab. Das Zeug klebte, und einen Moment bedauerte sie, dass sie
keine lange Hose angehabt hatte. Die Vorhersage, dass sich das Wetter
schlagartig ändern konnte, war glücklicherweise noch nicht eingetreten, denn Joséphine
genoss die Sonne auf der Haut. Auch die Nacht war warm gewesen. Sie hoffte
sehr, dass das noch so bleiben würde.
Im Moment war es
ebenfalls warm. Es war etwa zehn Uhr morgens, und wie es aussah, würde es um
die Mittagszeit herum noch höhere Temperaturen geben.
Nachdem also jeder
seine wenigen Habseligkeiten gepackt hatte (alle hatten die Geistesgegenwart
gehabt, ihr Handgepäck mitzunehmen, also hatte jeder das Nötigste dabei.
Steffie hatte eigentlich nur einen Rucksack dabei, und da sie als Agentin hier
war, konnte man nur spekulieren, was sich darin befand) ging es los. Die
Familie Wong blieb zusammen und bildete die Nachhut, Steffie, Joséphine und
Johnny liefen voraus, und zwischen den beiden Gruppen lief einsam und allein Johannes,
so in Gedanken versunken, dass niemand auch nur auf die Idee kam, ihn
anzusprechen.
Anfangs, so etwa die
ersten drei, vier Stunden, wurde noch viel geredet. Doch als es dann auf
Nachmittags zuging und die Sonne erbarmungslos auf die Gefährten herunterbrannte,
und gleichzeitig der Hunger und der Durst sich anschlichen und weder
Kakerlakenfelsen noch Bäche sich blicken ließen, senkte sich Schweigen über
sie. Niemand hatte etwas zu Trinken dabei, da sie es am Tag davor schon
ausgetrunken hatten. Außerdem waren es nur kleine Flaschen, wie man sie am
Flughafen nach der Kontrolle eben kaufen konnte, und die hatten sie dummerweise
an ihrem letzten Rastplatz alle liegen gelassen. Vermutlich gab es im Wald
einen Bach, doch trotz des Durstes wagte sich keiner in den gefährlich
aussehenden Wald. Alle dachten an seltsame, genetisch mutierte Monster, die die
Insel erschaffen haben konnte.
Doch dann endlich,
nach weiteren zwei Stunden endloser Qual, hörten sie es: Das Gluckern eines
Baches. Plötzlich bekamen sie alle neue Energie, sprinteten los und hüpften
schließlich ins Wasser des kleinen, frohselig dahinfließenden Wasserlaufs. Sie
tranken, badeten und legten sich schließlich über den ganzen Strand verteilt in
den Sand, wo sie sich von der Sonne trocknen ließen.
Der Bach kam aus dem
dichten Wald und verlief sich im Sand zu einem Delta. Die Gefährten waren
hingerissen von so viel Schönheit.
„Nicht einmal China
sein schönel“, meinte der gebürtige Chinese, was ihm einen bösen Blick seiner
Frau einbrachte.
Die Gefährten
beschlossen einstimmig (ohne Lixiti, die noch beleidigt war), hier zu bleiben.
Den Rest des Tages lagen sie faul herum, badeten, sonnten sich und lernten sich
besser kennen. Das prächtige Wetter hielt an.
Joséphine redete
sehr viel mit Johnny Depp, fast ununterbrochen, und die beiden bemerkten, dass
sie viel Gemeinsam hatten. Ihre Gesprächsthemen gingen nie aus, und sie
verstanden sich super. In diesen wenigen Stunden entstand eine enge
Freundschaft zwischen den beiden, die man nur als Seelenverwandtschaft
bezeichnen konnte, so schnell wurden sie Freunde.
Es ging schon auf
sechs Uhr abends zu – zum Glück hatte Steffie ihre wasserdichte Armbanduhr
dabei! – als der kleine Kabuki sagte, er habe Hunger. Da er bis jetzt noch nie
ein Wort gesagt hatte, sondern nur still und schüchtern dasaß und süß aussah,
blickten ihn bei diesen Worten alle an. Er hatte es nur leise zu seiner ebenso
stillen Mutter gesagt, doch da alle anderen ebenfalls Hunger hatten, hörte es
jeder. Bis jetzt war der Drang zu Essen mit frischem, kaltem Wasser unterdrückt
worden, doch nun, da es ausgesprochen wurde, spürte jeder den nagenden Schmerz
in seinem Bauch. Seit den Kakerlaken am Morgen hatte es nichts zu Essen
gegeben, und das Problem war, dass es hier auch nichts gab. Keine Früchte
tragenden Bäume und auch keine Steine voll wuselnder Insekten. Selbst der
einfallsreiche Koch schwieg. „Eigentlich ich finde zu Essen immel Dinge. Hiel
aber sein nix!“
Die Gefährten
tauschten bedrückt Ideen aus. „Wir könnten uns in den Wald wagen“, schlug
Steffie vor.
„Oder im Sand
graben“, ergänzte Joséphine.
„Gibt es vielleicht
Fische im Fluss?“, fragte Johnny Depp.
„Im Meer tummelt
sich sicher irgendwas“, grübelte Johannes.
„Ich hab Hunger,
Mami“, klagte Kabuki.
Der Koch stampfte
schließlich mit dem Fuß in den Sand. „Kommt, Lixiti und Kabuki. Wäle doch
gelacht, wenn ich nichts zu Essen finden wülde!“
Sie standen auf, und
Johnny meldete sich zu Wort. „Soll vielleicht einer von uns mitgehen? Oder wir
Männer könnten jagen gehen.“
Der Koch schüttelte
fast schon panisch den Kopf. „Nein! Ich meine… will schaffen das zu dlitt.“
„Sollte nicht
wenigstens Kabuki…“
Der Koch schüttelte
so nachdrücklich den Kopf, dass Johnny verstummte. Dann entfernte sich die
Familie, lief am Bach entlang und verschwand schließlich im Wald.
„Das war ziemlich
komisch“, bemerkte Joséphine und erntete Zustimmung. Zwar wollte niemand die
Familie der Gefahr aussetzen, doch niemand folgte ihnen.
Die vier
verbliebenen saßen betreten im Sand, die Sonne verschwand schon am Horizont,
obwohl es gerade mal halb sieben sein konnte. Ein kühler Wind zog auf, und es
wurde rasch dunkler.
Joséphine fröstelte,
das erste Mal auf dieser Insel, seit sie hier gestrandet war. Sie überlegte, ob
sie ihre warme Garnitur Klamotten anziehen sollte, doch sie entschied sich
dagegen. Den anderen schien es genauso zu gehen.
Schließlich stand
Steffie genervt auf. „Was sitzen wir hier eigentlich nutzlos herum und frieren
uns den Hintern ab? Lasst uns ein Lagerfeuer machen!“
„Mit welchem
Feuerzeug?“, fragte Johnny. „Gestern hat es der Koch entzündet, mit den
wasserdichten Streichhölzern, die er dabeihatte. Aber er ist weg.“
„Er hat irgendwie so
einiges dabei, was uns nützlich ist, findet ihr nicht?“, warf Johannes ein. Steffie
nickte zustimmen, doch die anderen ignorierten ihn. Trotzdem redete er weiter,
versuchte zu überzeugen. „Erst die Strohhalme, dann die Streichhölzer. Und dann
auch noch wasserdicht. Kein Schwein hat wasserdichte Streichhölzer dabei wenn
er in Urlaub fährt, nicht einmal wenn er Chinese ist. Oder?“
Schließlich
ignorierte ihn auch Steffie und sie redete mit den anderen. „Ich war auf diese
Mission vorbereitet, erinnert ihr euch?“ Sie lächelte.
Oh ja, erinnerte sich Joséphine verbittert. Und wie ich mich daran erinnere. Und hättest du ein wenig mehr
nachgedacht, Steffie, dann säßen wir jetzt alle im Warmen. Sie beobachtete,
wie Steffie zu ihrem Rucksack lief, eine Weile darin herumwühlte und
schließlich ein silbernes Windfeuerzeug zückte.
„Na also, damit
dürfte es gehen.“ Sie warf es Joséphine zu. Dann meinte sie: „Ich gehe am
besten der Familie Wong nach. Dann können wir zusammen Brennholz suchen.“
„Soll ich
vielleicht…“, begann Joséphine, doch Steffie winkte ab.
„Das geht schon. Ich
bin gleich wieder da.“ Sie verschwand im Wald, und nun waren Joséphine, Johannes
und Johnny alleine.
Joséphine überlegte.
Sollte sie mit Johannes ein Gespräch anfangen?
Diese Entscheidung
wurde ihr abgenommen. Johannes rutschte ein wenig zu ihr herüber und räusperte
sich unwohl. „Was hast du eigentlich so gemacht nach dem ABI?“
Joséphine lächelte.
„Mich bei Bill Gates eingeschleimt und ihm seinen Posten geklaut.“
„Äh…“
Wieder herrschte
Schweigen. Johnnys Magen grummelte, und aus irgendeinem Grund fingen sie alle
drei so an zu lachen, dass sie bald keine Luft mehr bekamen. „Das sind die
Nerven!“, meinte Joséphine lachend.
„Allerdings!“,
erwiderte Johnny. „Ich hoffe sehr, dass die anderen etwas zu Essen finden.“
In diesem Moment kam
Steffie aus dem Wald, ein wenig außer Atem und einen Stapel dünner Äste unter
dem Arm. Und alleine.
„Du warst schnell“,
bemerkte Joséphine. „So ist Familie Wong?“
Steffie blickte
unruhig über ihre Schulter. „Ähh… ich hab sie nicht mehr gefunden. Bin nur ein
paar Meter in den Wald hinein und hab Holz gesammelt.“
Sie warf den
spärlichen Haufen „Holz“ auf den Boden und räusperte sich. „Die anderen bringen
sicher noch mehr mit.“
Mit diesen Worten
drehte sie ihren Freunden den Rücken zu. Erst dachte Joséphine, sie schmolle
irgendwie, doch als die erste kleine Flamme aus den Ästen flackerte und sie
wieder einen Blick auf Steffie warf, hatte diese einen grüblerischen Ausdruck
auf dem Gesicht, und ihre Augen blickten in die Ferne. Joséphine kannte diesen
Ausdruck schon aus der Schule: Steffie dachte über etwas nach, ein Rätsel,
dessen Lösung ihr offensichtlich erschien, doch auf die sie einfach nicht kam,
worüber sie sich wiederum ärgerte und erst nachgab, wenn sie die Antwort
gefunden hatte. Wenn sie diesen Ausdruck auf dem Gesicht hatte, konnte man noch
so viel mit der Hand herumwedeln – sie merkte es einfach nicht.
Als Joséphine es
jetzt sah, wirbelten Fragen in ihrem Kopf herum. Worüber dachte sie nach? Was
verheimlichte sie? Was hatte sie dort im Wald gesehen, das sie zur schnellen
Umkehr veranlasst hatte?
Joséphine warf einen
Blick zu Johnny hinüber und sah, dass er ebenfalls Steffie anblickte, auch
einen nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht. Ob er es wusste? Was Steffie
verheimlichte? Er kannte schließlich ihr Berufsfeld und ihre Gedanken darin
wesentlich besser als Joséphine selbst, auch wenn sie Steffie seit der Schule
kannte. Ihr neuer Beruf ließ ihr nicht viel Freiheit zum Erzählen, und vor
Johnny hatte sie diese Einschränkung sicher nicht aufrechterhalten müssen.
Inzwischen brannte
das Feuer mit allem, was die geringe Menge Holz hergab. Joséphine, Johnny und Johannes
rückten so nahe an die Flammen heran, wie es möglich war. Nur Steffie blieb
weiterhin abwesend sitzen, und nicht einmal die Kälte an ihren bloßen Armen und
Beinen schien sie zu stören.
Da kam Familie Wong
aus dem Wald. Im Dämmerlicht gaben sie groteske Gestalten ab, doch als sie
näherkamen sah Joséphine, dass alle drei ihre Oberteile unten hochgezogen
hatten und etwas darin transportierten. Sie waren durchnässt bis zu den Armen,
und der kleine Junge triefte vor Nässe. Also etwas aus dem Fluss. Joséphine
hatte keine besondere Schwäche für Fisch, und sie hoffte, dass es keiner war.
Die drei blieben vor
dem mickrigen Feuer stehen und der Koch gab ein amüsiertes Lachen von sich.
„Ist das Elnst? Das soll sein Feuel?“
Die Blicke der
anderen wanderten zu Steffie, doch die grübelte noch immer vor sich hin,
diesmal die Augen auf die Familie geheftet, und überaus resigniert aussehend.
Der Koch zuckte mit
den Schultern. „Was soll’s. Wil haben gefunden Fischlaich! Kavial! Sein teule
Delikatesse in China!“
Joséphine riss die
Augen auf. Kaviar! Wie ekelhaft! Sie hatte es erst einmal im Leben probiert,
und diese Erfahrung reichte ihr. Es schmeckte nach rohem Fisch, was es
letztendlich ja auch war. Sie hatte gehofft, dass ihr eine weitere
Geschmacksprobe erspart bleiben würde, doch sie konnte ja nicht wissen, dass
sie auf einer einsamen Insel mitten im Nirgendwo landen würde.
Sie sehnte sich zu
den Kakerlaken zurück.
„Sein
außelgewöhnliches Kavial! Schmecken nicht wie nolmales!“, meinte der Koch
nachdrücklich. Aha, dachte Joséphine,
die haben also schon probiert. Ich lasse
jedenfalls auch erst Johannes und Johnny vorkosten. Sie glaubte nicht, dass
ihr hier noch einmal etwas so Köstliches wie die Kakerlaken zwischen die Finger
kam. Das war schon Zufall genug gewesen.
Der Koch verteilte
den Inhalt seines T-Shirts auf Johannes, Johnny und Steffie (die aus ihrer
Traumwelt erwacht war). Der kleine Kabuki gab die Hälfte seiner Last an Joséphine.
Sie schauderte, als die glitschigen, lachsfarbenen Kügelchen in ihr T-Shirt
wabbelten.
Die Frau behielt
ihren Kaviar; Sie würde vermutlich mit ihrem Mann teilen.
„Ich wünsche einen
guten Appetit“, meinte dieser gerade. „Ich sammle liebel Holz fül ein Feuel.“ Anscheinend war das augenblickliche
Feuer in seinen Augen keines.
Steffie roch
misstrauisch an ihrem Kaviar. Dann nahm sie eines der Kügelchen in die Hand und
steckte es sich in den Mund. Die drei anderen sahen ihr gebannt zu.
Steffie begann zu
kauen – und dann strahlte sie die anderen an. „Fantastisch!“, murmelte sie,
während sie schon weiteraß.
Johannes und Johnny
schienen damit überzeugt zu sein. Auch sie begannen zu essen – und zu strahlen.
Joséphine atmete
tief durch. Es gab zwar keinen Grund dazu, aber sollten Steffie und Johnny
schauspielern, wäre sie darauf hereingefallen. Was ihr Vertrauen gab, war die
Tatsache, dass Johannes so untalentiert war, dass er unmöglich schauspielern
konnte. Also musste es wirklich gut schmecken.
Sie atmete tief
durch. Dann griff sie mit der freien Hand in den Haufen in ihrem Top. Es gelang
ihr nur schwer, eines der glitschigen Dingsda zwischen die Finger zu bekommen,
doch dann hatte sie eines, hob es sich vor die Augen und betrachtete es wie
Steffie vor ihr misstrauisch.
Sie schloss die
Augen und steckte sich das glibberige Ding zwischen die Zähne. Dann ließ sie es
in ihrem Mund fallen. Erst schmeckte es nach nichts, doch als sie es dann
zerbiss, floss ihr eine süßliche Flüssigkeit den Rachen hinunter – eine
Flüssigkeit, die einfach gigantisch schmeckte. Im ersten Moment schmeckte es
wie süße, reife Himbeeren, doch dann kam wie eine Geschmacksexplosion ein
weiterer Geschmack hinzu, den sie noch nicht kannte – aber der definitiv
süchtig machte. Die ganze Sache erinnerte Joséphine an die Bubbles in Bubble
Tea, und sie konnte nicht aufhören, sie zu essen. Viel zu schnell war ihr
Häufchen mitsamt ihrem Hunger verschwunden.
Sie leckte sich
gerade über die Lippen und wünschte sich mehr, da gewahrte sie ihrer Umgebung:
Es war inzwischen stockdunkel geworden, der Koch war zurückgekehrt, das
Lagerfeuer war mindestens zehn Mal so groß wie vorher und flackerte lustig vor
sich hin. Neben ihr das der niedliche Kabuki, inzwischen trocken und versunken
ins Essen. Neben ihm saßen seine Eltern und flüsterten miteinander. Rechts von
ihr saßen nebeneinander Johnny, Johannes und Steffie und aßen ihre letzten
Himbeer-Fischeier.
Zufrieden legte sich
Joséphine auf den Rücken und betrachtete die Sterne, über denen ein
eigenartiger Neben hing, wie sie auch schon in der Nacht zuvor bemerkt hatte.
Ob dies die Kuppel über der Insel war? Konnte man sie bei Nacht sehen?
Dieses Rätsel, das
Gemurmel der anderen um sie herum, und die Wärme des Feuers neben ihr ließen
sie schnell einschlafen.
*
Entspannt lehnte Johannes sich zurück und stützte sich auf
die Ellenbogen. Der feine Sand drückte, doch der leise Schmerz verging ihm beim
Anblick von Joséphine, die eben noch in den Himmel gestarrt und jetzt die Augen
geschlossen hatte. Sie war einfach bezaubernd schön.
Johnny, der ihn
beobachtet hatte, beugte sich zu ihm hinüber. „Gib gut auf sie Acht, während
wir hier auf dieser Teufelsinsel sind. Ich habe das ungute Gefühl, dass es
nicht mehr lange so friedlich sein wird.“
*
Joséphine erwachte durch das Zwitschern eines bunt
schillernden Vogels, der direkt neben ihrem Gesicht gelandet war und
erschrocken davonflog, als sie sich regte.
Es war ein strahlend
schöner Morgen, doch die Nacht war kalt gewesen, und die Sonne war noch nicht
lange genug da, um ihre kalten Glieder zu wärmen. Das Feuer musste irgendwann
in der Nacht erloschen sein.
Ein Blick auf ihre
Gefährten sagte ihr, dass alle fest schliefen und nicht allzu bald aufwachen
würden. Sie stand mühsam auf, streckte sich und gähnte. Sie ließ die anderen
schlafen und lief zum Ufer des Baches, trank das eiskalte Wasser und spazierte
dann zum Meeresufer, dort, wo sich der Bach zum Delta verbreitete.
Joséphine streckte
sich erneut, dann machte sie ein paar Kniebeugen und hüpfte auf und ab, bis
wieder Blut durch ihre armen Glieder floss. Dann spazierte sie zwischen den
kleinen Flussäderchen des Deltas hindurch, bis sie eine etwas größere Fläche
fand. Dort setzte sie sich im Yogasitz hin und meditierte eine Weile, während
die Sonne auf sie herabschien und bald an Wärme zunahm. Als sie hinter den
Wolken verschwand, öffnete Joséphine die Augen. Dann kam die Sonne wieder
hervor, und Joséphine sah aus den Augenwinkeln im Delta etwas aufblitzen, das
anders war als das Reflektieren des Wassers selbst. Als sie den Kopf in die
Richtung des Aufblitzens wandte, sah sie es: Dort, in einem kleinen Bächlein
der verzweigten Bachdeltas, klemmte eine Glasflasche.
*
Johannes erwachte völlig durchgefroren. Die Sonne weckte
ihn, indem sie ihm mit ihren warmen Fingern die Beine entlangstreichte. Auch er
trug knielange Shorts. Anders konnte man es im Dauersommer San Franciscos nicht
aushalten.
Als er sich
umblickte, sah er, dass die anderen noch schliefen. Bis auf Joséphine, die
etwas abseits saß und ein Papier vor sich ausgebreitet hatte, das sich an den
Seiten nach innen rollte. Die Sonne zauberte einen glänzenden Rotstich in ihre
Haare, und der Anblick ließ Johannes’ Herz schneller schlagen.
Er schlenderte gemächlich
zu ihr herüber. „Was ist das?“, fragte er neugierig.
Sie sah nicht einmal
auf. „Ich glaube, es ist eine Karte der Insel. Ich habe sie in einer Flasche im
Bach gefunden.“ Erst jetzt hob sie den Kopf, die Sonne zauberte Kiwischeiben in
ihre Augen, und sie lächelte Johannes an. „Guten Morgen übrigens.“
Er wurde rot. „Äh…
moin.“
Sie deutete auf die
Karte. „Möchtest du sie dir nicht auch anschauen?“
Johannes nickte,
setzte sich neben sie und tat, als studierte er die Karte. Dabei spürte er
eigentlich nur ihr Bein, das das seine berührte, und hörte ihren gleichmäßigen
Atem. „Bezaubernd“, meinte er schließlich, als er einfach etwas sagen musste. Er
war sich selbst nicht sicher, ob er die Karte oder Joséphine meinte.
Sie kicherte.
„Bezaubernd? Das ist die schlechteste Karte, die ich je gesehen habe!“
Er warf eilig einen
Blick auf die Karte. Tatsächlich sah er auf den ersten Blick nur Gekritzel auf
vergilbtem Papier, und nur mit Mühe erkannte er einen gewellten Kreis, der
vermutlich die Insel darstellen sollte. Der Großteil der Insel war mit Bäumen
bemalt, Wald also. Ein Rand rund um die Insel war gepunktet, laut der Legende
am unteren Rand also Strand. Der Rest der Insel, der weder Wald noch Strand
war, war auf der Karte leer, bis auf einen Flecken im Westen, der liniert war.
Laut der Legende war dies ein Moorgebiet. Darauf konnte Johannes getrost
verzichten. Auch der Bach, an dem sie sich befanden, war eingezeichnet, ebenso
zwei weitere Flüsse. Die Schrift der Legende war verschnörkelt und schlecht zu
lesen und sah sehr altmodisch aus. Links oben in der Ecke der Karte waren die
Himmelsrichtungen eingezeichnet.
Das Auffälligste an
der Karte war allerdings die gestrichelte Linie, die vom Delta des hiesigen
Flusses auf kompliziertem Wege auf ein komplexes Gebilde zulief, das sich in
der Nähe des Moors befand und in dessen Mitte eine offene Truhe eingezeichnet
war.
„Wahnsinn“, murmelte
Johannes, als ihm das Licht aufging. „Es ist eine Schatzkarte.“
*
„…sind hier!...“ „…Schatz?“ „…folgen…“ „…bestimmt nicht
richtig…“ „…endlich STILL!“
Joséphines laute
Stimme ließ alle verstummen. Sie saßen im Kreis um die Karte herum und
diskutierten lebhaft über die neue Route. „Ich bekomme Kopfweh von eurem
Gebrüll“, wimmerte sie. „Kann man das nicht in normalem Tonfall klären?“
Eine Sekunde voller
Stille, dann schlug ihr Gemurmel aus Entschuldigungen entgegen, bevor
weiterdebattiert wurde, in wesentlich ruhigerer Lautstärke diesmal. Trotzdem
stand Joséphine auf, schlurfte zum Bach und setzte sich ans Ufer. Es war wieder
sommerlich warm, und sie lief barfuß, ihre Birkenstock-Sandaletten lagen neben
ihr im Sand.
Steffie gesellte
sich zu ihr. „Äußerst interessante Karte“, meinte sie, und Steffie hörte, dass
sie es ernst meinte, wenngleich es auch ein wenig spöttisch klang. „Wo hast du
sie nochmal gefunden?“
Joséphine deutete
auf das etwa zehn Meter entfernte Delta.
„Aha.“ Steffie
nickte nachdenklich. „Ab hier werde ich euch übrigens nicht mehr begleiten.“
Joséphine zuckte
zusammen. „Warum nicht? Was ist los?“ Und dann: „Hat es etwas damit zu tun,
dass du gestern so nachdenklich warst?“
„Du hast es
bemerkt?“, fragte Steffie erstaunt, ohne die Fragen zu beantworten.
„Wer nicht“,
antwortete Joséphine trocken. „Es war kaum zu übersehen. Du warst total abwesend.
Also, warum jetzt?“
Steffie zuckte mit
den Schultern. „Die anderen sind der Meinung, wir sollten der Linie auf der
Karte folgen. Mich macht das alles äußerst misstrauisch. Der Weg ist so
umständlich. Warum nicht den kürzesten Weg nehmen? Die anderen sind sich
jedenfalls einig, also werde ich alleine gehen. Außer, du willst mich
begleiten.“
Joséphine dachte
eine Weile nach, dann wurde sie rot und blickte zu Boden.
Steffie nickte; Sie
hatte es verstanden. Sie würde alleine gehen. „Übrigens, diese Familie ist mir
unheimlich“, sagte sie dann. „Anfangs fand ich sie ja noch nett, aber jetzt… es
sind nur Kleinigkeiten, die mir auffallen, und ich will nicht vorschnell
urteilen. Aber… sei vorsichtig, wem du vertraust.“
Joséphine sah in
Steffies ungewöhnlich ernste grüne Augen und schluckte ihren Protest hinunter.
„Mach ich.“
Dann flüsterte
Steffie ihr noch etwas ins Ohr. Und darauf nickte Joséphine ernst. „Aber nur,
weil du so verdammt ernst klingst.“
In diesem Moment
erhoben sich die anderen alle gleichzeitig. Der Junge hing am Arm seiner Mutter
und hatte seinen Daumen in den Mund gesteckt. Johnny trat vor. „Joséphine?
Steffie? Wir werden der Linie folgen. Seid ihr damit einverstanden?“
Joséphine nickte,
doch Steffie blickte Johnny enttäuscht an. „Du solltest genug Agentenerfahrung
haben, um zu wissen, dass man nicht einfach einem Weg folgt, schon gar nicht,
wenn er so auffällig markiert ist. Ich hätte mehr von dir erwartet.“
Johnny legte den
Kopf schräg. „Ich weiß. Aber ich habe gründlich darüber nachgedacht. Ich bin
mir sicher. Und ich möchte die anderen nicht alleine lassen.“
Steffie nickte. „Na
dann. Ich wünsche eine gute Reise.“ Sie verbeugte sich spöttisch, schnappte
sich ihren Rucksack (Joséphine war sich sicher, dass sie die Agentenausrüstung
ihrer Freundin in einer brenzligen Situation bald vermissen würde) und
verschwand wie ein Schatten im Wald.
Johnny schaute ihr
betrübt hinterher. „Wo will sie überhaupt hin?“
Der Koch meldete
sich. Er klang nervös. „Sicher sie will auch finden Schatz und gehen den
külzesten Weg.“
„Nein, will sie
nicht“, sagte Joséphine. „Sie sagte mir vorhin, der Schatz interessiere sie
überhaupt nicht und sie wolle durch den Wald zum Strand im Norden und dort
irgendwie Hilfe holen. Dann wollte sie dort auf uns warten.“ Sie wurde rot
dabei, da dies eine glatte Lüge war, doch sie hatte Steffie vorhin versprochen,
dies zu sagen. Johnny warf ihr einen durchdringenden Blick zu, doch ansonsten
schien niemand etwas zu bemerken. Und der Koch schien erleichtert aufzuatmen. Joséphine
erinnerte sich an Steffies Worte. Sei
vorsichtig, wem du vertraust. Konnte es sein, dass sie einen Verdacht gegen
den Koch hatte? Jetzt, da Steffie sie gewarnt hatte, fiel auch Joséphine sein
teilweise seltsames Verhalten auf. Doch im nächsten Moment war der Koch schon
wieder normal und so sympathisch wie vorhin. Sicher hatte Steffie Lixiti
gemeint. Die ist sowieso eine
griesgrämige, unsympathische Ziege, dachte Joséphine
„Also dann.“ Johnny
schnappte sich seinen Rucksack. „Ohne Frühstück, aber was soll’s. Auf geht’s!“
Die anderen überredeten ihn dann doch noch, für das Frühstück dazubleiben. Vor
allem Joséphine, die die Himbeer-Fischeier schon als weiteren Punkt auf ihrem
Tagesmenü des zukünftigen Restaurants geplant hatte.
Tatsächlich fand der
Koch noch welche, ein wenig mehr sogar als am Tag zuvor, und gesättigt machten
sie sich auf den Weg nach Süden, weiter am Strand entlang. Joséphine freute
sich, dass sie den Plan hatten, denn sie hasste es, ziellos durch die Gegend zu
laufen. Außerdem war sie schrecklich neugierig, was der Schatz war – und noch
mehr: Wer ihn dort versteckt, die verzauberte Insel also vor ihnen entdeckt
hatte.
Es war wieder so
warm wie in den Tagen zuvor, und Joséphine lief barfuß über den Strand. Johnny
gesellte sich zu ihr. „Du hast gelogen. Was macht Steffie wirklich?“
Wieder wurde Joséphine
rot. Sie wusste doch, dass Johnny etwas bemerkt hatte. „Sie nimmt den kürzesten
Weg durch den Wald zum Schatz. Sie misstraut der Familie und wollte nicht, dass
sie wissen, dass auch sie auf dem Weg zum Schatz ist.“
Johnny nickte. „Sehr
klug von ihr. Aber, weißt du, ich denke genau wie sie. Ich bin nur nicht mit
ihr gegangen, weil ich euch beschützen wollte. Wie solltest du ohne einen
erfahrenen Geheimagenten hier überleben?“ Er lachte und sie knuffte ihn
freundschaftlich in die Seite.
Die Gefährten
hofften, den nächsten Bach noch am selben Tag zu erreichen. Zwar hatten sie
diesmal die Glasflasche dabei, in der die Schatzkarte gesteckt hatte, doch auch
dieser Vorrat hielt nicht ewig, schon gar nicht bei sechs Personen und der
glühenden Hitze. Sie liefen stundenlang, und irgendwann war die Flasche leer.
Nach weiteren gefühlten Stunden kam er
dann: Der vorhersagte Wetterumschwung. In der einen Sekunde war es noch
immer so glühend heiß wie immer, und in der nächsten Sekunde war es da eiskalt, und ebenso kaltes Wasser prasselte
auf sie hinab. Es war ein Schock, doch ein willkommener Schock. Die erhitzte
Haut wurde gekühlt, der Durst gelöscht, die Flasche wieder aufgefüllt. Zehn Minuten
später hörten die Kälte und der Regenschauer ebenso schlagartig auf, wie sie
begonnen hatten und es wurde wieder so warm, dass die nassen Sachen schon nach
einer Viertelstunde wieder trocken waren.
„Wow. Das nenne ich
mal einen Wetterumschwung“, meinte Joséphine.
Als sie abends gegen
sechs Uhr (sie konnten nur schätzen, denn Steffies wasserdichte Uhr war mit ihr
verschwunden) dann endlich das Gluckern eines Baches hörten, stürmten sie alle
los und tranken vom frischen, kühlen Wasser. Der kleine Junge hüpfte sogar
hinein, da es so furchtbar heiß war, doch seine Mutter zog ihn sofort wieder
hinaus und schimpfte mit ihm auch chinesisch. Und sie hatte recht: Der
Wasserlauf war keineswegs ein Bach, wie er sich angehört hatte. Nein, sobald
sie näher kamen, trafen sie auf einen mindestens zehn Meter breiten Fluss, der
in keinster Weise mit dem Bächlein des letzten Tages zu vergleichen war. Das
Delta war dementsprechend gigantisch, und der Anblick raubte allen den Atem.
Plötzlich kamen sie sich so klein und unbedeutend vor wie Ameisen im Vergleich
zu einem Menschen.
Sie schlugen ihr
Lager etwa zwanzig Meter vom Fluss entfernt auf, damit das Rauschen nicht allzu
laut war, und versammelten sich um die Karte.
„Ab hier geht’s nach
Westen weiter“, stellte Joséphine fest. „Durch den Wald.“ Alle Blicke wandten
sich der Mauer aus Bäumen zu, die im Dämmerlicht drohend vor ihnen aufragte.
„Also dann“, meinte
der Koch und wechselte das Thema. „Wenden wil uns wilklich wichtigen Dingen in
Leben zu: Essen.“
Unter den Blicken
der anderen, die unwohl zwischen ihm, dem Wald und der Katze hin- und
herschauten, erhob er sich und stapfte durch den feinen Sand zum Waldrand, der
etwa dreißig Meter entfernt war. Dort bückte er sich und hob etwas auf, das Joséphine
der der Entfernung nicht erkennen konnte. Auf jeden Fall war es schwarz. Wieder
Kakerlaken? Doch der Koch setzte das Etwas auf seinem Oberarm ab und sammelte
dann weiter, wobei das Etwas an seinem Arm kleben blieb.
Auf diese Weise
machte er eine Weile weiter, beobachtet von den fünf anderen, die, jeder in
seine Gedanken versunken, schweigend dasaßen.
Joséphine setzte
sich so hin, dass sie den Sonnenuntergang über dem Meer sehen konnte. Der Sand
war noch warm, und sie ließ ihn sich nachdenklich durch die Finger rieseln,
während sie die letzten Sonnenstrahlen und den spektakulären Anblick genoss.
Johannes erhob sich
von seinem Platz etwa fünf Meter von ihr entfernt, von wo er sie die ganze Zeit
ziemlich ungeniert angestarrt hatte. Joséphine tat, als würde sie ihn weiterhin
nicht bemerken und setzte wieder ihre nachdenkliche Miene auf. Als Johannes zu
ihr kam und sich neben ihr niederließ, drehte sie den Kopf, als hätte sie ein
leises Geräusch gehört, doch sie blickte ihn noch immer nicht an. Dann gähnte
sie laut, stand auf, streckte sich, dass ihre Knochen knackten und schlenderte
zum Koch. Da musste Johannes sich schon etwas mehr Mühe geben, wenn er mit ihr
reden wollte.
Als Joséphine beim
Koch ankam, vergaß sie auf einen Schlag ihre „Probleme“ mit Johannes: Die
Dinge, die des Koches Arm dunkel färbten und ohne weiteres daran kleben
geblieben waren, waren nichts anderes als schwarze Schnecken! Sie schleimten
auf und ab, die Häuser wackelten herum, und die wuselnde Menge schleimiger
Schnecken drehte Joséphine den Magen um.
Sie legte eine Hand
auf den Bauch und drehte sich weg. Da verursachte nicht einmal Johannes ihr
eine solche Übelkeit.
Als sie wieder
aufschaute, sah sie Kabuki an der Hand seiner Mutter auf sie zukommen. Er
triefte noch immer vor Wasser und schniefte. Joséphine musste sich
unwillkürlich eingestehen, dass sie Angst um den Kleinen hatte – für ihn war
das ganze Abenteuer sicher nicht leicht, und eine Erkältung würde wohl das
Letzte sein, das er jetzt gebrauchen konnte.
Die beiden liefen an
Joséphine vorbei. Der Junge schaute sie aus großen, unschuldigen Augen an,
während die stille Mutter sie eiskalt ignorierte. Überhaupt fragte sich Joséphine,
wie ein so offener und freundlicher Mann wie der Koch es mit einer solch
ignoranten Person wie Lixiti treiben und ein Kind zeugen aushalten
konnte. Der Gedanke ließ sie pervers grinsen lächeln.
Sie ging zurück zu
Johnny und Johannes und setzte sich neben ihren neuen besten Freund (Johnny).
Seit die beiden damals vor ein paar Tagen ihre Freundschaft gegründet hatten,
waren sie unzertrennlich. Den ganzen Weg über von dem Punkt an, an dem Steffie
sie verlassen hatte, haben sie miteinander geredet. Nie war ihnen der
Gesprächsstoff ausgegangen, sie hatten Erfahrungen ausgetauscht,
Gemeinsamkeiten gefunden, und Joséphine hatte keine Mühe damit gehabt, das
Fan-Girl zu unterdrücken. Wenn sie ehrlich war, existierte es gar nicht mehr.
Johnny war nun ein Mensch, und kein Film-Mythos mehr. Er war nun ein Mensch,
der ihr so sehr am Herzen lag, dass sie für ihn sterben würde. Und ihr
Freundschaftsband war nach diesen wenigen Tagen schon so fest verknüpft, dass
sie wusste, dass er ebenso für sie sterben würde, wenn es denn nötig gewesen
wäre.
Im Moment schwiegen
sie, ignorierten einvernehmlich den frustrierten Johannes und beobachteten den
Koch. Als er auf sie zukam, schwankten gerade seine Frau und sein Sohn aus dem
Wald, beladen mit Feuerholz.
Das Leben gefiel Joséphine
im Moment. Sie hatte einen besten Freund, einen jungen Mann, der eindeutig in
die verliebt war, eine idyllische Insel und zumindest momentan prächtiges
Wetter. Ihr gefiel das abenteuerreiche Leben mit dem Schlafen am Lagerfeuer und
auf dem Strand, dem Sternenhimmel über sich, dass sie den Sonnenauf- und
Untergang beobachten konnte, wann sie wollte, und dass sie keine nervigen
Termine hatte, ebenso wenig wie nervende Mitarbeiter wie Susan und Johnson.
Das Einzige, das sie
vermisste, war ihre Brücke, Steffie und das Gefühl, jederzeit nach Hause zu
können. Letzteres war das Schlimmste. Mochte ja sein, dass sie sich hier
wohlfühlte, allerdings war sie auch erst vier Tage hier. Wer weiß wie lange sie
noch hier sein musste, und vielleicht würde sie ja irgendwann wahnsinnig
werden? Wenigstens hatte sich Begleiter und war nicht so einsam wie der bemitleidenswerte
Robinson Crusoe. Obwohl, der hatte ja seinen Kannibalen namens Freitag. Und
selbst Johannes war eine bessere Begleitung als ein Kannibale. Wenigstens war
diese Insel unbewohnt, also gab es zumindest keine Gefahr, dass irgendwann ein
Kannibale aus dem Wald stürmte und in ihren Arm biss.
Lixiti warf ihre
Äste auf den Boden, und Kabuki warf seine daneben. Johnny zückte das
Windfeuerzeug, das Steffie ihm überlassen hatte (oder hatte er etwa seine
eigene Agentenausrüstung dabei?) und entzündete das Feuer. Schon bald
flackerten kleine rote Flammen darauf hervor, und Joséphine kroch näher, um
sich zu wärmen. Es wurde rasch kälter, viel kälter, also holte sie ihren weißen
Strickpullover aus dem Rucksack und zog ihn über. Er passte sogar zu ihrer khakifarbenen
Shorts, was Joséphine aus irgendeinem Grund glücklich machte.
Hypnotisiert starrte
sie in die Flammen. Sie hatte Hunger und versuchte, ihn mit
in-die-Flammen-Starren zu verdrängen, doch das erste Knacken war unüberhörbar. Joséphine
schloss die Augen.
„Bäh“, hörte sie
jemanden flüstern. Johannes. Was für ein Weichei.
„Wel möchte elstes
Schnecke? Sein exquisite Sollte!“ Joséphine schluckte, als ihr aufging, dass
sie selbst ein Weichei war. Also öffnete sie die Augen.
„Ich will“, sagte
sie. Wieder starrten sie alle an, als sie die aufgespießte Schnecke vom
grinsenden Koch entgegennahm. Durchsichtiger Schleim lief am Stock hinunter,
und die glibberige Masse des Tiers waberte noch höchst lebendig und in
Todeskrämpfen hin- und her. Die Fühler fuhren sich notorisch ein und aus.
Vermutlich war irgendetwas Lebenswichtiges durchbohrt worden. Konnte der Koch
die Schnecken nicht wenigstens so töten, dass sie auch tot waren?
Joséphine hielt den
Stock in die Flammen und ignorierte die anderen. Bald waren auch sie versorgt,
und es kehrte Stille ein, als jeder seine eigene Schnecke betrachtete.
Joséphine
betrachtete die ihre erst wieder, als sie puffend in Flammen aufging. Schnell
zog sie den Stock hinaus und wedelte damit in der Luft herum, bis das Feuer
ausging. Von der Schnecke war nur noch ein schwarzer Klumpen übrig.
Phuh, dachte Joséphine erleichtert. Noch eine Schonfrist.
Sie kratzte die verkohlte (und endlich
tote) Schnecke in den Sand und der Koch hob ihr wortlos eine neue hin.
Allerdings verspürte sie keinen Drang, die Schnecke selbst aufzuspießen, also
hob sie dem Koch ebenfalls wortlos ihren Stock hin, was dieser mit einem leisen
Lächeln quittierte.
Neben ihr erklang
ein Knacken, und Joséphine wendete den Kopf. Sie beobachtete Johannes, der
umständlich sein Schneckenhaus aufknackte. Die Schnecke selbst war noch immer
gelblich, aber nicht mehr schleimig. Und tot war sie auch. Johannes nahm die
häuserlose Schnecke ohne große Umschweife in die Hand und steckte sie sich in
den Mund. Er kaute, schluckte. Sein Gesichtsausdruck blieb normal. „Karotte“,
murmelte er mit vollem Mund. „Nichts Besonderes, aber nicht schlecht.“
Karotte? Die
Schnecken schmeckten nach Karotten?
Johnny brach in
Gelächter aus, und die Absurdität der Situation ließ auch Joséphine lachen.
Allerdings waren die beiden die Einzigen, denn Johannes fand das ganze gar
nicht lustig, und die Familie war wohl ziemlich enttäuscht, was den Geschmack
anbelangte. Also hielt Joséphine ihre neue Schnecke ins Feuer und beobachtete
dann Johnny, der nun ebenfalls seine Schnecke aß.
„Mhhh… ich liebe
Karotten. Das schmeckt wirklich gut.“
Joséphine schüttelte
angeekelt den Kopf. Diese Schnecken würden garantiert nicht auf ihren
Speisezettel kommen. Wer möchte schon Schnecken essen, die nach Karotten
schmecken, wenn es auf der Welt echte Karotten
im Überfluss gab?
Etwa drei Minuten
später war Joséphines Schnecke auch fertig. Sie knackte sie auf, roch daran und
steckte sie sich dann in den Mund. Es schmeckte ungefähr so, als wäre eine Karotte
weich und schleimig geworden, aber es schmeckte noch immer nach Karotten. Joséphine
hätte definitiv Besseres erwartet von dieser Zauberinsel.
Sie schaffte nicht
mehr als zehn Stück von den Dingsdas, obwohl sie den ganzen Tag nichts gegessen
hatte. Sie bekam einfach nicht den Gedanken aus dem Kopf, dass es immer noch
eine Schnecke war, die sie aß, auch wenn sie nach Karotte schmeckte.
Während die anderen
noch zugriffen, dachte sie nach. Wo war sie bloß gelandet in ihrem Leben?
Eigentlich sollte sie schon längst in Deutschland sein. Sicher machte sich ihre
Familie Sorgen. Und Johnson führte Freudentänze auf, weil er dachte, sie wäre
tot. Sicher war der Flugzeugabsturz in allen Medien verbreitet worden. Ob es
Überlebende gab? Wieder kamen Schuldgefühle in ihr hoch – sie hätte ihr Leben
opfern können, damit andere Menschen gerettet werden konnten. Stattdessen hatte
sie sich, selbstsüchtig wie sie war, einfach den Fallschirm geschnappt und sich
dann noch geärgert, als sie zwei weitere Passagiere hatte. Trotzdem, es gab
sechs Überlebende. Drei mehr als Fallschirme vorrätig waren.
Sie dachte auch über
ihre momentane Situation nach. Sie war jetzt seit vier Tagen auf dieser Insel,
und es kam ihr schon vor wie eine Ewigkeit. Da Steffie ebenfalls den Schatz
suchte statt Hilfe zu holen, würde vermutlich noch eine wirkliche Ewigkeit
vergehen, bis sie hier fortkam.
Wieder war da dieser
Nebel vor den Sternen. Joséphine vermisste den Himmel – den richtigen Himmel,
ohne Nebel, ohne blöde Kuppel. Sie wollte die Sterne sehen. Sie wollte wieder
daheim sein.
Johannes kam zu ihr.
Diesmal wies sie ihn nicht ab. Sorge spiegelte sich in seinen Augen wieder.
„Geht es dir gut? Du siehst traurig aus.“
Sie spürte Tränen
aufsteigen. „Ich habe es satt, hier zu sein.“
Er nickte ernst.
„Ich auch.“
„Setz dich zu mir.“
Sie wusste nicht, was in sie gefahren war. Er sah zwar unglaublich gut aus,
doch er war ein Schwachkopf. Warum hatte sie dies gerade gesagt?
Auch er schien
überrascht zu sein. Dann wurde er rot wie eine Tomate (was Joséphine im Dunkeln
nur erahnen konnte) und setzte sich neben sie in den Sand.
Wieder übernahm ihr
Körper die Kontrolle über sie, und sie schmiegte sich an ihn. Auf eine
unergründliche Weise spendete er ihr jetzt Trost nach diesen melancholischen
Gedanken. Nach zwei verdatterten Sekunden legte er unbeholfen die Arme um sie
und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.
*
Wow, wie sie duftete. Einfach unglaublich. Und da sollte man
meinen, dass Haare nach vier Tagen auf einsamen Inseln nicht so wunderbar
rochen wie diese hier. Und sie war so weich. Und so warm. So anschmiegsam – und
so traurig.
Er wagte nicht, sich
zu bewegen. Den Moment zu zerstören. Er genoss jeden Augenblick mit ihr. Ihr
weicher Kaschmirpullover schmiegte sich an seine Arme, seine Beine berührten
die ihren. Nach einer Weile merkte er, dass sie eingeschlafen war.
Sanft legte er sie
neben sich, ihre Beine näher ans Feuer. Es würde kalt werden in der Nacht.
*
Joséphine erwachte, als die Sonne ihr ins Gesicht schien.
Sie merkte, dass ihre Arme um Johannes’ Hals geschlungen waren, und dass die
seinen um ihre Hüfte lagen. Sein Gesicht war weniger als fünf Zentimeter von
ihrem entfernt. Er schlief.
Ihre erste Reaktion
war Entsetzen. Doch dann merkte sie, dass sie sich zu sehr in die bloß-nicht-Johannes-mögen-Phase
hineingesteigert hatte. Als sie dies erkannte, wurde sie ruhig. Und glücklich.
Dass sie hier lagen, Arm in Arm, konnte nur heißen, dass er sie ebenfalls
mochte. Und sie mochte ihn. Sehr sogar.
Sein Gesicht sah
friedlich aus in der Morgensonne. Vorsichtig hob sie einen Arm hinter seinem
Hals hervor und fuhr mit ihrem Finger die Konturen seiner Nase nach. Sie
erinnerte sich noch, wie er in der siebten oder achten Klasse mit den anderen
Jungs Quatsch gemacht und sich da die Nase gebrochen hatte.
Eine Weile war sie
noch versunken in das Gesicht vor ihr, dann löste sie sich sanft aus seiner
Umklammerung. Was war gestern nur geschehen? Wie konnte sich ihre Zuneigung zu
ihm von einem Augenblick auf den anderen entwickeln? War es so etwas wie Liebe
auf den fünfzigsten Blick? Und sollte sie diesen Zustand so lassen? Wollte sie
mit ihm zusammen sein? Oder sollte sie dagegen ankämpfen?
Resigniert stand sie
auf. Wie kompliziert Liebe doch war – und Liebe war es auf jeden Fall. Vielleicht
hatte sie sich ja in ihn verliebt, als sie ihn das erste Mal wieder gesehen
hatte, damals auf dem Flughafen, als er sich mit dem Polizisten gestritten
hatte. Vielleicht hatte sie die Liebe bis dahin nur verleugnet. Und gestern,
als sie traurig war und er ihr Trost gespendet hatte, da war ihr klar geworden,
dass er für sie da war, wenn es ihr schlecht ging? Dass sie ihn wirklich
mochte?
Vielleicht.
Joséphine blickte
sich um. Johannes, Johnny, Lixiti und Kabuki lagen um den verkohlten Fleck des
ehemaligen Lagerfeuers herum. Der Koch war verschwunden.
Joséphine runzelte
die Stirn. Wo war der Koch? Sei
vorsichtig, wem du vertraust. Sie schluckte.
Da trat der Koch aus
dem Wald, beladen mit Ästen. Als er sie erblickte, winkte er ihr zu, und dabei
fiel ihm die Hälfte seiner Last runter. Beim versuch, sie wieder aufzuheben,
fiel auch der Rest zu Boden. Joséphine lächelte und eilte ihm zu Hilfe. Wie
konnte sie ihn nur verdächtigen? Er war doch nur ein chinesischer Tourist!
„Danke. Sein sehl nettes
Fläulein.“ Er grinste sie an, und sie grinste zurück. Gemeinsam liefen sie zu
den anderen und entzündeten ein neues Lagerfeuer.
Johannes erwachte.
Müde schaute er sich um. Als sein verschlafener Blick an Joséphine hängenblieb,
lächelte sie ihm zu. Verträumt lächelte er zurück.
Sie setzte sich zu
ihm, während der Koch Schnecken zum Frühstück sammelte. Noch immer müde
kuschelte sich Johannes an sie und nickte wieder ein.
Joséphine dachte
darüber nach, wie das wohl aussehen mochte. Als ob sie zusammen wären? Als ob
sie ein Liebespaar wären?
Johnny lieferte ihr
die Antwort indem er aufwachte und bei ihrem Anblick in lautes Gelächter
ausbrach.
Sie zog ein
missmutiges Gesicht. War es so schrecklich, sie beide zusammen zu sehen?
„Du solltest euch sehen!“,
grunzte Johnny lachend. „Du mit einem resignierten Gesichtsausdruck und er wie
er sich an dich klammert, schläft und sabbert!“
„Hmpf…“
Der Koch kehrte
zurück und warf Joséphine einen bedeutungsvollen Blick zu. Konnte sie denn
keiner in Ruhe lassen? Sie verdrehte die Augen.
Nach und nach
erwachten die anderen. Nach dem Frühstück verschwand Joséphine zwei Meter in
den Wald und zog sich ihre lange Jeans und die Sportschuhe an. Das Wetter heute
war normal. Die Sonne schien zwar, doch es war nicht wirklich warm, aber es war
auch nicht kalt, und es wehte kein Wind.
„Lasst uns gehen“,
meinte Johnny. „Je schneller wir es hinter uns bringen, desto besser.“ Auch Joséphine
war nicht ganz wohl beim Anblick des Djungels. Zu ungewiss war es dort. Und zu
dunkel. Kaum war man einen Meter drin, hatte man kaum noch Licht. Nicht einmal
von oben, da die Blätter der Bäume ein festes Dach bildeten. Und es war immer
kalt und nass.
Der Koch schulterte
seinen Rucksack. „Los, los.“ Er lief voraus, und im Gänsemarsch liefen sie ihm
hinterher. Direkt hinter ihm lief Lixiti, hinter ihr und ihre Hand umklammernd
der kleine Kabuki. Dahinter Johnny. Dann kam Joséphine und am Schluss Johannes.
Das Voranschreiten
verlief in Schneckentempo. Bei jedem Schritt musste man aufpassen, dass man
nicht über Wurzeln stolperte oder sich weiter oben an einer herunterhängenden
Liane aufhängte. Licht hatten sie jedoch, da sie sich am Fluss entlang
fortbewegten und dort ein Spalt zwischen den Blättern am Ufer war.
Der Wald war beängstigend.
Am ehesten ließ er sich noch als Regenwald bestehend aus Palmen beschreiben. Es
war schwül, man schien Wasser einzuatmen. Und nicht zu vergessen die Tiere.
Seltsame Geräusche
tönten durch die Stille. Affengeräusche. Fledermausschreie. Seltsames Geraschel
in den Pflanzen neben ihnen. Zumindest hörte es sich danach an. Man konnte ja
nie wissen, was sich hinter den Geräuschen versteckte. Wie war das nochmal mit
den Mutationen der Tierwelt?
Zwei Mal kam es auch
zu kleinen Zwischenfällen. Das erste Mal lief ihnen eine Maus über den Weg. Sie
war schwarz und hatte rote Augen. Das seltsamste aber waren die roten Höcker
zwischen den Ohren. Eine weiße Eule stürzte aus dem Blätterdach nach unten und
schnappte sich die Maus.
Der zweite
Zwischenfall war etwas schlimmer. Wenn nicht zu sagen extrem schlimm.
Es passierte nach
dem Zwischenfall mit der Maus und etwa fünf Stunden, nachdem sie losgelaufen
waren.
Und natürlich hatte
es etwas mit Johannes zu tun.
Er lief am Schluss
der Reihe. Als sich alle nacheinander unter einer Liane hindurchduckten,
verpeilte er es und stieß mit dem Kopf dagegen. Nur stellte sich dadurch heraus
dass es keine Liane war, sondern eine giftgrüne Schlange. Sofort öffneten sich
bernsteingelbe Augen mit schlitzförmigen Pupillen, und die Schlange sprang mit
geöffnetem Rachen auf Johannes zu. Er schrie auf, und da war es schon zu spät:
Die Giftzähne der Schlange hatten sich durch den Pulli in seinen Oberarm
gebohrt.
Die Schlange wand
sich so lange, bis sie sich befreit hatte, und als Joséphine ihm zu Hilfe
eilte, war sie schon verschwunden.
Johannes sank zu
Boden. „Mir… ist…schwindlig…“ Dann fiel er ihn Ohnmacht.
„Johannes! Johannes!
Oh Gott!“, schluchzte Joséphine und umklammerte seine Hände. Dann wurde sie zur
Seite gestoßen. Der Koch kniete sich vor Johannes, fühlte seinen Puls und
kontrollierte seine Pupillenreflexe. Dann drehte er sich zu Joséphine um und
grinste sie an. „Sein nix Schlimmes. Sein Betäubungsgift von Schlange. Nix
Sterben.“
Der Rest des Tages
verging eintönig. Sie trugen Johannes abwechselnd zwischen sich, was eine
anstrengende Arbeit war. Er war schwer, und der Weg schwierig. Voller Wurzeln,
Erdbrocken und heruntergefallenen Lianen. Zusätzlich musste darauf geachtet
werden, nicht umzukippen und in den Bach zu fallen.
„Dieser
Volltrottel“, hörte sie Johnny einmal murmeln, als wieder die Trageschichten
gewechselt wurden.
Gegen zwei Uhr
nachmittags suchte der Koch etwas zu Essen, fand aber nur giftig aussehende
Beeren. „Sein nix giftig. Nein, nein.“ Zur Demonstration steckte er sich einen
Haufen in den Mund, und als er nach fünf Minuten noch nicht tot war, griff auch
Joséphine zu.
Johannes erwachte
nach weiteren zwei Stunden anstrengenden Tragens. Nach einer halbstündigen
Pause konnte er auch wieder laufen. Joséphine versteckte, welche Sorgen er sich
um ihn gemacht hatte. Schließlich waren sie nicht zusammen. Dass sie gestern
eine melancholische Phase und mit ihm gekuschelt hatte und dass ihr aufgegangen
war, dass sie ihn liebte, hatte noch nichts zu sagen. Nichtsdestotrotz sollten
sie sich erst einmal besser kennenlernen, bevor sie einen weiteren Schritt
wagten. Außerdem wollte Joséphine sich Zeit lassen, zu erkennen, ob ihre
Gefühle wirklich waren – nicht dass er sie plötzlich anekelte während sie gerade…
Gegen sechs Uhr
abends trafen sie auf eine winzige Lichtung vor einem großen Baum. Dass es
sechs Uhr war, konnten sie daran erkennen, dass es anfing dunkler zu werden –
sie befanden sich hier zwar in der Karibik (oder irgendwo in der Nähe), doch bis
jetzt war es an jedem Tag zur gleichen Zeit dunkler geworden.
Familie Wong
sammelte gemeinsam mit Johnny Holz (das Unterholz besteht aus diversen Büschen
– nicht dass ihr euch fragt wo sie immer das Holz herbekommen, wo doch der
ganze Wald aus Palmen besteht), während Joséphine Johannes aus seinem Pullover
half. Beim Anblick seiner muskulösen Brust stockte ihr kurz der Atem, dann
wurde sie rot. Johannes merkte davon nichts, denn er hatte die Augen
geschlossen. Vermutlich hatte er Schmerzen.
*
Johannes schloss die Augen und konzentrierte sich auf Joséphines
sanfte Finger, die über seine Brust strichen. Es fühlte sich so wundervoll an.
Und es ließ den Schmerz des Schlangenbisses zu einem leisen Pochen schrumpfen.
Er zuckte zusammen,
als sie die Bisse berührte. „Sorry“, murmelte sie. Und dann: „Das sieht übel
aus.“ Er selbst hatte es noch nicht gesehen, aber das wollte er auch gar nicht
– vermutlich sah es grauenvoll aus. So wie es sich anfühlte.
„Warte kurz“, meinte
seine Traumfrau. Er hörte, wie sie sich erhob, wegging, und dann wieder kam.
Dann floss Wasser über seinen Arm. Vermutlich aus der Glasflasche. Es hörte es
Gluckern, und es brachte eine kühle Linderung. Er seufzte erleichtert. Eine
warme Hand legte sich auf seine Wange.
Er öffnete die Augen
und blickte in Joséphines besorgtes Gesicht. Dann lächelte er schwach. Und
wurde wieder ohnmächtig.
*
„Mensch!“, schimpfte Joséphine. „Wieso wird er wieder
ohnmächtig?“
Der Koch trat zu
ihr, eine selbstgedrehte Fackel in der Hand, die er neben ihr in den Boden
steckte. „Sein nicht bekannte Schlange. Vielleicht sein neues Gift? Abel nicht
sein tödlich, nein, nein.“
Die Familie und
Johnny hatten ihr Holz neben Joséphine abgeladen, damit man Johannes nicht
wieder herumtragen musste. Bald schon flackerte es lustig.
„Können wir nicht
umdrehen?“, fragte Joséphine. Sie hatte schon jetzt genug vom Wald. Der nasse
Boden, auf dem sie saß und der ihre Hose mit Matsch befleckte, der Fluss,
dessen Wasser immer grüner und unappetitlicher wurde, das spärliche Licht, das
nur aus der Seite des Flusses kam. Die undefinierbaren Tiergeräusche, die aus
dem Wald drangen. Und ganz klar die Angst vor irgendwelchen Schlangen mit neuen
Giften die einen immer wieder ohnmächtig werden ließen.
„Natüllich wil
können. Sein nix Ploblem. Abel dann nix finden Schatz!“
Joséphine schüttelte
seufzend den Kopf. „Stimmt schon. Aber wir brauchen doch gar keinen Schatz. Ich
bin eine der reichsten Frauen der Welt! Ich will einfach nur nach Hause.“
Johnny grinste sie
an. „Darüber haben wir doch vorgestern schon gesprochen, als wir die Karte
gefunden haben. Wir haben abgestimmt, dass wir der Karte folgen wollen. Du
auch.“
„Ja, ich weiß. Und
ich werde meine Entscheidung nicht zurückziehen. Aber es ist wirklich mies
hier.“
Darauf sagte niemand
mehr etwas – eine stumme Zustimmung.
„Haben Sie etwas für
Johannes’ Wunde?“, fragte sie den Koch.
„Ah. Klal. Sein
Antibiotika? Damit sich nicht entzündet Wunde. Rest muss machen Immunsystem
selbst.“
Sie nickte. Er gab
ihr ein kleines Fläschchen.
In diesem Moment
erwachte Johannes wieder und stöhnte vor Schmerzen auf. Sofort warn Joséphine
bei ihm. „Alles in Ordnung?“
Er lachte sie an.
„Bis auf die Tatsache dass ich von einer Schlange gebissen wurde, ja.“
„Hier. Schluck das.“
Sie drückte ihm das Fläschchen in die Hand.
Seine Augen wurden
groß. „Ehrlich jetzt? Ist das Antibiotikum? Wo kommt das denn her!“
„Der Koch hatte es
dabei.“
Johannes schielte
auf den Koch, der auf den großen Baum zulief und mit einem Stock im Boden herumstocherte.
„Man hat nicht einfach mal so Antibiotika dabei wenn man aus einem Flugzeug
springt.“
Joséphine wurde
wütend. „Hör doch auf mit deinen ganzen Vorurteilen. Immer greifst du den Koch
an. Was hast du nur gegen ihn?“
„Ich bin nur
objektiv.“
„Klar, so wie
Steffie. Ihr seid doch alle beide blind. Der Koch ist ein guter Mann. Ich würde
mir eher um seine Frau Sorgen machen!“
Johannes schaute
neugierig. „Steffie hatte auch etwas gegen den Koch? Dann muss es ja stimmen!
Schließlich ist sie ja eine Agentin, wenn ich das richtig verstanden habe!“
„Ach, sei still!
Jetzt darfst du deinen Pullover übrigens selbst wieder anziehen.“ Eingeschnappt
rutschte sie zu Johnny hinüber und fing mit ihm ein Gespräch übers
Quallenfischen an. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Johannes zögerte und
schließlich das Antibiotikum doch einnahm. Was hatten alle gegen den Koch?
Die sollten mal
daran denken, was sie ohne ihn tun würden! Niemals wären sie auf die Idee
gekommen, Kakerlaken oder Schnecken zu essen!
„Aha!“, ertönte da
ein triumphierender Laut. Der Koch hielt den Stock in die Höhe und daran
baumelte – eine Schlange!
Sie war mindestens
einen Meter fünfzig lang und dunkelbraun mit roten Flecken. Und anscheinend ihr
heutiges Abendessen.
Blitzschnell schnappte
sich der Koch den Kopf der Schlange und drückte das Maul zu, damit sie nicht
zuschnappen konnte. Dann kam er zu ihnen. „Lixiti, Schatzileinchen.“ Wortlos
erhob sie sich, ein Schweizer Taschenmesser in der Hand, und schnitt der
Schlange den Kopf ab. Der Koch hielt die zuckende Schlange von ihnen weg, damit
niemand vom herausspritzenden Blut getroffen wurde. Die Gefährten sahen nur
stumm zu. Kabuki vergrub sein Gesicht in den Händen.
„Ah, mjam mjam“,
meinte der Koch. Joséphine und Johnny tauschten einen Blick.
Der Koch nahm seiner
Frau das Messer ab, dann verschwand er zum Fluss. Lixiti nahm den abgetrennten
Schlangenkopf und folgte ihrem Mann.
„Uah“, meinte Joséphine. „Die Szene hätte glatt in einen Horrorfilm gepasst.“
„Uah“, meinte Joséphine. „Die Szene hätte glatt in einen Horrorfilm gepasst.“
Johnny lachte.
„Stimmt. Und wir sind mittendrin.“
Da kam Johannes
angekrochen. Eine Hand hielt er auf die Wunde gepresst, die andere hatte er auf
dem Boden abgestützt, während er auf den Knien näherrobbte. „Autsch“, sagte er
und blieb neben Joséphine sitzen. Sie war noch immer wütend auf ihn, doch ihre
Gefühle nahmen wieder mal Überhand und sie legte ihm eine Hand an die Wange.
„Alles okay?“
Er legte seine Hand
über ihre und setzte ein Seeräubergrinsen auf. „Klar.“
Es raschelte in den
Büschen neben ihnen, und alle fuhren herum. Kabuki mit einem leisen Schrei. Und
dann traten der Koch und Lixiti heraus. Lixiti hockte sich zu ihrem Sohn,
während der Koch ans Feuer trat. Die ehemalige Schlange war nun längs
aufgeschnitten und ausgenommen. Sie war einmal vorne und einmal hinten auf
einen spitzen Stock gespießt worden. „Riecht daran“, ereiferte sich der Koch
und wedelte mit den Überresten der Schlange vor Joséphines Gesicht herum. Ein
Schwall fischiger Luft schlug ihr entgegen. „Phuh“, machte sie. Schlangen die
nach Fisch rochen?
„Ja ja, liechen nach
Fisch, nicht? Vielleicht schmecken auch danach!“
Ah. Fisch.
Wenigstens etwas Normales.
Der Koch fand zwei
Y-förmige Stöcke, steckte sie gegenüber außerhalb des Feuers auf und legte den
Schlangenspieß darauf. „Mjam mjam“, wiederholte der Koch und klatschte breit
grinsend in die Hände.
Das Abendessen
verlief schweigend. Die Schlange schmeckte wirklich nach Fisch, allerdings nach
keinem Joséphine bekanntem. Einfach nach Fisch. Und ein Bisschen auch nach
nichts.
Nach dem Essen rückte
sie sofort zu Johannes, lehnte sich an ihn und schlief sofort ein. Wie gestern.
Der nächste Tag war
der Horror. Hatte Joséphine je an einem der vorherigen Tage gewusst, wie mies
dieser Tag werden würde, hätte sie nur gelacht. Schließlich war sie auf einer
einsamen Insel gestrandet und musste Insekten essen. Was konnte schlimmer sein?
Aber dieser Tag war
es eindeutig.
Der Morgen begann
friedlich. Joséphine erwachte in Johannes’ Armen, wie auch am Morgen zuvor. Man
sah Sonnenstrahlen durch das dichte Blätterdach schimmern, was die Laune hob.
Das Wasser glitzerte. Alle waren gut drauf.
Nachdem sie ihre
Sachen gepackt hatten setzten sie ihren Weg im Gänsemarsch fort. Wieder ging es
so zäh voran wie auch gestern schon. Voraus lief der Koch, hinter ihm und sich
an seine Hand klammernd Kabuki. Dahinter kam Johnny, dann Joséphine und hinter
ihr Johannes. Heute hielten sie Händchen. Am Schluss lief Lixiti. Sie war damit
beschäftigt, gesammelte Blätter auf ein Stück Schnur zu reihen, weshalb sie ein
wenig langsamer lief und ganz hinten bleiben wollte. Sie meinte, sie wolle die
Heilkraft der hiesigen Kräuter testen, sobald sie wieder zu Hause war.
Möglicherweise seien auch die Pflanzen verändert.
Es geschah gegen
zwölf Uhr mittags. Nach dem ununterbrochenen Laufen waren alle müde, und es war
eine Pause gegen ein Uhr ausgemacht worden. Bevor es aber dazu kam, erreichten
sie eine schwierige Stelle. Vor ihnen und neben ihnen wurden die Bäume
allmählich so dicht, dass es kein Durchkommen gab. Die einzigen Wege führten
entweder zurück, um die zugewachsene Stelle weiträumig zu umgehen, oder ganz
nah am Fluss entlang, wenn nicht zu sagen schon im Fluss. Bei der letzten Möglichkeit müsste man sich an den
Baumstämmen direkt am Ufer festhalten und sich zum nächsten schwingen, bis
wieder Platz zum Gehen war. Diese Möglichkeit war um einiges gefährlicher,
natürlich, doch bei der anderen würden sie den Fluss aus den Augen verlieren.
Und er war ihr Leitfaden, da sie am Ende des Flusses aus dem Wald herauskommen
sollten, so sagte die Karte.
Sie entschieden
einstimmig dafür, den zweiten Weg zu nehmen.
Was ihnen zum
Verhängnis wurde.
Das Wasser war tief.
Zumindest zu tief, um hindurchzuwaten. Der Koch testete den Weg. Einmal
rutschte er auf einem glitschigen Streifen Moos aus, doch er konnte sich noch
fangen. Dann kehrte er zurück, nahm Kabuki Huckepack und überquerte den
gefährlichen Abschnitt. Er war etwa zehn Meter lang, bevor es wieder genug
Platz zum Gehen gab.
Johnny schaffte es
ohne Probleme. Er hatte sehr ausgeprägte Muskeln, es fiel ihm also leicht. Auch
Joséphine hatte keine Probleme. Johannes überraschenderweise auch nicht, obwohl
Joséphine das Gegenteil erwartet hätte, bei seiner Schusseligkeit.
Nein, es geschah bei
Lixiti.
Die ersten fünf
Meter klappten wie am Schnürchen. Die anderen passten schon gar nicht mehr
richtig auf, so sicher waren sie, dass es jeder schaffen konnte. Auch Lixiti
war sich sicher.
Natürlich. Man
konnte ja nicht wissen, wann man ausrutscht.
Sie rutschte auf
jenem Stück Moos aus, auf dem auch ihr Mann ausgerutscht war.
Nur dass sie sich
nicht mehr festhalten konnte.
Wie in Zeitlupe
erinnerte sich Joséphine daran. Lixiti rutschte aus. Ihre Hände wedelten in der
Luft, streiften die rettenden Bäume, griffen dann ins Leere. Und sie fiel ins
Wasser.
Was danach geschah,
das würde Joséphine am liebsten vergessen. Es war wie in einem Horrorfilm.
Nein.
Schlimmer.
Lixiti fiel. Sie
schrie. Wasser spritzte auf. Und dann war es plötzlich rot, so viel rot. Und
Lixitis Schreie wurden lauter, kreischender. Und dann sah Joséphine den Kopf
des Ungeheuers: Ein Alligator.
Seine dunkelgrüne,
ledrige Haut passte sich perfekt dem Wasser an. Das Weiß seiner Augen stach
extrem hervor. Die Zähne waren rot vor Blut – Lixitis Blut.
Das Schreien hörte
auf. Der Alligator fing an, mit dem Kopf zu schütteln, und Lixiti wurde hin und
her geschleudert. Gleichzeitig lief der Koch los, schreiend. Joséphine sah aus
den Augenwinkeln, wie Johnny ihn gewaltsam festhielt, doch sie konnte ihren
Blick nicht von der grausamen Szene abwenden.
Lixitis Kopf hing
ins Wasser, ihr schwarzes Haar schwebte darauf. Der Alligator hielt still.
Beobachtete seine anderen Opfer. Seine Zähne noch immer in der Leiche der Frau
vergraben.
Dann fing es erneut
an. Das Schütteln. Und Joséphine sah zu, wie Lixiti zerriss, bis nicht mehr als
ein zerfetztes Stück Fleisch von ihr übrig war und Blut, so viel Blut.
Dann verschwand der
Alligator in der Tiefe.
Nur noch das rote
Wasser zeugte davon, was soeben passiert war.
Und der grausame
Schrei, der noch immer in Joséphines Kopf nachhallte.
Dies alles dauerte
nur wenige Sekunden. Schütteln, Pause, Schütteln, Verschwinden.
Joséphine übergab
sich.
*
Johannes eilte Johnny zu Hilfe, als sich der Koch mit schier
unmenschlicher Kraft aus seinem Griff losreißen wollte, während er unentwegt
den Namen seiner Frau rief. Doch Lixiti war tot, das hatte Johannes mit eigenen
Augen gesehen. Er würde bis an den Rest seiner Tage Albträume davon haben.
Der Koch zerrte noch
immer. Der kleine Junge versteckte sich weinend hinter einem Baum. „Lixiti!
Lixiti! LIXITI!“, rief der Koch und brüllte: „Lasst los! Lasst mich los!“ Doch Johannes
und Johnny dachten nicht daran, Es hätte ihnen gerade noch gefehlt, dass auch
der Koch noch ins Wasser spränge.
„Kommen Sie!“,
meinte Johnny. „Sie können ihr nicht mehr helfen! Kommen Sie!“
„Nein!“, brüllte er.
„Lixiti!“
Und dann, zwei
Sekunden später, fiel er in sich zusammen, sein Kopf sank auf die Brust, und
ein lautes, hemmungsloses Schluchzen ertönte. Die Freunde warfen sich einen
Blick zu. Die beiden Männer ließen den Koch los, Joséphine näherte sich
vorsichtig Kabuki, der sich überraschenderweise sofort an sie klammerte und
weiterweinte.
Der Koch klagte und
klagte, doch auf Chinesisch, in seiner Heimatsprache, und keiner verstand ihn.
Aber eines war klar: Er trauerte um seine verlorene Ehefrau. Zumindest hatte er
nun begriffen, dass sie tot war.
Johannes stand da
und beobachtete Joséphine. Wie würde er reagieren, wenn ihr etwas passieren würde?
*
„Lasst uns
weitergehen“, sagte Joséphine leise. „Wer weiß, vielleicht kommt es zurück.“
Unruhige Blicke wurden auf das Wasser geworfen.
Johnny blickte sich
um. Dann meinte er: „Ich gehe voraus und suche erstmal einen Platz, an dem wir
bleiben können. In dieser Verfassung kommt keiner von uns weit.“ Und damit
hatte er Recht. Nicht nur der Koch und Kabuki waren außer sich – auch Johannes,
Joséphine und Johnny standen unter Schock.
Johnny verschwand,
und Joséphine entfernte die klammernden Finger des Jungen um ihr Bein. Dann
kniete sie sich vor ihn und blickte ihm in die Augen. „Kabuki?“ Sein trauriger,
tränenverschleierter Blick richtete such auf sie. Er schniefte. „Kabuki, deine
Mutter ist jetzt an einem besseren Ort. Sei nicht traurig, ja?“ Zur Antwort
schluchzte er erneut laut auf.
Joséphine war
traurig. Sie wusste nicht, wie man kleine Kinder tröstete. Schon gar nicht
kleine chinesische Kinder. Woran glaubten sie denn? Auch an ein Paradies? An
Wiedergeburt?
Johnny kehrte
zurück. Er warf einen Blick auf den jammernden Koch und seufzte. „Wir haben
Glück. Gerade mal dreißig oder vierzig Meter von hier entfernt befindet sich
wieder eine kleine Lichtung. Dort können wir bleiben.“ Er legte eine Hand auf
die Schulter des Kochs. „Kommen Sie. Wir müssen hier weg.“
Seine geröteten
Augen richteten sich nur blicklos auf ihn, dann erhob er sich. Er wirkte wie
ein Zombie.
Joséphine nahm den
kleinen Jungen auf den Arm. Er war schwer, doch jetzt brauchte er Trost. Sofort
schlang er seine kleinen Ärmchen um ihren Hals und weinte herzzerreißend
weiter. Sie zog eine Grimasse. Der arme Kleine.
Sie kämpften sich
weiter durch Unterholz und heimtückische Wurzeln, dann kamen sie auf eine
kleine Lichtung. Sie war nicht größer als die letzte, doch nicht nur ein großer
Baum beeindruckte hier, sondern gleich ein ganzer Ring davon. Sie umgaben die
Lichtung als wären sie künstlich angelegt worden.
Etwas huschte in den
Bäumen, und Joséphine, die eben auf diesen Fleck gesehen hatte, erkannte
braunes Fell. Es machte ihr Angst. Was war das?
Sie setzte den
kleinen Jungen ab und eilte zu Johnny. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Kabuki
zu seinem Vater rannte. „Da war was in den Bäumen“, raunte sie Johnny zu.
„Vielleicht sollten wir besser aufpassen…?“
Johnny nickte ernst.
„Ich werde meine Waffe laden.“
Sie blickte
entgeistert. „Deine Waffe?!“
„Äh… nur ein kleines
Agentenspielzeug. Nichts Gefährliches.“
Damit war Joséphine
beruhigt. Wenigstens etwas, das sie beschützen konnte.
Kabuki kam laut
heulend auf sie zugerannt und klammerte sich wieder an ihr Bein. Der Koch
blickte seinem Sohn mit düsterer Miene hinterher, dann wurde sein Gesicht
wieder völlig ausdruckslos.
Johannes schlurfte
zu Joséphine. Sie tauschten einen Blick und sahen das Leid in den Augen des
anderen. Dann nahmen sie sich bei der Hand.
„He!“ Johnny winkte
von der anderen Seite der Lichtung. „Gehen wir Feuerholz sammeln?“
Feuerholz? Aber es
war doch gerade mal Mittag!
Ach ja. So schnell
würden sie nicht mehr weitergehen.
„Geh du nur“, meinte
Joséphine zu Johannes. „Ich bleibe hier.“ Sie streichte Kabuki beruhigend mit
der Hand über den Kopf. Dann setzte sie sich neben den Koch auf das saftige
Gras, das im Sonnenlicht, das von oben hereinfiel, gut gedeihen konnte. Kabuki
kletterte auf ihren Schoß, und sie umarmte den Kleinen. Er weinte noch etwa
zehn Minuten, dann schlief er mit dem Daumen im Mund ein.
Sie blickte auf den
Koch. Er saß da, die geröteten Augen starr auf das Gras gerichtet. Seine Arme
hingen an den Seiten herunter. Keine Regung ließ verlauten, ob er noch lebte.
Ob er depressiv geworden war? Sicher hatte er Lixiti sehr geliebt. Es muss
grauenvoll sein, jemanden zu verlieren, wenn man gerade mal fünf Meter entfernt
war und ihm doch nicht helfen konnte. Sicher machte er sich unheimliche
Selbstvorwürfe.
Plötzlich ertönte
ein Schuss. Der Koch, auf dem Joséphine Blick geruht hatte, gab keine Regung
von sich. Doch Joséphine zuckte zusammen und Kabuki drehte sich unruhig in
ihren Armen.
Was war das gewesen?
War das Johnnys erwähnte Waffe? Waren die beiden in Gefahr? Was war nur los?!
Dann ertönte ein
glückliches Lachen aus dem Wald, das nur Johnny gehören konnte. Trotzdem machte
sich Joséphine weiter Sorgen, bis die beiden gesund und munter aus dem Wald
traten. Johnny hatte etwas Flauschiges, Braunes über der Schulter hängen, in
der Hand ein mindestens ein Meter langes Schießgewehr. Neben ihm trottete Johannes,
bis zur Nasenspitze mit Brennholz beladen.
Johnny lachte erneut
und ließ seine Beute auf den Boden fallen. Es war ein Affe.
Joséphines Kinnlade
fiel runter. „Wie konntest du das nur tun! Das arme Tier!!“ Dann warf sie einen
genaueren Blick auf die Waffe in Johnnys Händen. Sie schnaubte. „Nur ein
kleines Agentenspielzeug? Nichts Gefährliches?“
Er grinste sein
Jack-Sparrow-Piratengrinsen. „Ich habe schon mit größeren Waffen gespielt. Wenn
du verstehst, was ich meine.“ Sie boxte ihn dafür gegen das Bein, das ihrer
Faust am nächsten war und sah dann grimmig zu, wie Johannes die Äste auf einen
Haufen vor ihr schmiss. Johnny schlenderte dazu und entzündete das Feuer. Dann
holte er die beiden Y-förmigen Äste von gestern vom Rucksack des Kochs, die
dieser dort festgemacht hatte, und steckte sie in die Erde. Dann machte er sich
daran, den Affen mit einem spitzen Stock aufzuspießen, doch Joséphine schrie
auf. „Spinnst du! Nimm ihn doch erst mal aus! Und häute ihn. Und vergrab die
Eingeweide, mir wird noch schlecht davon.“
Er grinste schon
wieder, salutierte dann und verschwand zum Fluss. Im nächsten Moment bereute sie
es schon: Vielleicht kam der Alligator zurück? „Johnny!“, rief sie. Sein Kopf
tauchte noch einmal aus den Bäumen auf. „Was?“ „Pass auf den Alligator auf.“ Er
wedelte zur Antwort nur mit seinem „ungefährlichen Agentenspielzeug“.
Kabuki regte sich in
ihren Armen, dann wurde er wieder ruhig. Sie streichelte ihm beruhigend über
den Kopf und hoffte, dass er keine Albträume bekam. Die Fantasie kleiner Kinder
war immer wieder erschreckend.
Johannes setzte sich
stumm zu ihr und ergriff ihre Hand. Sie beschloss, Kabuki gemütlich auf dem
Rasen zu lagern. Im Schatten. Sie ließ Johannes’ Hand los, dann trug sie Kabuki
an den Rand der Lichtung in den Schatten und ließ sich selbst dort nieder. Die
Sonne brannte wie am ersten Tag, und nahe am Feuer zu sitzen war kaum
auszuhalten. Johannes folgte ihr.
„Der arme Kleine“,
murmelte Joséphine wieder, als sie den Kopf des Jungen auf ihre Beine bettete
und sich dann Johannes zuwandte. Sein trauriger Blick traf den ihren.
„Schlimme Sache“,
meinte er leise. Sie nickte. Extrem schlimme Sache.
Er setzte sich ihr
gegenüber, und sie nahmen sich an beiden Händen. Es tröstete Joséphine, dass
sie einen Menschen wie Johannes bei sich haben konnte, vor allem in einer
solchen Situation. Da wurde ihr klar, dass sie nun dieser Mensch für Kabuki
war: Seine Mutter in einen blutigen Tod gerissen, sein Vater manisch depressiv.
Der Koch saß übrigens unbeteiligt am Feuer, eigentlich vie, zu nah an den
Flammen, die Augen starr geöffnet. Blinzelte er? Hoffentlich. Wäre schlecht,
wenn nicht.
Pfeifend kehrte
Johnny zurück. Hatte er denn überhaupt kein Herz? Machte es ihm denn überhaupt
nichts aus, das mit angesehen zu haben? Er war sicherlich an vieles gewöhnt,
doch er sollte wenigstens ein wenig Rücksicht zeigen!
„Bleib hier!“, zischte
sie Johannes zu und stapfte dann zu Johnny, der den nackten Kadaver des Affen
soeben von seiner Schulter auf den Boden schmiss und sich daran machte, ihn
aufzuspießen. Joséphine sah weg, während er dies tat, und setzte sich dann
wartend auf den Boden. Sie beobachtete ihn, wie er den aufgespießten Affen auf
die Äste legte und schmoren ließ. Dann gesellte er sich zu ihr.
„Spuck’s aus, beste
Freundin. Was habe ich schon wieder falsch gemacht?“
Sie machte ein
grimmiges Gesicht. Sie meinte es schließlich ernst! „Du solltest ein wenig
Respekt vor der Trauer zeigen! Außerdem hättest du diesen armen Affen verdammt
noch mal nicht erschießen sollen!“
Er lächelte traurig.
„Ich habe Respekt vor der Trauer. Ich habe aufgehört zu pfeifen, als ich auf
die Lichtung kam. Aber ich kann nichts dafür, dass ich glücklich bin – ich habe
schon tausend Menschen sterben sehen, und ich habe gelernt, um Menschen, die
ich nicht mochte, nicht zu trauern. Ich mochte Lixiti nicht. Sie war eine
falsche Schlange. Ich handele nur, wie ich ausgebildet wurde.“
„Aber es ist so…
herzlos.“
„Tut mir Leid.“
„Und der Affe? Wir
hätten Besseres finden können!“
„Ich glaube, es ist
das, was du am Anfang gesehen hast.“ Klar, das braune Fell. So viel hatte sie
sich auch schon zusammenreimen können.
Johnny erhob sich,
griff einen Stock aus den Flammen und zog damit die Oberlippe des Affen in die
Höhe. Rasiermesserschafe, mindestens fünf Zentimeter lange Zähne kamen zum
Vorschein. „Es hat uns angegriffen. Wenn es dir lieber gewesen wäre, ich hätte
mich auffressen lassen statt aus Notwehr das Tier erschießen sollen…“
„Nein…“ Okay,
Notwehr, das war schon etwas anderen. Außerdem hatte das Vieh tödliche Zähne.
„Sorry.“
„Kein Problem.“ Sie
umarmten sich freundschaftlich und saßen dann, jeder in seine eigenen Gedanken
versunken, nebeneinander.
Stunden schienen so
zu vergehen, unterbrochen nur von dem Augenblick, an dem Johnny den Spieß
umdrehte um den Affen auch von der anderen Seite zu braten.
Schließlich nickte
sie an Johnnys Schulter ein. Grauenvolle Albträume plagten sie, voller Blut,
Affen mit Alligatorköpfen und abgerissenen Körperteilen. Und einem kleinen,
weinenden Jungen.
Sie erwachte, als es
schon dunkel war. Nur der Mond schimmerte geheimnisvoll und gruselig auf die
Lichtung. Sie merkte, dass sie völlig erschöpft gewesen war.
Um sie herum
schliefen schon alle, neben ihr Johannes, auf der anderen Seite Kabuki. Neben
dem Kleinen Johnny. Der Koch saß noch immer an derselben Stelle, doch auch er
schien zu schlafen.
Joséphine blickte
auf den Spieß mit dem kalt gewordenen Affenfleisch. Niemand hatte davon
gegessen. Auch sie verspürte keinen Hunger. Nur Durst. Sie hatten den ganzen
Tag nichts getrunken, seit der Unfall passiert war. Niemand traute sich mehr
ans Wasser. Außerdem war es inzwischen zu grün, um noch getrunken werden zu
können.
Sie erhob sich
leise, um die anderen nicht zu stören. Im tristen Mondlicht sah alles einsam
und langweilig aus. Die Schwärze zwischen den Bäumen verhieß unbekannte
Gefahren, die Joséphine einen Schauder über den Rücken jagten.
Sie näherte sich
vorsichtig den Bäumen am Rand der Lichtung und trank das Kondenswasser von der
Unterseite eines riesigen Palmenblattes, das fast bis zum Boden reichte. Der
Boden war den ganzen Tag feucht, und wenn die Sonne schien wie an einem Tag wie
diesem, kondensierte das Wasser an den Unterseiten der Blätter. Es schmeckte
frisch und gesund, und sie überlegte, üb sie jetzt die Flasche damit füllen
sollte. Doch sie entschied sich dagegen. Morgen würde noch genug Zeit dafür
sein. Jetzt war sie nur unheimlich erschöpft. Noch immer, obwohl sie geschlafen
hatte.
Als sie sich
umdrehte, fuhr ihr der Schreck in die Glieder: Zwei helle Punkte leuchteten in
der Dunkelheit. Dann erkannte Joséphine, dass es die geöffneten, vom Mond
beleuchteten Augen des Kochs waren, die sie anstarrten. „Sie wird zu mir
zurückkehren“, flüsterte er heißer. Seine Stimme klang wahnsinnig. Irr. „Oh ja,
das wird sie, und wir werden für immer vereint sein.“
Langsam, vorsichtig,
näherte sich Joséphine dem Koch. War er… war er wach?
Ein Grunzen ertönte,
dann ein Schnarchen. Die Augen waren noch immer geöffnet. „Lixiti…“ Sie
schlossen sich. Der Koch fing an, leise zu schnarchen, wie er es seit ihrem
ersten Treffen schon immer getan hatte. Joséphine atmete erleichtert den Atem
aus, den sie unbewusst angehalten hatte.
Diese Nacht konnte
sie nicht mehr einschlafen.
*
Verspannt erwachte Johannes. Er hatte das Gefühl, gerade mal
zwei Stunden geschlafen zu haben, doch er wusste, es war länger.
Joséphine, die neben
ihm lag, blickte ihn an. Sie hatte müde Augenringe und sah ziemlich mitgenommen
aus.
„Hallo“, flüsterte
er und zauberte damit ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. „Hallo“, flüsterte
sie zurück.
„Seid ihr endlich
wach, ihr Turteltäubchen?“, sagte die muntere Stimme Johnnys. „Steht auf, ihr
Faulpelze. Wir können den Wald heute noch verlassen. Ich will nichts als hier
weg.“
Da musste Joséphine
zustimmen. Auch sie wollte aus diesem Wald des Grauens verschwinden. Sie
richtete sich auf. Johannes ebenfalls.
Der kleine Kabuki
schlief noch. Der Koch starrte wieder blicklos auf das erloschene Lagerfeuer.
Kein Hauch des Wahnsinns von heute Nacht war mehr darin zu erkennen. Vermutlich
hatte sie es sowieso geträumt.
„Auf, auf“, meinte
Johnny und schulterte seinen Rucksack. Das Fleisch des Affen hatte er bereits
eingepackt und die Äste wieder hinten draufgeschnallt. Joséphine merkte, dass
die Wasserflasche mit klarem Wasser gefüllt war. Johnny hatte also nicht so gut
schlafen können. Also war er doch nicht so unberührt geblieben, wie er gesagt
hatte.
Johannes schulterte
vorsichtig den schlafenden Kabuki, und Joséphine schlurfte zum Koch, berührte
seine Schulter und wartete auf eine Reaktion. Sie kam nicht. „Kommen Sie, Mann.
Wir müssen weiter. Deprimiert sein bringt Lixiti auch nicht wieder zum Leben.“
Der leere Blick richtete sich auf. „Lixiti? Wann kommt sie Heim? Sie ist schon
so lange weg.“
„Ja, ja. Sie kommt
bald. Und jetzt bitte, stehen Sie auf.“
Er erhob sich,
schwankte ein wenig wie ein Zombie. Überhaupt sah er ziemlich zombiemäßig aus. Joséphine
lief ein Schauder über den Rücken, als sie an die Szene letzte Nacht dachte.
Die Gefährten, die
am Anfang ihres Abenteuers zwei Köpfe mehr zählten, fühlten sich einsam. Nicht
nur, dass jeder das Fehlen von Lixiti spürte, auch wenn sie immer still und
kaum wahrnehmbar gewesen war, sondern auch die Gedanken waren einsam. Jeder
dachte für sich. Es wurde nicht geredet. Eine Art depressive Stimmung lag in
der Luft, die nicht nur vom Koch ausging.
Auch Joséphine
fühlte sich leer. Ausgelaugt. Traurig. Obwohl sie nichts gegessen hatten,
klagte keiner über Hunger, und sie liefen schweigend bis zum Abend und noch
weiter. Joséphine schätzte, dass es etwa zehn Uhr nachts war, als sie von einem
Moment auf den anderen aus dem Wald stolperten. Vor lauter Dunkelheit hatten
sie nicht bemerkt, wie die Bäume lichter wurden.
Ein erleichtertes
Ausatmen ging durch die Gefährten.
Erwähnenswert ist
natürlich, dass der Koch den ganzen Tag über seinen Zombie-Zustand behalten
hatte. Der kleine Junge war im Laufe des Tages aufgewacht, hatte sich jedoch
tapfer gehalten und nicht geweint. Das einzige, was er von sich gab, war die
Bitte, von Joséphine getragen zu werden oder zumindest ihre Hand zu halten.
Anscheinend konnte er Johannes nicht unbedingt leiden.
Der Fluss, dem sie
die ganze Zeit gefolgt waren, mündete nach etwa zehn Meter nach Ende des Waldes
in einen großen, kreisrunden See mit spiegelglatter Oberfläche, der sich zu
ihrer Linken ausbreitete und in dem sich der Vollmond spiegelte.
Die Landschaft war
wenig vertrauenserweckend. Wohin sie auch sahen: Überall war trockene, braune
Erde. Nur hinter ihnen befand sich der Wald und vor ihnen der See. Ansonsten
war nichts zu sehen.
„Wir bleiben hier“,
entschied Johnny. Sie hätte ohnehin nicht mehr weitergehen können, da es schon
so dunkel war.
Sie nutzten die
schwüle, warme Nacht, um sich die Mühen eines Lagerfeuers zu sparen. Alle
fielen dort, wo sie gerade standen, zu Boden und schliefen ein.
Der nächste Tag war
wieder der Horror. Vielleicht ahnt ihr durch die Wiederholung der Worte, was
passieren wird. Genau. Der Horror kam wieder.
Der Morgen war
frisch, doch keiner frierte wirklich. Sie genossen das Gefühl des Freien
Himmels über sich, ohne Palmenblätter, von denen sie allmählich genug hatten.
Der Affe war in
Johnnys Rucksack schlecht geworden, und fliegen sammelten sich darum. Also warf
Johnny ihn in den See und machte sich auf die Suche nach einem Frühstück (der
Appetit war zwar nicht zurückgekehrt, doch schließlich mussten sie etwas essen,
wenn sie nicht verhungern wollten), während Johannes und Joséphine sich über
die Schatzkarte beugten.
„Schau, der See ist
eingezeichnet. Soweit sind wir alle richtig.“ Joséphine deutete auf den Kreis
mit der Wellenlinie darin. „Und hier ist der Schatz.“ Sie zeigte auf das
komplexe Gebilde, das sich bei näherer Betrachtung als schneckenhausförmig
erwies. Der Eingang befand sich nördlich. Die gestrichelte Linie führte von
ihrem aktuellen Standpunkt aus nach Nordwesten. Es war der kürzeste Weg.
„So nah schon“,
flüsterte Johannes ehrfurchtsvoll. Auch Joséphine war neugierig, woraus der
Schatz bestand, und ob sie graben müssten wie in den Piratenfilmen.
„Haha!“, rief
Johnny. Als die beiden sich umdrehten, sahen sie ihn mit einem aufgespießten
Igel auf sie zukommen. Zu Joséphine meinte er: „Dieses Wesen ist tatsächlich
unschuldig gestorben. Doch du musst zugeben, dass irgendein Tier sterben muss,
wenn wir nicht verhungern wollen.“ Das stimmte, doch Joséphine gab keine
Antwort. Johnny grinste. „Ich mache dir auch eine Bürste aus den Stacheln.“
Dafür warf sie ihm einen bösen Blick zu.
Sie brieten den Igel
über einem hastig zusammengewürfelten Feuer. Er schmeckte nach nichts, was
allerdings nicht am Igel lag, sondern an den von Trauer und Entsetzen
verkümmerten Geschmacksnerven der Gefährten. Sie zwangen den Koch, etwas zu
essen. Kabuki aß freiwillig, allerdings ohne Freude.
Der Aufbruch
verzögerte sich. Johnny beschloss, aus der aufgehobenen Affenhaut und dem Leder
des geleerten Rucksacks des Kochs Flaschen zu fertigen. Dafür benutzte er
Efeuranken, die an den Büschen des Unterholzes heranwuchsen und sehr kräftig
waren, und als Nähnadel verwendete er den dicksten und stabilsten Knochen des
kleinen Igels, in den er ein Loch bohrte, welches als Öhr diente.
Johnny machte seine
Arbeit wirklich gut. Die „Flaschen“, es kamen am Ende etwa zwanzig Stück raus,
waren dicht. Der Nachteil war natürlich der fürchterliche Geschmack des
Affenfells und des Leders. Doch die Ebene vor ihnen war endlos weit, und auf
der Karte waren lange keine weiteren Flüsse eingezeichnet. Trotz der zwanzig
lederbeutelähnlichen Flaschen würden sie mit der Flüssigkeit sparen müssen.
Ein Trost war, dass
es wieder kühler wurde. Die Nacht, die warm gewesen war, mündete in einen
warmen Morgen, doch als die Gefährten gegen zwölf Uhr dann zum Aufbruch bereit
waren, wehte ein fast eisiger Wind. Alle zogen ihre ganzen Klamotten an,
wodurch auch Platz für die „Flaschen“ geschaffen wurde.
Da niemand einen
Kompass dabei hatte, entschieden sie sich, dem Verlauf des Waldes zu folgen,
bis sie das eingezeichnete Gebilde erblickten. Sobald dies geschah, würden sie
natürlich auf direktem Wege darauf zulaufen und an dessen Wand entlanggehen,
bis sie auf den Eingang stießen.
Ein guter Plan.
Käme nicht wieder
mal der Horror dazwischen.
*
Johannes gähnte. Sie liefen schon drei Stunden schweigend am
Wald entlang. Er hatte es allmählich satt, den ganzen Tag nur zu laufen. Wenn
er es genau betrachtete, bestand sein bisheriger Aufenthalt auf dieser Insel zu
achtzig Prozent aus Laufen und aus neunzehn Prozent aus Essen. Das restliche
Prozent ging vermutlich auf den menschlichen Erleichterungsvorgang drauf.
Plötzlich glaubte Johannes,
am Horizont etwas Schwarzes zu sehen, das sich von links bis rechts erstreckte.
Was mochte das sein?
Er lief zu Joséphine
und teilte seine Entdeckung mit ihr. Sie stimmte zu. Da war irgendetwas. Aber
was?
Nach einer weiteren
Stunde, nachdem der schwarze Streifen am Horizont immer dicker geworden war,
wurde allen klar, worauf sie da zuliefen: Eine riesige Schlucht!
Johannes schüttelte
den Kopf. Irgendwie war ihm klar gewesen, dass ihr Plan zu einfach war und dass
ein einfacher Plan nicht gelingen konnte, wenn er und sein Pech dabei waren.
Sie blieben stehen
und berieten sich. Was sollten sie tun?
Schließlich einigten
sie sich darauf, weiter auf die Schlucht zuzugehen. Wenn sie das Gebilde dann
immer noch nicht sahen, würden sie eben der Schlucht in Richtung Westen folgen,
bis sie darauf stießen. Und sie hofften, dass es dann einen Durchgang gab. Was,
wenn die Schlucht am Gebilde vorbeiführte? Dann müssten sie den viel längeren
Weg um die ganze Schlucht herum gehen.
Nein danke.
*
Sie erreichten die Schlucht. Sie war gigantisch, mindestens
einen Kilometer breit, so schien es den Gefährten.
Und tief. Mindestens
hundert Kilometer tief. Mindestens.
Sie befanden sich am
äußersten Rand der Schlucht. Sie wurde Richtung Wald immer schmaler und endete
etwa fünf Meter davor.
Was nun folgte,
führte den Horror, der nur darauf gewartet hatte, zuzugreifen, endgültig
herbei: Die Beratung. Oder genauer: Die Entscheidung, die aus der Beratung
hervorging.
Die Gefährten
berieten nämlich tatsächlich, ob sie hier die Schlucht am Rand überqueren
wollten, somit auf die andere Seite gelangten und dann der Schlucht Richtung
Westen folgten, bis sie auf das Gebilde stießen. Oder ob sie, was die andere
Möglichkeit darstellte, der Schlucht auf dieser Seite folgen sollten, bis sie
das Gebilde erreichten und dann der Wand des Gebildes zum Eingang folgen
sollten. Sie wussten schließlich nicht, auf welcher Seite der Schlucht sich das
Gebilde befand.
Sie überließen die
Entscheidung Joséphine. Sie überlegte fünf Minuten, in denen sie das für und
wider abwägte, und sich schließlich für Möglichkeit zwei entschied. Sie fand,
dass sie dadurch ihrem Ziel sicherer näherkamen, als wenn sie der Schlucht auf
der anderen Seite folgten. Wer weiß, vielleicht endete die Schlucht ja erst im
Meer? Und das Gebilde befand sich auf dieser Seite? Vielleicht. Man konnte es
einfach nicht wissen.
Also fügten sich
alle. Und der Horror packte zu.
Es war etwa fünf Uhr
abends, die Gefährten waren schon so erschöpft, dass sie ihrer Umgebung kaum
noch gewahrten, als sie am Horizont eine weiße Mauer erblickten. Sie wussten
sofort: Dies war das Gebilde von der Karte. Anscheinend bestand es aus sehr
hohen, weißen Mauern, die Schneckenförmig angelegt waren. Und ganz eindeutig
von Menschenhand.
Sie liefen nah an
der Schlucht, etwa fünf Meter vom tödlichen Abgrund entfernt. Sie waren sich
alle sicher, nicht dumm genug zu sein, um aus Versehen hineinzufallen. Nur
hatten sie alle den kleinen Mann vergessen, dem man so etwas noch nicht
zutrauen konnte: Während jeder in seine eigenen Gedanken versunken war, hüpfte
Kabuki nah am Abgrund herum.
Es geschah alles so
schnell, dass unmöglich jemand hätte reagieren können: Das Rollen fallender
Steine, das Ratschen von Haut, ein erschrockener Schrei, ein entsetztes
Aufkeuchen, und dann ein langer, ängstlicher, quälender Schrei, der Joséphine
bis an ihr Lebensende in den Träumen heimsuchte, als Kabuki in den Abgrund
fiel.
Als sich alle
erschrocken umdrehten, war es bereits zu spät: Joséphine sah nur noch Kabukis
vor Schreck geweiteten Augen, dann nur noch seine Arme. Sie stürzte auf ihn zu,
doch da war er schon fort, und Johannes’ starke Arme hielten sie fest, damit
sie nicht hinterherstürzte.
Der Schrei verklang,
vermischt mit Joséphines eigenem verzweifeltem Brüllen. Sie riss ihre Arme los
und drückte sie auf die Ohren, damit sie das unweigerlich folgende Geräusch
nicht hören musste. Sie war nicht so lebensmüde, dem kleinen Jungen noch folgen
zu wollen, doch sie konnte es auch nicht erleben, wie sein kleiner, sich gerade
noch im Wachstum befindender Körper aufkam und die Knochen barsten.
Nach einer Weile
nahm sie die Hände von den Ohren. Der Schrei war verstummt. Tränen flossen ihr
über die Wangen. Wer hier herunterfiel, konnte nicht überleben. Sie machte sich
gar keine Hoffnungen mehr.
Der Koch hatte
seither keine Regung von sich gegeben. War sein Geist wirklich so entrückt,
dass er das Dilemma nicht einmal mitbekommen hatte?
Johnny stand mit
herabhängenden Armen da und starrte auf die Stelle, an der sich die Erde gelöst
hatte, und Johannes stand noch immer hinter ihr, wo sie sein Schweigen
mitbekam.
Ihre Knie knickten
ein und sie fiel zu Boden. Verzweifelt weinte sie um den kleinen Jungen, der
ihr den unerträglichen Aufenthalt auf dieser Horrorinsel immer versüßt hatte und
der einen so sinnlosen Tod gestorben war.
Johannes setzte sich
neben sie, bat ihr schweigend seinen Trost an, den sie sofort ergriff. Auch ihm
liefen die Tränen über die Wangen, schließlich hatte auch er den kleinen,
zierlichen Jungen getragen und ihn in sein Herz geschlossen.
Sie umarmten sich.
Und trauerten. Und trauerten. Und trauerten.
Als Joséphine nicht
mehr weinen konnte, war es bereits schon ewig dunkel. Erschöpft vor Trauer um
den Verlust ließ ihr Körper sie einschlafen.
Der nächste Morgen
war trüb. Bewölk. Eisig kalt.
Joséphine erhob sich
entschlossen. „Lasst uns gehen. Je schneller wir das hier hinter uns bringen,
desto eher können wir nach Hause gehen und mit einem Helikopter zurückkehren,
um Kabuki eine angemessene Beerdigung zukommen zu lassen.“
Also machten sie
sich auf den Weg. Der neue Plan war, wie geplant zum Gebilde zu gelangen und
dann nicht den Eingang zu suchen, sondern gen Norden zum Strand zu wandern, wo
Steffie vermeintlich auf sie wartete. Sie hofften, dass die Schlucht ihnen
keinen Strich durch die Rechnung machte. Joséphine fragte sich, was Steffie
gerade in Wirklichkeit machte. Hatte sie den Schatz gefunden? War sie tot? War
sie vielleicht wirklich schon am Strand?
Joséphine klammerte
sich an Johannes, und er streichelte ihr tröstend über den Arm. Die weiße Mauer
am Horizont wurde immer größer. Höher und länger. Es musste ein gigantischer
Komplex sein. Und hoffentlich befand es sich auf ihrer Seite der Schlucht. Es
wäre wirklich frustrierend, wenn die Schlucht sie doch noch davon trennen
würde, nachdem Joséphine entschieden hatte, auf dieser Seite zu blieben. Und
sie hoffte natürlich, dass es einen Übergang über die Schlucht gab, und dass
die dem verdammten Moor fernbleiben konnten.
Schließlich standen
sie vor der Mauer, die mindestens so hoch wie der Eiffelturm war. Und die
Schlucht hatte ihnen tatsächlich einen Strich durch die Rechnung gemacht: Statt
links oder recht des Komplexes zu verlaufen, endete sie davor. Dieses Ende der Schlucht ragte völlig senkrecht in den Boden
hinein, dass es wie eine Verlängerung der Wand wirkte, die übrigens dezent
gerundet war, das auf die schneckenhausförmige Form des Gebildes schließen
ließ.
Ab hier gab es nur
noch eine Möglichkeit: Da rechts von ihnen die Schlucht war, und zwar so nah an
der Wand, dass es nicht einmal einen schmalen Steg am Rand gab, mussten sie
sich nach links, gen Westen wenden und an der Wand entlanglaufen. Laut der
Karte war dies ein etwa drei Mal so langer Weg als der, wenn sie nach Norden
laufen konnten.
Und natürlich führte
der Weg direkt durch das Moor, das anscheinend ebenfalls an der Wand des
Gebildes endete.
Die Gefährten standen
eine Weile unentschlossen da, dann schnaubte Johnny genervt und schlenderte
nach links los, an der Wand entlang. Die anderen folgten ihm wie willenlose
Schafe, die ihrem Hirten folgten. Sie gaben eine kümmerliche Schafsherde ab. Joséphine,
Johannes, Johnny und der Koch. Wobei der Koch nur halb zählte, da er eigentlich
nur körperlich anwesend war. Immer noch.
Es dauerte nicht
lange, da wurde der Boden zäher. Schon bald bestand er aus nichts anderem als
Matsch, der so flüssig war, dass man bei jeder falschen Bewegung bis zur Hüfte
einsank. Die Gefährten mussten von Grasinsel zu Grasinsel springen, waren
jedoch alle schon nach zwei Stunden bis zum Bauch voll Matsch. Der Koch war
träge, sprang aber dennoch halbwegs gut.
Fakt war jedoch,
dass dies einer der schlimmsten Tage in Joséphines Leben war. Gerade mal noch
übertroffen vom vorherigen Tag, doch an den mochte sie nicht denken.
Es war kalt, sie war
hungrig, sie trauerte, sie war dreckig, und es war noch kein Ende des Moors in
Sicht. Außerdem summten hier heimtückische, eindeutig mutierte Steckmücken
herum, die Stiche hinterließen, die groß wie Beulen waren und juckten wie
verrückt.
Und das Schlimmste
war, dass sie das Ende des Moors nicht erreichten, bevor es dunkel wurde. Im
Dunkeln konnten sie unmöglich weitergehen, also lehnten sie sich an die Wand,
schliefen ein und hofften, am nächsten Morgen nicht eingesunken zu sein.
Es ging. Joséphine
und Johannes steckten beide bis zur Brust im Schlamm, als sie erwachten, doch
Johnny, der es irgendwie geschafft hatte, nur bis zu den Knien einzusinken, zog
sie ohne Probleme raus.
Auch dieser Tag war
ein Gewaltmarsch. Es gab hier außer den Mücken kein Zeichen von Leben, und sie
hatten ihre letzte Mahlzeit am vorletzten Abend zu sich genommen, den kleinen
Igel. Am Tag von Kabukis Tod hatte es kein Frühstück gegeben, und dann waren
sie bis zum Abend gelaufen. Und heute Morgen hatte es ebenfalls kein Frühstück
gegeben. Und als wäre das nicht genug, brachen sie an diesem Tag nach drei
Stunden Laufen ihre letzte Wasserflasche an.
Bald war der Hunger
das Schlimmste. Er wurde unerträglich, und die Gefährten hatten kaum noch die
Kraft, weiterzustolpern.
Und dann endlich,
endlich, endete das Moor. Der Boden wurde nach und nach härter, bis er
schließlich wieder aus der trockenen, roten Erde bestand, die auch vor dem Moor
da war. Und zur allgemeinen Erleichterung wuchsen ein paar spärliche Büsche an
der weißen Wand, auf denen sich gelb-grün gestreifte Raupen tummelten, und zwar
zu Tausenden.
Ohne darüber
nachzudenken, ob sie giftig waren oder ob man überhaupt Raupen essen sollte,
stopften die Gefährten sich die Raupen in den Mund. Nachdem der größte Hunger
gestillt war, schmeckte Joséphine sie auch: Sie schmeckten süß, klebrig, zäh.
So, wie man sich den Geschmack von Raupen vermutlich vorstellte. Nicht zu
vergleichen mit den Kakerlaken, aber eindeutig ziemlich wohlschmeckend.
Erschöpft streckten
sich die vier nebeneinander aus. Nun ja… die drei. Der Koch setzte sich wieder
im Schneidersitz auf den Boden und starrte blicklos auf die Erde.
Joséphine ließ den
letzten Tropfen Wasser aus der provisorischen Flasche auf ihre Zunge tropfen.
Mann, war sie durstig. Jetzt war der Hunger gestillt, und der Durst drängte
sich in den Vordergrund.
Sie kämpfte sich
mühsam auf die Beine und entrollte die Karte auf dem Boden. In der Nähe des
Punktes, an dem sie sich befanden, also am nördlichen Ende des Moores und an
der Wand des Gebildes, sollte einer der Flüsse fließen. Sie hatten eigentlich
keine andere Wahl.
Also machten sie
sich auf, diesen Fluss zu finden. Damit entfernten sie sich zwar vom Komplex,
doch die Mauer war so hoch, dass man sie vermutlich noch ewig sehen würde.
Tatsächlich fanden
sie den Fluss ohne irgendwelche Zwischenfälle, tranken, füllten die Flaschen
auf und entschieden dann, zum Gebilde zurückzukehren. Der Gedanke an den Schatz
schien nun, da sich alle wieder mehr oder weniger erfrischt fühlten, wieder
recht anziehend zu wirken. Außerdem gab es ihnen allen, auch wenn es keiner
laut aussprach, ein Gefühl von Rache. Die Insel hatte ihnen zwei Menschen
geraubt, und nun würden sie ihr ihren Schatz rauben.
Nun standen sie vor
dem Eingang. Hier sah man deutlicher, dass die Wände (oder die eine Wand?)
schneckenförmig gedreht waren. Der Eingang, ein schmaler Spalt mit den hohen
Wänden, an dessen Boden es fast gänzlich dunkel war, erweckte den Eindruck des
Eingangs zur Hölle. Da die Wände gebogen waren, konnte man nur etwa zehn Meter
weit sehen, bevor man um die Kurve gehen musste.
„Also los“, murmelte
Johnny und marschierte los. Joséphine und Johannes folgten ihm. Der Koch
trottete mit leerem Blick hinterher.
Auf diese Weise
verging fast der ganze Tag. Aufgrund der vergehenden Zeit änderten sich die
Lichtverhältnisse, und man spürte kaum merklich, dass die Kreise, in denen sie
liefen, etwas enger wurden. Aber alles in allem musste Joséphine zugeben, dass
das Abenteuer, auf das sie sich alle so gefreut hatten, seit sie die Karte
gefunden hatten, ziemlich langweilig war. Außerdem mussten sie schließlich
irgendwann ankommen, und es würde sie nicht wundern, wenn die Schnecke einfach
in einem Kreis mit zehn Zentimetern Durchmesser endete, in dessen Boden ein
Schild mit der Aufschrift „Reingefallen!“ stünde. Zusätzlich drängte sich ihr
der Gedanke auf, dass sie, wenn sie irgendwie fliehen müssten, den ganzen Weg
zurücklaufen mussten. Grauenvoll. Ihr wurde schon beim normalen Gehen in diesen
Kreisen schwindelig, wie sollte es ihr erst beim Rennen ergehen?
Plötzlich blieb
Johnny stehen, sodass Joséphine fast in ihn hineingelaufen wäre. Als sie
aufblickte, sah sie, dass die Wand links von ihr endete.
Sie hatten das Ende
der Schnecke erreicht, und die Mitte war nicht etwa von zehn Zentimeter großem
Durchmesser, sondern eher von zehn Meter großem.
„Woah“, entfuhr es Joséphine,
als die alles andere als das erblickte, was sie erwartet hatte. Es stand kein
Schild mit „Reingefallen!“ in der Mitte. Genau genommen bestand der Boden nicht
einmal aus trockener Erde, wie er es bis jetzt gewesen war, sondern aus
saftigem, grünem Gras.
Und die Kreisfläche
war auch nicht leer, nein. Etwa zwei Meter am Rand des Kreises wimmelte es nur
so von Bäumen. Es war ein richtiger kleiner Wald, im Kreis angelegt, die Stelle
ausgenommen, an der sie nun standen und von der sie in die Mitte des Kreises
gelangen konnten. Das Seltsame an diesem „Wald“ war, dass es nichts zu hören
gab – kein Geraschel der Bäume im Wind, keine Tierlaute. Und keine Farben – nur
Bäume. Buchen, Ahorn, Eichen. Alles, was nicht auf eine tropische Insel gehörte
und nicht im Geringsten zum Rest des Waldes auf dieser Insel passte.
Die Lichtung in der
Mitte des ansonsten bewaldeten Kreises war in helles Sonnenlicht getaucht, das
letzte Sonnenlicht des Tages. Es mochte schon wieder auf sechs Uhr abends
zugehen.
Joséphine war mulmig
zumute. Irgendetwas war hier falsch. Nicht nur das Offensichtliche, die
unnatürliche Stille und der unpassende Wald, sondern es lag auch etwas in der
Luft. Ein Hauch von… Gefahr?
Vermutlich war es
das. Sie spielte mit dem Gedanken, einfach umzudrehen.
Die anderen schienen
dasselbe zu denken, denn seit sie stehengeblieben waren, standen sie herum und
ließen die Eindrücke auf sich wirken.
Johannes drehte ihr
den Kopf zu. „Lass uns von hier verschwinden. Scheiß auf den Schatz.“
Sie nickte schon
zustimmend, doch Johnny meinte: „Leute, es wird bald dunkel. Wir haben einen
ganzen Tag dafür gebraucht, hier herzukommen. Ich werde nicht in der Nacht dort
zwischen den Wänden herumlaufen. Und schlafen tu ich dann doch lieber hier
statt dort.“
Da mussten Joséphine
und Johannes zustimmen, doch es änderte nichts am unguten Gefühl.
Vorsichtig näherten
sie sich durch den Gang zwischen den Bäumen der Lichtung in der Mitte und
blickten sich vorsichtig um. Von hier aus sah man den Eingang kaum vor lauter
Bäume.
„Wo hier ein Schatz
sein soll, weiß ich auch nicht“, meinte Johnny missmutig. „Aber falls uns
jemand belauschen will, werde ich ihn finden.“ Damit holte er einen seltsamen
Kasten mit einer kleinen Antenne aus seinem Rucksack. „Meine arme
Agentenausrüstung. Ich glaube, die hat noch mehr gelitten als ich. Das hier ist
übrigens ein hochmoderner Metalldetektor. Er spürt Wanzen, Abhörgeräte, Kameras
und Ähnliches auf. Alles, was metallisch ist.“ Er schaltete das Gerät ein und
drehte sich einmal im Kreis. Der Detektor blieb still.
„Hm“, brummte
Johnny. „Scheint alles ruhig zu sein. Der Wald ist also doch nur Wald.“
Als nächstes griff
er sich etwas aus dem Rucksack, das wie ein Fernglas wirkte. „Eingebaute
Wärmebildkamera“, erklärte Johnny seinen interessierten Zuschauern. „Damit ich
sehe, ob wir auch wirklich alleine sind. Ich habe keine Lust, im Schlafen
überfallen zu werden.“ Wieder drehte er sich einmal um sich selbst, dann nickte
er zufrieden. „Niemand zu sehen. Allerdings auch keine Tiere.“
Beruhigt atmete Joséphine
aus. Sie hatte schon Angst gehabt – dieser Ort war wirklich beunruhigend.
„Es wird dunkel“,
stellte Johannes ernüchternd fest. „Lasst uns ein Feuer machen, nachdem wir
letzte Nacht so unangenehm geschlafen haben.“
Ja, da stimmte Joséphine
zu. Sie fand, sie hatte es verdient, eine angenehme Nacht zu verbringen.
Erstens natürlich wegen der letzten Nacht im Halb-Stehen und versunken im
Matsch, und zweitens wegen der Tatsache, dass sie genau genommen am Ziel ihrer
Reise waren. Seit sie die Karte gefunden hatte, wollten sie hierher. Doch hier
war nichts, und das erinnerte Joséphine daran, dass sich die Schätzung zur
Länge ihres Aufenthaltes hier auf ein paar Jahre oder länger bezog. Außerdem
war Steffie ja nicht am Strand, um Hilfe zu holen, sondern…
„Johnny? Johnny!“ Er
war gerade zum Rand des schmalen Waldes gegangen und hatte zusammen mit Johannes
begonnen, Feuerholz zu sammeln.
„Ja?“, antwortete er
besorgt.
Sie ging aufgeregt
zu ihm hinüber. „Steffie wollte doch den kürzeren Weg hierher nehmen! Das
heißt, sie muss hier sein!“
Er runzelte die
Stirn. „Sicher ist sie schon wieder weg. Ich hab doch die Wärmebildkamera…“
Plötzlich leuchteten seine Augen auf, und er rief lachend in den Wald: „Komm
schon raus! Wir wissen, dass du da bist!“ Und im nächsten Moment trat eine
grinsende Steffie aus dem Wald, allerdings auf der anderen Seite des Kreises.
„Ta-daa“, rief sie und breitete die Arme aus.
Joséphine stürzte
auf sie zu und umarmte ihre Freundin. „Wie lief es so auf dem kürzeren Weg?“
Steffie runzelte die
Stirn. „Keinerlei Schwierigkeiten. Ich hab gerade mal einen Tag für den Wald
gebraucht, dann bin ich in der Nähe der Schlucht herausgekommen, bin auf meiner
Seite geblieben und hab nach einem weiteren Tag den Eingang zur Schnecke hier
gefunden. Ich verstehe also immer noch nicht, weshalb die Karte diesen
umständlichen Weg vorschreibt.“
„Das werden wir wohl
nie erfahren“, meinte Johnny. „Aber bau dein Zelt ab und geselle dich zu uns.“
Steffie grinste und
verschwand wieder im Wald. „Sie hat ein Strahlenabweisendes Zelt aufgebaut“,
erklärte Johnny seinen Begleitern. „Es ist ganz klein und handlich, aber
dadurch konnte ich sie nicht durch die Wärmebildkamera und den Metalldetektor
aufspüren. Es gehört zur Standartausrüstung der Geheimdienste, und eigentlich
hätte ich damit rechnen müssen.“
Sie begannen wieder
damit, Feuerholz zu sammeln. Nach ein paar Minuten kehrte Steffie zurück und
schloss sich ihnen an. Verwundert registrierte Joséphine, dass sie nicht einmal
nach Lixiti und Kabuki gefragt hatte – und dass sie es nicht als verwunderlich
anzusehen schien, dass der Koch mit leerem Blick umherstierte.
Sie gesellte sich zu
Steffie. „Lixiti und Kabuki sind tot.“
Steffie blickte sie
an. „Ich weiß. Trauer nicht um den Kleinen. Glaub mir, das ist nicht nötig.“
„Wieso?“
Doch Steffie blickte
nur geheimnisvoll. „Ich habe noch keine festen Beweise für meine neueste
Verschwörungstheorie, und glaub mir, bevor ich es nicht beweisen kann, willst
du sie gar nicht wissen.“
„Ähm… okay.“
Sie schichteten die
gesammelten Äste auf einen Haufen am Eingang und entzündeten das Feuer. Johnny
meinte, so würden sie es sofort merken, wenn sich jemand anschleichen sollten,
auch wenn es Nacht war. Er würde unweigerlich über sie hinweg laufen müssen.
Mittlerweile war es völlig dunkel, die schmale Mondsichel war hinter Wolken
verborgen.
Da es hier keinerlei
Tiere gab, mussten sie sich mit dem Essen von Pflanzen begnügen.
„Du Steffie, erzähl
mal deine Geschichte“, meinte Joséphine, als der Gesprächsstoff ausging.
„Na gut“, erwiderte
diese mit etwas grimmigem Gesichtsausdruck. „Nachdem ich euch verlassen hatte,
folgte ich dem Fluss bis zu einem großen See, der sich mitten im Wald befand.
Dort fand ich die Überreste eines alten Dorfes – es war menschenleer, und die
Hütten waren alle verbrannt. Außerdem fand ich ganze Haufen von menschlichen Knochen
dort. Plötzlich griff mich jemand von hinten an. Mithilfe meiner Kung-Fu-Künste
befreite ich mich und merkte, dass ich einem Kannibalen gegenüberstand. Ich
glaube, er wollte mich fressen, dabei hat er schon sein ganzes Dorf verputzt.
Jedenfalls, ich fesselte ihm die Arme und schleppte ihn mit. Ich hab ihn
außerhalb dieses Gebildes angebunden. Ja, ich weiß, das klingt unmenschlich,
aber man muss mit ihm wirklich umgehen wie mit einem bissigen Tier. Ich glaube,
ich nehme ihn mit nach Deutschland und erziehe ihn richtig. Und dann wird er
mein Sekretär oder so was. Er sagt die ganze Zeit nur „Jamdi! Jamdi!, also
nenne ich ihn auch so.
Nachdem ich ihn
gefunden hatte, liefen wir bis zum Ende des Waldes und trafen auf die Schlucht.
Wir blieben auf der nördlichen Seite und gelangten dann zum Eingang. Ich band
Jamdi an einen Busch… würde mich nicht wundern wenn er entkommen wäre, aber
diese Gegend ist nicht gerade reich an Vegetation… und betrat das hier. Ich
baute mein Zelt auf und verließ den Komplex wieder. Dann kehrte ich erst wenige
Stunden vor eurer Ankunft hierher zurück.“ Sie nickte nachdrücklich, zum
Zeichen, dass ihr Bericht zu Ende war.
„Aha“, meinte Johnny
schließlich. „Und hast du schon etwas von einem Schatz gesehen?“
Steffie schüttelte
den Kopf. „Wie gesagt, ich war nie lange hier. Lasst uns morgen gemeinsam
danach suchen.“
Damit waren alle
einverstanden, und sie legten sich früh schlafen.
Joséphine kuschelte
sich wieder an Johannes. Sie war unglaublich erschöpft, aber auch erleichtert.
Endlich war die Schatzsuche vorbei! Jetzt konnten sie endlich zum Strand laufen
und irgendwie Hilfe kontaktieren…
In dieser Nacht
schlug das Grauen zum dritten Mal zu.
*
Johannes atmete tief den Duft ihrer Haare ein. Joséphine
schlief schon fest, doch ihn hielten Gedanken wach. Tausend Fragen irrten durch
seinen Kopf, vor allem über seine Zukunft. Was wollte er? Was musste er? Er
begriff nicht eine einzige dieser Fragen, doch sie waren da und ließen ihn
nicht einschlafen, als seien sie körperlich anwesend und würden ständig um ihn
herumkriechen wie Dämonen aus der Hölle. Nicht einmal ein Schluck aus der
ekelhaften Flasche ließ ihn zur Ruhe kommen.
Plötzlich hörte er
ein dumpfes Pochen. Zwei Sekunden Stille, dann folgte noch sieben Mal dasselbe
Geräusch.
Johannes brach der
kalte Schweiß aus. Bildete er sich dieses Geräusch nur ein? War es einer der
anderen? Leider war der Mond, so schmal er auch sein mochte, hinter dicken,
dunklen Wolken verborgen, sodass er rein gar nichts erkennen konnte, aber er
glaubte sich zu erinnern, dass er auf dem Weg zum Rucksack mit den Flaschen an
vier Personen vorbeigekommen war. Was konnte das nur sein?
Zwei Sekunden nach
den ersten acht Pochern folgten die nächsten acht. Johannes erstarrte mit vor
Angst geöffneten Augen. Acht mal schnell hintereinander das Pochen, dann fünf
Sekunden Stille. Dann wieder. Und wieder. Und jedes Mal schien es näher zu
sein.
Johannes schloss die
Augen. Sollte er die anderen wecken? Sollte er sich demjenigen stellen, der da
mit seltsamen Geräuschen
Poch, Poch, Poch, Poch… Poch, Poch, Poch, Poch
ankam? Er hatte doch
keine Waffe! Und es war dunkel!
Er wagte sich nicht
zu rühren, aus Angst, die Aufmerksamkeit des Ankömmlings auf sich zulenken.
Normalweise hätte Johannes keine solche Angst, doch irgendetwas an diesem
Pochen ließ ihn schaudern – es war einfach falsch.
Und kam definitiv nicht von einem Menschen.
Von was dann? Von
einem Tier? Nein, dafür war es zu laut und zu unnatürlich. Von einer Maschine?
Aber Maschinen bestanden
Poch, Poch, Poch, Poch… Poch, Poch, Poch, Poch
aus Metall, und dieser Johnny hatte ja
mit seinem Metalldetektor herumgewedelt und dann gemeint, es sei nichts
Metallisches hier. Und sie lagen ja direkt vor dem Eingang, also konnte niemand
hineingelangt sein. Es musste etwas sein… das
schon da war, als sie ankamen.
Johannes schloss die
Augen und atmete tief ein. Im nächsten Moment überschlugen sich die Ereignisse.
Zuerst ertönte
wieder das Pochen, allerdings nicht nur acht Mal, sondern so oft und so schnell,
dass Johannes es gar nicht mehr zählen konnte. Im nächsten Moment ertönte so
etwas wie ein Fauchen, verdammt nah an seinem Ohr, das ihn zusammenzucken ließ
und alle anderen, die neben ihm lagen aufweckten. Und dann ertönte ein
gequälter Schrei desjenigen, der seit Tagen nicht mehr geredet hatte: Der Koch.
Noch immer war es
völlig dunkel, und Johannes konnte nur hören: Er hörte Joséphine aufschreien,
dann Geraschel etwas weiter hinten, ein ekelhaftes Reißen, ein grauenvolles,
gurgelndes Stöhnen, dann Schüsse, mindestens zehn. Und dann Stille.
„Verdammt!“, hörte Johannes
Steffie fluchen. „Johnny?“
Johnny antwortete.
„Ich bin hier. Was war das? Kannst du es sehen?“
„Nein, aber ich
glaube, der Koch ist tot. Ich höre ihn nicht mehr atmen. Und hier ist so viel
Blut.“
In diesem Moment
wichen die Wolken, und das spärliche Mondlicht überflutete die Lichtung. Es war
nicht hell, aber hell genug, dass Johannes genug sah, um sich übergeben zu
müssen.
*
Als Joséphine aus ihrer Ohnmacht erwachte, graute schon der
Morgen. Sie wagte es nicht, die Augen zu öffnen, sondern klammerte sich nur an Johannes,
in dessen Armen sie lag. Er war wach und streichelte beruhigend ihren Arm.
Schließlich ergab
sie sich und blickte sich um. Es war noch schlimmer als erwartet.
Gestern abends lagen
sie in einer Reihe vor dem Eingang. Johannes, dann sie, neben ihr Johnny,
daneben Steffie und neben ihr der Koch.
Jetzt lagen sie noch
immer so da, nur dass vom Koch nicht mehr als ein Haufen Blut und Knochen übrig
war. Joséphine übergab sich in die nächsten Büsche.
Neben der Leiche des
Kochs lag der Angreifer.
Es war eine
mindestens einen Meter hohe und drei Meter lange Spinne, deren mindestens zehn
Zentimeter dicken Beine in alle Richtungen abstanden. Im Chitinpanzer des unglaublich
großen Insekts waren zehn Löcher, aus denen eine ekelhafte, gelbe Flüssigkeit
quoll. Die hundert Augen der Spinne waren geöffnet und blickten drohend ins
Nichts.
„Ekelhaft“, murmelte
Johannes neben ihr. Sie blickte ihm ins Gesicht. „Wie konnte das passieren?“,
fragte sie. Dabei wusste sie es schon: Diese Spinne war eines der Monster, das
die Insel hervorgebracht hatte. Sie bestand weder aus Metall noch sonderte sie
irgendwelche Wärme ab – so konnten sie weder Johnny noch Steffie entdecken. Außerdem
hatte im Leben keiner mit einer Riesenspinne gerechnet. Wie auch.
Johannes antwortete
nicht auf ihre rhetorische Frage. In diesem Moment erwachte Steffie. Sie
blickte auf die beiden Kadaver, dann gähnte sie und streckte sich genüsslich.
Sie verpasste Johnny einen leichten Tritt in die Seite, der ihn weckte, und
schlenderte dann zu Joséphine und Johannes. „Guten Morgen“, meinte sie
gutgelaunt. „Ich glaube, ich habe jetzt die Beweise für meine
Verschwörungstheorie. Warten wir noch auf Johnny, dann kann ich sie euch
erzählen.“
Joséphine machte ein
böses Gesicht. „Wieso Verschwörung? Hier sind drei Menschen gestorben!“
Steffie lächelte
nur. „Darum geht es ja. Aber warte ab.“
Ein verschlafener
Johnny ließ sich neben Joséphine plumpsen. Auch er schien nicht beeindruckt zu
sein von den Toten neben seinem Schlafplatz.
Steffie verschränkte
geschäftsmäßig die Arme hinter dem Rücken. „Um genau zu sein ist es meine und
Johnnys Theorie. Ich fange am Besten ganz von vorne an.“ Sie räusperte sich.
„Es war Zufall, dass Johnny in deinem Flugzeug saß, Joséphine. Als es dann
jedoch abstürzte und ihr auf dieser Insel landetet, auf der ich mit Johnny
bereits im Einsatz war, rief er mich zur Unterstützung. Er fand die Sache
höchst verdächtig. Also ließ ich mich sofort hierherfliegen und sagte, ich
hätte euch durch Zufall gefunden. Die erste Beobachtung war, dass die Familie
seltsam war. Johnny fand das auch. Also beobachtete ich sie. Wisst ihr noch, am
Tag, an dem wir die Karte gefunden hatten? Die Familie wollte nicht, dass
jemand sie begleitete, als sie etwas zu Essen suchten. Ich sagte euch, ich
suche Feuerholz und folgte ihnen. Dann beobachtete ich sie dabei, wie sie den
Kaviar fanden – allerdings hinter ein paar Steinen versteckt und in
Plastiktüten verpackt. Jemand musste sie dort deponiert haben, der wusste, dass
wir dort vorbeikommen. Von da an wusste ich, dass die Familie nicht das war,
was sie zu sein schien. Das nächste war die Karte, die einen absolut
umständlichen Weg hierher zeigte. Ich
folgte dem kürzesten Weg und hiel die ganze Zeit über mit Funktelefonen Kontakt
mit Johnny. So wusste ich auch, dass die beiden gestorben waren. Allerdings
glaubte ich nicht, dass sie wirklich tot waren – es musste ein Plan dahinter
stehen. Erst dachte ich, die Familie wolle uns zum Schatz führen. Aber jetzt,
da alle drei tot sind, glaubte ich, dass jemand
uns zum Schatz führen will. Versteht ihr? Hier ist kein Schatz – es ist ein
Rätsel. Wir müssen das Rätsel lösen, um an den Schatz zu kommen. Und dieser
jemand schafft es nicht, also hat er die Familie als Schauspieler organisiert,
damit sie dich, Joséphine, zum Schatz führen. Ich glaube, es ist ein
elektronisches Rätsel, und wer als die Chefin von Microsoft könnte es lösen? Es
ist kein Zufall, dass du hier gelandet bist, Joséphine. Und die Familie ist
nicht tot. Ich habe mir gestern den Koch (oder was von ihm übrig ist) genauer
angesehen. Das ist kein Blut, genauso wenig wie der Rest von ihm mal ein Mensch
war. Das ist bloß etwas, das aussehen soll wie ein Mensch. Ich glaube, in der
Nacht wurde der Koch abgeholt und stattdessen diese Puppe dorthin gelegt – und
dieses Tonbandgerät.“ Sie hob ein blutiges Gerät hoch und drückte auf einen
Knopf. Leidende Schreie ertönten. Dieselben wie in der Nacht zuvor. „Da hört
ihr es. Die Spinne ist leider echt, doch sie wurde mit Honig angelockt, das auf
die Puppe gestrichen war, damit die Spinne auch nur den Koch angriff. Es muss
dem Jemand klar gewesen sein, dass ich und Johnny die Spinne sofort aufhalten
würden. Wir haben eigentlich genau so gehandelt, wie dieser Jemand es wollte –
außer, dass ich und Johnny seinen Plan durchschaut haben. Sein Ziel ist der
Schatz.“
Steffie ließ ihre
Theorie auf ihre Zuhörer wirken. Joséphine wollte es nicht glauben. Das Blut
sah zu echt aus. „Was ist mit Lixiti und Kabuki?“, fragte sie.
Steffie nickte. „Ich
glaube, dass es bei ihnen ähnlich war wie hier. Lixiti wurde vermutlich unter
Wasser gezogen und stattdessen wurde die Puppe mit dem Tonbandgerät in die
Fänge des Alligators gelegt. Vermutlich war das Tier nicht einmal echt. Und was
den kleinen Jungen angeht – auch er ist nicht tot, dessen bin ich mir sicher.
Aber wie sie das hinbekommen haben, das weiß auch ich nicht.“
„Das klingt ziemlich
weit hergeholt“, meinte Joséphine mit zitternder Stimme. Noch immer klang
Kabukis leidender Schrei in ihren Ohren nach, und sie schien seine vor
Entsetzen geweiteten Augen vor sich zu sehen, während sie machtlos zusehen
musste, wie er abstürzte.
Auch Johannes schien
noch nicht ganz überzeugt.
„Immerhin haben wir
den festen Beweis“, meinte Johnny. „dass der Koch hier nicht echt ist. Das
alles ist Kunstblut. Ne ganze Menge, aber trotzdem Kunstblut. Außerdem hat kein
Mensch eine Wattefüllung und ein Tonbandgerät im Bauch.“
„Eh… das will ich
mir nicht genauer ansehen. Aber ich glaube euch mal“, meinte Joséphine
unsicher. Sie wusste nicht, was sie glauben sollte – auch wenn es keinen Grund
gab, es zu bezweifeln.
Schließlich seufzte
sie. „Ich werde erst überzeugt sein, wenn ich sie lebend vor mir stehen sehe.
Aber lasst uns jetzt entweder abhauen oder den Schatz suchen.“
Johnny schüttelte
den Kopf. „Ich weiß nicht. Sollte es unseren geheimnisvollen Jemand wirklich
geben, ist es ja genau das, was er will: Den Schatz. Und wenn wir ihn finden,
wird er ihn uns irgendwie klauen. Sicher versteckt er sich irgendwo hier auf
der Insel. Außerdem wissen wir ja selbst nicht, wo er ist – ich werde sicher
nicht die Wieso umgraben, um ihn zu finden.“
Steffie nickt ernst.
„Es ist natürlich ein Rätsel. Niemand vergräbt einen Schatz einfach. Das muss
unser Jemand auch gewusst haben, sonst wäre das hier nur noch ein Haufen Erde.“
„Dann lasst uns
nachdenken“, meinte Joséphine, um sich von den Kadavern abzulenken. Warum
schafften die anderen ihn nicht einfach fort? Sicher begannen sie allmählich zu
stinken – nein, Moment: Der Kadaver.
Das andere soll ja angeblich eine…Puppe
sein. Bäh.
„Gut“, meinte
Steffie. „Nehmen wir an, der Schatz ist nicht im Boden. Wo kann er sonst sein?
In der Wand? Woraus besteht sie?“
Johnny lief in den
Wald neben ihm. Auch wenn dieser nur aus zwei Metern Bäumen besteht, wurde
Johnny sofort von ihnen verschluckt. Ein Gong ertönte, dann ein Fluchen.
Johnny kehrte
zurück. „Die Wand besteht aus Metall! Wieso hat mein Detektor das nicht
begriffen?!“
Steffie machte ein grübelndes Gesicht. „Es
muss ein neuwertiges… Johnny!“ Ihr Gesicht strahlte. „Das ist es! Das Metall,
das wir damals gesucht haben – es ist nicht unter
der Insel, sondern hier! In den Wänden! Und es scheint eine Strahlung zu
haben, dass man es nicht aufspüren kann!“
Johnnys Kinnlade
fiel herunter, als er es begriff. Ja, es konnte gar nicht anders sein! Und
vermutlich haben es die Ureinwohner zu dieser Wand geformt, oder andere
Zivilisationen.
„Wir müssen an der
Wand suchen“, ereiferte sich Johannes. „Vielleicht ist irgendwo ein Hohlraum,
der den Schatz versteckt!“
„Ja!“, Johnny
grinste über das ganze Gesicht. „Wir teilen uns auf zwei. Du und Joséphine, ihr
geht vom Eingang aus nach links, ich und Steffie nach rechts. Wenn ihr etwas
Ungewöhnliches entdeckt, ruft!“
Schon waren die
beiden verschwunden, und Joséphine blickte sich ängstlich um. „Was, wenn es
noch mehr Riesenspinnen gibt?“ Johannes warf sich in die Brust, was ihn
lächerlich wirken ließ, und sagte: „Ich beschütze dich!“, was ihn noch
lächerlicher machte. Joséphine schnaubte amüsiert. Sollte diese Situation
eintreten, wäre es wohl andersherum.
Sie betraten den
Wald und gelangten an die weiß verputzte Wand. Joséphine kratzte mit einem
Fingernagel daran herum und bemerkte erstaunt, dass die weiße Schicht
tatsächlich abging und dass darunter ein rötliches Metall zum Vorschein kam.
Dies war also der stärkste Punkt der Auswirkungen. Hier waren die Mutationen am
größten. Kein Wunder, dass die Spinne hier so groß war. Ekelhaft.
Sie liefen weiter,
und Joséphine ließ ihre Hand an der Wand entlangstreifen. So weit sie sehen
konnte war nichts als glatte Wand. Plötzlich spürte sie ein paar Unebenheiten,
und als sie stehenblieb und sich die Wand näher betrachtete, sah sie ein Rechteck,
das um ein paar Millimeter aus der Wand herausstach und etwa dreißig Mal
zwanzig Zentimeter groß war. „Johnny! Steffie!“, rief Johannes. „Ich glaube,
wir haben es!“
Die beiden kamen
angerannt und betrachteten das Rechteck. „Könnte sein“, murmelte Johnny.
Gemeinsam begannen sie, das Rechteck freizukratzen, wobei so einige Fingernägel
daran glauben mussten. Am Ende hatten sie ein bronzenes Rechteck vor sich, das
aussah wie ein Safe ohne Zahlenschloss. Kein Weiterkommen. „Verdammt“, fluchte
Steffie.
„Alle weg!“, rief
Johnny. Dann nahm er seine ungefährliche Waffe und feuerte mindestens fünf
Kugeln ab. Sie blieben einfach stecken, doch mehr brachte es auch nicht.
„Das hast du toll
gemacht“, meinte Steffie.
Er schmunzelte. „Ich
verbiete mir diesen sarkastischen Unterton. Aber mach’s besser.“
Steffie untersuchte
das Rechteck genau. „In den Ecken befindet sich jeweils ein stecknadelgroßes
Loch…“
„Das bringt uns
nicht weiter“, knurrte Johnny. „Lass uns auf unserer Seite noch einmal genauer
schauen! Ihr beiden bleibt hier.“
Und damit
verschwanden Johnny und Steffie.
Johannes drehte sich
zu Joséphine um und räusperte sich. „Äh… da gibt es etwas, das ich dir schon
lange sagen wollte.“ Ah, dachte Joséphine. Endlich. „Ich… äh… weißt du… na ja
also wir kennen uns ja jetzt schon eine Weile, und eigentlich hab ich dich ganz
gern, und da wollte ich fragen… ach verdammt. Ich liebe dich. Willst du mit mir
zusammen sein?“
Joséphine verkniff
sich ein Lachen. „Es ist neutral.“
„Hä?“
„Das heißt ja,
verdammt!“ Und damit stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf
den Mund.
In diesem Moment
kehrte Johnny zurück und brach bei ihrem Anblick in solches Gelächter aus, dass
er fast am Boden lag. Auch Steffie ging es nicht besser.
„Irgendwas gefunden?“,
fragte Joséphine missmutig.
„Ja“, grinste
Steffie. „Euch, knutschend. Aber ansonsten… das hier.“ Sie hielt Joséphine ihre
Hand hin. Darin lagen vier Nadeln. „Die sind auf der gegenüberliegenden Seite
von hier in der Wand gesteckt und haben ein Viereck gebildet. Ich denke, es ist
klar, was wir damit sollen.“
Das war es
allerdings. Steffie gab jedem eine Nadel, und sie steckten sie gleichzeitig in
die winzigen Löcher in der Wand.
Vier mal
nacheinander ertönte ein kaum hörbares Klicken. Dann begann sich das Viereck
aus der Wand zu schieben.
„Krass“, meinte Johannes,
als ihm der Quader vor die Füße fiel. Er war nur etwa fünf Zentimeter dick und
enthüllte einen Hohlraum mitten in der Wand.
„Wow, seht euch
diese Technik an“, raunte Johnny. „Und das alles ohne Strom.“
„Jaja“, meinte
Steffie. „Die Funktion von dem Ding können wir später testen. Aber vielleicht
habt ihr gemerkt, dass der Hohlraum leer ist?“
Das war er
allerdings. Doch Joséphine schob sich vor. „Ich wette, der Schatz ist da. Entweder
links, rechts oder unter diesem Hohlraum. Vermutlich soll das einen nur in
Verwirrung führen. Also…“ Sie tastete mit ihrer Hand an den Wänden herum, bis
sie eine kleine Erhebung fühlte. Sie grinste. „Na also“, murmelte sie, während
sie auf die Erhebung drückte. Sie befand sich auf der rechten Seite.
Die rechte Wand
schob sich nach oben. Von der Seite konnte Joséphine sehen, dass die Wand einen
neuen Hohlraum enthüllt hatte – und darin lag ein dicker, brauner Beutel.
Joséphine steckte
mit glitzernden Augen die Hand in den zweiten Hohlraum und holte den Beutel
heraus. Sie scharten sich alle um sie, als sie ihn öffnete.
Darin lagen…
violette Edelsteine!
„So was habe ich ja
noch nie gesehen!“, rief Johnny. „Das muss eine neue Entdeckung sein! Sicher
sind sie mehr wert als alle anderen Edelsteine der Welt…“ Auch seine Augen
glitzerten jetzt.
„Ich würde sagen…“,
mischte sich Johannes ein. „…bevor wir damit beginnen, uns darum zu streiten,
einigen wir uns darauf, ihn auf vier zu teilen. Okay?“
Damit waren alle
einverstanden, denn jeder von ihnen wusste, dass es früher oder später zum
Streit kommen würde – das lag in der Natur von Schätzen.
„Also gut. Mission
erfüllt, lasst uns von hier verschwinden!“, rief Steffie.
Gemeinsam machten
sie sich auf den Weg, nahmen unterwegs ihre zerschlissenen Rucksäcke auf und
ignorierten den Kadaver der Spinne und die Puppe, die den Koch darstellte.
Wieder verging ein
ganzer, langweiliger Tag auf dem Weg nach draußen. Die Schnecke war wirklich
gigantisch, und bald war jedem vom Laufen im Kreis schwindlig.
Den Schatz, diesen
unauffälligen, braunen Beutel, trugen sie abwechselnd. Die ersten drei Stunden
war es Joséphine, die nächsten drei Stunden Steffie, die danach Johnny, und
jetzt, als sie aus dem Gebilde austraten, trug ihn Johannes gerade seit zwei
Stunden.
„Ah, Freiheit“,
murmelte Joséphine und ließ sich den Wind übers Gesicht fahren. Das Wetter war
normal, es war eine angenehme Temperatur, und die leichte Brise, die wehte, war
sehr angenehm.
Der Plan war, Jamdi
zu suchen und sich dann auf den Weg nach Norden zu machen, bis sie auf das Meer
stießen. Dort sollte sie dann ein Helikopter abholen, den Steffie per Funk
bestellt hatte. Joséphine ärgerte sich noch immer, dass dies nicht früher
geschehen war. Sie hätte sich all das Leiden hier ersparen können! Doch genau
so wütend war sie auf Johnny, denn der hatte auch die ganze Zeit ein Funkgerät
in seinem Rucksack gehabt.
In diesem Moment
hörten sie es: Die Rotoren eines Helikopters.
*
Johannes wechselte den Beutel auf die andere Schulter.
Allmählich wurde er wirklich lästig. Aber eigentlich hatte er nichts dagegen,
Steine im Wert von Billiarden Euro auf der Schulter zu schleppen.
Als er das
Rotorengeräusch hörte, atmete er erleichtert aus. Steffie hatte zwar gesagt,
dass der Helikopter erst morgen käme und zwar am nördlichen Strand, aber er
hatte wirklich nichts dagegen, schon jetzt auf dem Heimweg zu sein. Der Pilot
musste wohl früher Zeit gehabt haben.
„Das ist nicht der,
den ich bestellt habe“, meinte Steffie. „Wer kann das sein?“
Johannes ignorierte
sie. Er war reich! Er konnte es gar nicht mehr erwarten, sich eine schicke
Villa am Meer… nein, bloß nicht am Meer. Ganz weit in den Gebirgen von
Amerika!... zu kaufen und es sich gut gehen zu lassen!
Am Horizont kam ein
kleiner schwarzer Punkt in Sicht. Das Rotorengeräusch wurde ständig lauter.
„Komm schon, Leute.
Ich weiß, dass es verlockend ist, aber wir dürfen uns nicht sehen lassen! Wir
müssen uns verstecken!“
„Ja“, stimmte Johnny
zu. „Das kann niemand Gutes sein. Unser Helikopter ist es nicht, und wer sonst
könnte es sein, wenn nicht der geheimnisvolle Jemand?“
Johannes warf ihm
nur einen genervten Blick zu. Diesen „Jemand“ gab es doch nicht!
Oh Mann, und jetzt
fing auch Joséphine noch an. „Gut, wir verstecken uns.“
Mittlerweile war der
Helikopter rasant näher gekommen. Die anderen zogen sich zurück, doch Johannes
runzelte die Stirn. Was für Weicheier! Er würde auf jeden Fall in diesen
Helikopter einsteigen.
„Johannes! Komm schon!“,
rief seine Traumfrau, und fast hätte er nachgegeben, nur um bei ihr zu sein.
Stattdessen, versuchte er es wie sie: „Joséphine! Komm her! Wir können mit dem
Ding heimfliegen!“
Sie schüttelte den
Kopf, doch antwortete nicht. Das Rotorengeräusch war schon zu laut. Der
Helikopter schwebte über ihnen. Ein Lautsprecher oben wurde eingeschaltet, und
eine Stimme rief: „Wir sind von der Küstenwache. Wir sind hier, um ihnen zu
helfen. Wir werden jetzt eine Strickleiter hinunterlassen, und sie können daran
heraufklettern!“
Aha, cool, wie in
den Filmen! Nice.
Die Strickleiter
wurde heruntergelassen, und Johannes sah, wie Steffie mit bösem Blick auf ihn
zurannte. „Geh weg da, Mann! Das ist eine Falle!“
Ah, endlich konnte
er ihr eins auswischen. Sie stand doch sowieso die ganze Zeit zwischen ihm und Joséphine.
Er konnte sie wirklich gar nicht leiden.
Die Strickleiter
fiel vor sein Gesicht, und er griff mit einer Hand danach. In der anderen hielt
er den Beutel. Er hätte ihn einfach in den Rucksack packen sollen.
Sein Fuß erreichte
die erste Stufe, und er klammerte sich mit den Händen an die Leiter. Steffie
hatte ihn fast erreicht, doch Joséphine stand noch immer dort.
Egal. Er würde dem
Piloten sagen, es soll sie später abholen. Jetzt wollte er erst einmal wieder
auf einem gemütlichen Sitz sitzen.
Steffie erreichte
ihn gerade, da wurde die Leiter eingezogen und sie griff ins Leere.
„Johannes, du
Dummkopf! Es ist eine Falle! Lass den Schatz los!“
Doch er hörte nicht
auf sie und lachte sie aus. Der Schatz war sein!
Plötzlich traf ihn
etwas am Arm, und vor Schmerz ließ er den Schatz fallen. Autsch!
Er wollte
hinunterspringen, um ihn wieder zu holen, doch er war schon zu weit oben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Ich freue mich über jeden Kommentar! ;)