Dienstag, 16. Februar 2016

Die unendliche Geschichte von Joséphine und Johannes: Teil 2 - Das Grauen




Der Wind wehte leise. Joséphine konnte es hören. Es hörte sich an wie ein gleichmäßiges Rauschen… nein. Es war irgendwie… stoßartig. Wie… Atem? Und ein Gurgeln, ein undefinierbares Gurgeln. Woher kamen diese Geräusche? Gerade eben war es noch so friedlich gewesen, so still, so schwerelos.
  Die Geräusche wurden lauter. Diesmal hörte es sich an wie ein Luftballon, der aufgeblasen wird.
  Regelmäßig, wie Atemzüge. Tshhh… tshhh… tshhh…
  Und das Gurgeln. Wie Wasser am Boden des Luftballons.
  Viel Wasser.
  Wieso waren diese Geräusche da? Es klang so sehr nach Leben. Zu sehr. Und sie war doch schon tot. Sie wollte zurück in die Stille! Wer brauchte schon Leben?
  Marie.
  Marie?
  Wer war Marie?
  Was tat dieser Name in ihrem Kopf, der hätte leer sein müssen?
  Irgendwie berührte dieser Name etwas in ihr. Wie konnte das sein? Sie sollte nichts mehr fühlen! Sie sollte nichts mehr denken! Sie sollte in der beschützenden, friedlichen Leere des Todes schweben.
  Marie.
  Marie…
  Marie!
  Mit einem Ruck setzte Joséphine sich auf. Etwas knallte gegen ihr Gesicht und verschwand dann fluchend wieder. Sie holte tief Luft, öffnete ihre Augen und…
  Feuer!
  Feuer!
  Ihre Lunge brannte, und sie hustete, hustete, hustete. Und ihre Augen waren zu, es war zu hell. Das Feuer? Nein, da war kein Feuer. Es war nur in ihrer Lunge…
  Gefühlte fünf Minuten saß Joséphine da und hustete Liter von Wasser aus. Mit einem Schlag war alles da: Der Flugzeugabsturz, der Sprung, das Glück, das sie gefühlt hatte, als sie den alten Mann angegrinst hatte, und der Horror, als sie unter der Plane gefangen war. Und der Tod.
  Der Tod…
  Das süßeste aller Erlebnisse. Frieden, Ruhe, Vergessen. Wäre nicht Marie gewesen, der Name ihrer Schwester, die sie über alles liebte, wäre sie vermutlich noch immer dort. In der unendlichen Schwärze des Friedens.
  Joséphine atmete röchelnd ein. Es schmerzte, als hätte sie den ganzen Tag geschrieen. Auch ihre Augen brannten. Sie spürte ihre nassen Kleider, die ihr unangenehm am Körper klebten, und den feinen Sand an ihren Armen und Beinen. Sie spürte Wärme von oben, die Sonne, und den sanften Wind, der sie streichelte, sie entspannte und ihr das Gefühl eines Sommerferien-Ausflugs gab.
  Sie behielt die Augen geschlossen, atmete, hörte zu. Neben ihr war leises Gemurmel zu vernehmen.
  „Sie hat mir die Nase gebrochen!“ Ein Mann.
  „Seien Sie still und freuen sich lieber, dass Sie sie gerettet haben!“ Wieder ein Mann, ein anderer.
  Sie ignorierte die Stimmen und konzentrierte sich aufs Atmen. Es wurde allmählich leichter, schmerzfreier. Ihr war klar, dass sie irgendwie und von irgendwem aus dem Wasser gerettet wurde und nur knapp überlebt hatte. Sie waren irgendwo gestrandet, wohl kein Festland. Denn sonst läge sie schon längst in einem Auto auf dem Weg ins Krankenhaus.
  Sie viel konnte ihr trüber Verstand sich noch zusammenreimen. Und sie wusste, sie würde die Antworten auf ihre Fragen bekommen, würde sie die Augen öffnen.
  Aber noch nicht.
  Erst nach zehn Minuten fühlte sie sich etwas besser. Hörte sie da etwa das Flackern eines Feuers? Wieso lag sie nicht dort? Allmählich wurden ihre nassen Kleider nervig.
  Sie setzte sich vorsichtig auf, die Augen noch immer geschlossen. Das Gemurmel verstummte. Sicher gab sie ein Bild ab wie eine Mumie, die gerade aus dem Grab erwachte, auch wenn die Umgebung etwas unpassend sein dürfte. Aber warum nicht?
  Sie öffnete die Augen einen Spalt breit. Helles Tageslicht fiel hinein und blendete sie nach den scheinbar ewigen Stunden in der undurchdringlichen Schwärze des Todes. Bald sah sie Genaueres: Ein strahlend hellblauer Himmel, feiner Sand, grüne Palmen, die sich im leichten Wind wiegten. Vor ihr zwei Männer, die sie schnell wiedererkannte: Der unglaublich gutaussehende Mann von vorhin und der alte Mann. Etwas weiter entfernt ein gigantisches Feuer. Alles war in helles Sonnenlicht getaucht.
  Erfreut über den schönen Anblick öffnete sie die Augen ganz.

*

Der Mann beobachtete grimmig, wie die hübsche Frau ewig liegen blieb, während er sich mit dem zynischen alten Mann stritt. Dann sah er ihr dabei zu, wie sie sich langsam aufsetzte, wobei sie aussah wie eine Mumie, da sie die Augen geschlossen hielt. Dann öffnete sie sie und strahlte übers ganze Gesicht.
  Und was war mit seiner Nase? Gerade hatte er noch eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchgeführt, da sie ihm zu schön zum Sterben war, und dann sprang sie auf, brach ihm die Nase und legte sich einfach wieder hin? Und jetzt beachtete sie ihn nicht einmal! Wie wäre es mit einem einfachen „Entschuldigung“? Er starrte sie böse an.
  Trotzdem kam er nicht umhin, sich selbst für den Erfolg seiner Behandlung zu beglückwünschen, und auch der alte Mann warf ihm einen wohlwollenden Blick zu.

*

Joséphine blickte sich etwas genauer um. Jetzt, da sie die Augen ganz geöffnet hatte, konnte sie das ganze Ausmaß der Schönheit erkennen. Sie saß am Ufer des Meeres, gerade so weit entfernt, dass die gierig Leckenden Fluten sie nicht erreichen konnten. Der Strand selbst war der feinste Sand, den sie je gesehen hatte. Der Strand war etwa zwanzig Meter breit, nicht viel, und endete in einem dichten Wald aus Palmen. So einen dichten Palmenwald hatte Joséphine nicht nie gesehen. Sie sah auch Lianen, und fremdartig aussehende Bäume. Das hier war ganz eindeutig ein Djungel.
  Als sie sich vollgesogen hatte mit der Schönheit, blickte sie ihre Retter an. Auch ihnen klebte die Kleidung am Körper und betonte ihre Muskeln. Beide hatten einen überaus ansehnlichen Körper. Dem unglaublich gutaussehenden Mann von vorhin klebte außerdem das braune Haar platt am Kopf, während die grauen Haare des alten Mannes das Wasser abperlten. Ob das bei älteren Leuten immer so war? Bekamen sie wasserabweisende Haare? Bei ihren eigenen Großeltern hatte sie das nie bemerkt, und sie hatte schließlich vier davon.
  Die Gedanken über das Aussehen ihrer Begleiter ließen sie an sich selbst herunterschauen: Ihr weißes, etwas durchscheinendes Top klebte ihr am Körper, man konnte deutlich den schwarzen BH sehen. Der Shorts ging es auch nicht besser. Hmpf. Wenigstens machte ihr as nichts. Sie brauchte sich nicht ihres Körpers wegen zu schämen! Außerdem war sie gerade dem Tode entronnen, und außerdem hoffte sie, man konnte trotz des auf dem Rücken klebenden Sandes ihres Drachen sehen. Als sie aufstand, wischte sie unauffällig ein paar Mal über ihren Rücken. Ihre Beine zitterten ein wenig.
  Sie warf einen Blick auf den unglaublich gutaussehenden Mann von vorhin, der sie weiterhin böse anstarrte. Seine Nase war lila und geschwollen. Was hatte er denn da gemacht? Sie schüttelte in Gedanken den Kopf über ihn und grinste ihn an.
  Die Härte wich aus seinem Blick und er grinste sie ebenfalls an, während er sich aus seiner Hockstellung erhob. Er hatte fast gänzlich schwarze Augen, wie Joséphine auffiel. Sie fragte sich, warum sie darauf achtete. Auf diese Frage kam die Feststellung, dass sie diese Augen kannte. Und natürlich das passende Gesicht dazu. Ob er ein Schauspieler war, der in einem Film mitgespielt hatte, den sie vor ewigen Jahren mal gesehen hatte? Sie beschloss, ihn später danach zu fragen.
  „Geht es Ihnen gut?“ Die Frage ließ Joséphines Blick zum alten Mann wandern. Er trug seine Sonnenbrille (ganz ehrlich, allmählich fragte sich Joséphine, ob er sie nicht vielleicht festgeklebt hatte, mit Sekundenkleber oder so was. Das war ja abnormal, wie lange er sie auf der Nase behalten konnte!), und Joséphine nickte.
  „Ich glaube, ich war in der Zwischenwelt oder so“, erzählte sie. „Es war fast so schön wie hier.“
  „Wie sah es denn dort aus?“, fragte der unglaublich gutaussehende Mann von vorhin neugierig.
  Joséphine zuckte mit den Schultern. „Es war nur Schwarz, und ich schwebte darin. Aber das wirklich schöne war eben das Gefühl von Frieden, und diese Losgelöstheit.“
  Er schaute sie nur an, als sei sie verrückt – wie konnte man endlose Schwärze mit diesem malerischen Strand vergleichen? – und nickte dann abschließend, damit sie bloß nicht auf die Idee kam, weitere Verrücktheiten zu erzählen.
  „Gehen wir zu den anderen“, meinte der alte Mann und deutete auf das Lagerfeuer. „Ich bin dafür, dass wir uns trocknen lassen und eine kleine Vorstellungsrunde machen.“
  Erst jetzt erinnerte Joséphine sich wieder an „die anderen“. Der Mann mit seiner Frau und dem Kind! Sie saßen auf der anderen Seite des Feuers, und da es wie erwähnt wirklich gigantisch war, hatte Joséphine sie erst gar nicht erkannt. Aber jetzt sah sie sie: Drei unbewegliche Schatten hinter dem Rauch. „Tun wir das“, stimmte sie dem Vorschlag des alten Mannes zu. Sie brannte darauf zu erfahren, wer ihre geheimnisvollen Mitleidenden waren.
  Als sie auf die drei zugingen, konnte man sie besser erkennen: Sie waren Asiaten, in gewöhnliche Klamotten gekleidet. Der Mann grinste ihnen schon erwartungsvoll entgegen, der kleine Junge mit großen, neugierigen Augen, und die Frau mit fast schon feindselig-bösem Blick. Joséphine wollte nicht rassistisch denken, aber sie fand, dass alle drei aussahen wie die reinsten Klischee-Asiaten. Außerdem hatte keiner von ihnen ein besonderes Merkmal. Sie wirkten unscheinbar und unauffällig, alle drei.
  Joséphine und die beiden Männer setzten sich zu der Familie (denn um eine Familie handelte es sich offensichtlich). Der Mann grinste noch immer, als würde er gleich platzen wollen, sagte aber nichts. Joséphine beugte sich zum alten Mann hinüber. Dabei fragte sie sich, ob ihm in seinen langen Hosen und seinem Rollkragenpullover nicht warm war. „Wieso sind sie eigentlich nicht halb verreckt?“
  Und er antwortete lachend: „Ich habe es vorgezogen, so zu landen, dass sich mein Fallschirm nicht über mir ausbreitet! Und so was sollte man doch wissen, wie das geht…“ Er bedachte sie mit einem gespielt tadeligen Blick, und ihre Wangen röteten sich ein wenig. Sie fühlte sich schuldbewusst, obwohl sie es wirklich nicht gewusst hatte und eigentlich er sich schuldig fühlen sollte, dass er sie nicht gewarnt hatte.
  „Und wo kommt er plötzlich her?“ Sie deutete auf den unglaublich gutaussehenden Mann von vorhin, der mit seiner gebrochenen Nase beschäftigt war. Er richtete sie gerade, damit sie nicht allzu krumm wieder zusammenwachste. Das letzte Mal hatte sie ihn eigentlich im Flugzeug gesehen, als er in die erste Klasse gestürmt war.
  Der alte Mann zuckte die Schultern. Seine Sonnenbrille rutschte ein wenig vor, und er schob sie eilig wieder zurück. Also war sie doch nicht festgeklebt. „Ist uns einfach hinterher gesprungen.“
  Joséphine nickte bedächtig. „Der dritte Fallschirm.“
  „Exakt.“
  Plötzlich erhob sich der grinsende Mann und verbeugte sich tief. Dann begann er, zu sprechen. Mit einem äußert chinesischem Akzent, das heißt, er sprach alle r’s wie ein l aus. „Wil sind ihnen sehl dankbal, dass sie uns die Möglichkeit zul Flucht geboten haben. Wil wissen, welche Unannehmlichkeiten wil velulsacht haben, und wil stehen bei ihnen in glößtel Schuld.“ Frau und Kind nickten nachdrücklich. „Mein Name ist Kadongxi Wong, abel alle nennen mich den Koch, weil ich beluflich Koch bin. Und natüllich welde ich mich fül die Dauel unseles Aufenthaltes hiel um das Essen kümmeln. Dies sind meine Frau Lixiti Wong und mein 8-jähligel Sohn Kabuki Wong.“ Wieder nickten Lixiti und Kabuki nachdrücklich. Niedliche Namen, fand Joséphine. Der Koch setzte sich.
  Nun erhob sich der alte Mann, und der unglaublich gutaussehende Mann tat es ihm gleich, also stand auch Joséphine auf. Der alte Mann begann zu reden. „Wir danken ihnen für die Höflichkeit, die sie uns entgegenbringen. Es wäre ungünstig gewesen, wenn wir in Streitigkeiten leben müssten.“ Ernickte Joséphine zu, ein Zeichen, dass sie sich vorstellen sollte.
  Sie schluckte und hob dann mutig das Kinn. „Mein Name ist Joséphine Princet, und ich bin Leiterin des weltweit führenden Konzerns für Computerwissenschaft, auch bekannt als Microsoft Productions.“ Sie nickte und setzte sich wieder möglichst nah ans Feuer. Sie hatte es einfach nicht lassen können, ein wenig mit ihrer Stellung anzugeben.
  Sie registrierte einen entsetzten Blick des unglaublich gutaussehenden Mannes von vorhin und schob ihn auf die Tatsache, dass sie ein so hohes Tier war. Manche Leute konnten so was ja nicht leiden.
  Der alte Mann verpasste ihm unauffällig einen Tritt und er riss seine Augen von ihr los.
  Dann stellte er sich vor. Joséphines Magen flatterte vor Aufregung, und dann… dann sprach er seinen Namen aus. Und plötzlich war es Joséphines Herz, das flatterte.
  „Mein Name ist Johannes Dinger. Ich komme aus San Francisco und habe eine gebrochene Nase.“
  Er setzte sich wieder, wobei er stur nach unten blickte. Vielleicht wollte er sich den Anblick von Joséphines offenem Mund ersparen. Denn so sah sie aus: einen ungläubigen Ausdruck auf dem Gesicht. Und zwar, weil sie sich erinnerte.
  Johannes! Johannes Dinger! Oh, wie hatte sie ihn gehasst in der Schule. Acht verdammte lange Jahre waren sie zusammen auf dem Gymnasium gewesen, und im Abitur war er sogar um eine halbe Note besser gewesen, obwohl sie eine 1,0 hatte. Ihr Leben lang hatte sie ihn gehasst, gehasst, gehasst!
  Doch wie stand es nun um sie? Er sah unglaublich gut aus, und bis auf den Namen hatte sie noch keine Verbindung zum alten Johannes gefunden. Vielleicht konnten sie einen Neuanfang wagen und Freunde werden?
  Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als der alte Mann Anstalten machte, sich vorzustellen. Und wer er war, darauf war Joséphine wirklich gespannt.
  Der alte Mann räusperte sich und nestelte nervös an seiner Sonnenbrille herum. „Ich habe um ehrlich zu sein keine Vorstellung zu machen, sondern eher ein… Geständnis.“ Er holte tief Luft, dann hob er seine Hand, führte sie zum langen Bart – und riss ihn ab! Darunter kam makellose, gebräunte Haut zum Vorschein. Joséphine verstand nicht, warum es sich hierbei um ein Geständnis handeln sollte. Er hatte nun eben doch keinen Bart – na und?
  Doch er war noch nicht fertig: Er ließ den falschen Bart auf den Sand fallen, dann hob er erneut die Hand und zog seine Haare vom Kopf. Eine Perücke! Darunter quollen seidige, schulterlange braune Haare hervor. Nun ging Joséphine das Licht auf, weshalb ihr der alte Mann so gar nicht alt vorgekommen war.
  Nun schob er die Ärmel seines langen Rollkragenpullovers nach oben, und Joséphines sah die Tattoos, die sie bereits tausend Mal gesehen hatte.
  Und dann, als er seine Sonnenbrille von den Augen zog und Joséphine aus spitzbübisch lächelnden, haselnussbraunen Augen ansah, gab es für sie gar keinen Zweifel mehr, dass sie Johnny Depp gegenübersaß.

*

Johannes saß missmutig am Feuer, hörte gar nicht mehr zu, als der alte Schwachkopf sich vorstellte. Er dachte nur an sie: Joséphine.
  Joséphine! Joséphine Princet! Wie hatte er sie geliebt! Acht wundervolle Jahre waren sie gemeinsam im Gymnasium gewesen, und er hatte jeden einzelnen Tag geliebt wie ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte, an dem er ihre wundervolle Stimme hören und ihr perfektes Gesicht und ihre fluffigen Haare sehen konnte. Natürlich hatte er diese Gefühle versteckt, denn er war schließlich ein Mann. Und nach dem ABI hatte er sie nie wieder gesehen, und schließlich wohl vergessen. Und nun war sie hier. Oh, Joséphine!
  Als sie aufschrie, blickte er erschocken auf und sah Johnny Depp ins grinsende Gesicht.

*

Joséphine stieß einen Schrei der Überraschung aus, bevor sie mit offenem Mund ihren Lieblingsschauspieler anstarrte. Johnny Depp! JOHNNY D-E-P-P! Neben ihr!
  Und so… normal. So… menschlich. Joséphine musste sich eingestehen, dass sie ihn sich als… irgendetwas Übernatürliches vorgestellt hatte, wie Stars nun mal den Effekt auf ihre Fans haben. Nichts göttlich strahlendes natürlich, sondern eine Ausstrahlung, die sofort alle Blicke auf sich zog.
  Aber wie er dort stand – gutaussehend, charmant, doch eindeutig ein normalsterblicher Mensch – mochte sie ihn noch lieber als vorher. Dennoch, sie konnte sich nicht zusammenreißen, und ihr Mund stand noch weit offen. Erst als sie Johnny Depps gequälten Gesichtsausdruck sah, war sie rücksichtsvoll genug, ihn zuzuklappen. Johnny Depp! Er war es wirklich! Nett war er, und sah tausendmal besser aus als in jedem seiner Filme.
  Sie bemerkte, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren – anscheinend war keiner der anderen ein sonderlich großer Johnny-Depp-Fan –, wurde vor Verlegenheit rot und räusperte sich.
  Da lächelte Johnny Depp ihr freundschaftlich zu und Joséphine wurde klar, dass er nun auch nicht anders war als vorhin, als er noch aussah wie ein alter Mann. Er war immer noch dieselbe Person, und den alten Mann hatte sie auch vorher schon gemocht. Dass Johnny Depp nun aussah wie Johnny Depp veränderte natürlich etwas, aber das heißt nicht, dass er etwas Besseres war.
  Er wandte sic h wieder der Familie zu. „Liebe Familie Wong, ich freue mich sehr, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich nehme an, wir sind mit der Vorstellungsrunde durch?“
  Gerade, als er diesen Satz beendet hatte, knackte vor ihnen im Wald ein Ast, und alle zuckten zusammen, sogar die sonst reglose Frau, Lixiti. Sekunden darauf trat eine Person aus dem Wald.
  Steffie.
  Sie grinste breit, als sie die überraschten Gesichter sah. „Hi, José!“ Sie begrüßte ihre Freundin. „Ich hab den Funkruf des Flugzeugs mitbekommen und dachte natürlich sofort, dass du darin gewesen sein musst und natürlich intelligent genug warst, daraus zu entkommen.“ Joséphine nickte perplex. Es war doch immer zu einer Überraschung gut, eine Agentin zur Freundin zu haben.
  Steffies Blick wanderte weiter zu Johnny Depp. „Hey, Johnny! Ich wusste gar nicht, dass du auch in dem Flugzeug warst!“ Johnny Depp grinste sie an, und sie begrüßten sich mit einem High-5.
  Joséphine mischte sich ein. „Steffie? Du kennst Johnny Depp?“
  Steffie blickte hilfesuchend gen Himmel. „Äh… ja. Aber ich konnte es dir nicht sagen, weil es mit meiner Arbeit zu tun hatte und somit strengster Geheimhaltung unterlag.“
  Damit gab Joséphine sich zufrieden, und Steffie wandte sich an Johannes, musterte ihn abfällig von oben bis unten und rümpfte dann die Nase. „Na, wenn ich den mal nicht kenne.“
  Ohne Johannes’ entgeisterten Blick zu beachten drehte sie sich zu der Familie um. Sie verbeugte sich, sagte etwas auf Chinesisch und lächelte dann. Auch die Familie lächelte und antwortete in überaus freundlichem Ton, ein beeindruckendes Erlebnis.
  Steffie grinste Joséphine an. „Nette Chinesen habt ihr da aufgegabelt. Sie kommen aus Hiroshima.“
  Joséphine verdrehte die Augen. „Hör auf mit dem Smalltalk und überleg lieber, wie wir von dieser verdammten Insel runterkommen. Unsere Handys sind im Wasser geschrottet worden, und sonst haben wir nichts. Ich hoffe zumindest, der Rettungshubschrauber für das Flugzeug kommt bald und findet uns.“
  Johnny Depp und Steffie tauschten einen Blick, der Joséphine beunruhigte. Johnny Depp sagte: „Der Rettungshubschrauber wird definitiv kommen, aber sehen wird er uns nicht. Unter dieser Insel liegt ein einzigartiges natürliches Material, das eine Kuppel erschafft, die die Insel von außen unsichtbar macht. An dieses Material kann man nicht herankommen, und es bewirkt seltsame Dinge auf dieser Insel. Das Klima, zum Beispiel. Du erwartest, dass es hier immer tropisch sein wird, wie es auch sein sollte, aber in Wirklichkeit ist es nur Zufall, dass es jetzt warm ist. Gelegentlich schneit es hier sogar. Und diese Wetterveränderung geschieht im Laufe einiger Stunden. Jedenfalls, wunder dich nicht, dass diese Insel so lange unentdeckt geblieben ist.“
  Joséphine machte ein missmutiges Gesicht. Was war das für Quatsch? „Wenn die Insel ach-so-unentdeckt ist – woher weißt du denn das alles?“
  Johnny Depp wechselte abermals einen Blick mit Steffie, und diesmal antwortete sie. „In Anbetracht der Umstände denke ich, dass es besser ist, dieses Geheimnis zu lüften.“ Johnny Depp nickte zustimmend und Steffie fuhr fort. „Johnny ist Mitglied der amerikanischen Geheimpolizei, und wir kennen uns von der Mission um diese Insel. Wir sollten das Material unter der Insel bergen, aber es ist uns nicht gelungen. Der Geheimdienst hat also beschlossen, die Insel einfach ruhen zu lassen. Sie ist nicht mehr unbekannt, aber eindeutig noch unentdeckt. Niemand war jemals wirklich hier und hat zum Beispiel eine Karte angefertigt. Wir beide waren nur unter Wasser.“
  Während diese Informationen verdaut wurden, ließ sich Johannes verlauten. „Und wie kommen wir jetzt von hier runter?“
  „Ja, genau“, stimmte Joséphine zu. „Wer weiß, welche Monster dieses blöde Material hier erschaffen hat. Ich will hier weg! Ich will nicht im Schlaf von irgendwem aufgefressen werden! Hättest du nicht Hilfe holen können, als du erfahren hast, wo wir sind?“
  Steffies Grinsen wurde breiter. „Das hätte ich tun können, ja. Aber wo bliebe dann der Spaß?“
  Joséphines Gesicht lief rot an. „Du. Hast. Gewusst. Wo. Wir. Sind. Und. Hast. Keine. Hilfe. Geholt?!“
  „Oh-oh.“ Steffie sprang zurück. „Es tut mir Leid! Ich dachte, ein wenig Abenteuer würde jedem gefallen.“
  „Arggh!“ Joséphine klatschte sich beide Hände ins Gesicht. Ein normaler Mensch würde jetzt vielleicht auf den anderen losgehen und ihn zu Brei schlagen (oder es zumindest versuchen), doch Joséphine war absolut anti-Gewalt, und sie war sich auch nicht sicher, ob sie jemals jemanden schlagen könnte, wenn er sie nicht gerade vergewaltigen wollte. „Wir sind verloren und werden vermutlich Wochen auf dieser Insel verbringen!“
  Johnny Depp schnaubte. „Wochen? Ich tippe eher auf Jahre. Schließlich ist die Insel unsichtbar, und vermutlich der letzte Ort, an dem unsere Geheimdienste mich und Steffie suchen würden. Wenn sie uns überhaupt suchen!“
  Er hatte schon fertig gesprochen ehe ihm klar wurde, dass er das Falsche sagte. „Gaaah!“, schluchzte Joséphine.
  Steffie trat zu ihr, legte ihrer Freundin die Hand auf die Schulter und beobachtete dann mit schuldigem Gesicht, wie Joséphine zusammensank.
  Auf die befremdeten Blicke der anderen meinte sie nur achselzuckend: „Ich wollte ihr das Leiden ersparen. Sie wird jetzt erstmal bis morgen durchschlafen. Ich übrigens auch.“ Sie gähnte, streckte sich neben dem Feuer aus und schlief sofort ein.
  Die wasserdichte Uhr an ihrem Handgelenk zeigte die digitalen Ziffern 12:00 an.

*

Johannes trottete zum Ufer. Er musste jetzt allein sein. Allein sein und nachdenken. Dringend. Seine Gedanken schlugen Purzelbäume, wenn er zur schlafenden Joséphine sah. Johnny Depp hatte eine Jacke in seinem Rucksack, die er über sie ausgebreitet hatte, und dann hatte er sie nahe ans Feuer getragen, weil ihre Kleider noch feucht vom Meerwasser waren.
  Er musste sich über seine Gefühle klar werden, sonst würde er es keine Sekunde länger an ihrer Seite aushalten.
  Liebte er sie? Als Frau? Oder wollte er einfach eine Freundschaft mit ihr?
  Liebte sie ihn?
  Als er dann übers Meer blickte, wünschte er sich, es wäre doch Haie darin gewesen.
  Eines stand für ihn jedoch fest. Er würde jetzt über sein Problem nachdenken. Und wenn er sie nicht liebte, dann würde er sich selbstständig machen. Sollte er jedoch feststellen, dass er sie wirklich liebte, dann würde er an ihrer Seite sitzen, wenn sie aufwachte.

*

„Eeeehngrrrnm…“, grummelte Joséphine, als sie erwachte. Ihr Kopf schmerzte erbärmlich, und das Licht blendete in ihren Augen. Trotzdem fühlte sie sich seltsam entspannt, als hätte sich ihr Gehirn während des Schlafes mit der momentanen Situation angefreundet und beschlossen, dass es sich nicht mehr lohne, sich darüber aufzuregen.
  Der Himmel war strahlend blau, die Sonne schien noch immer. Also war es noch derselbe Tag. Sie konnte nicht mehr als ein paar Stunden geschlafen haben.
  Sie lag am Lagerfeuer, neben ihr Johannes, der sie verträumt anschaute (sie merkte es kaum), auf ihrer anderen Seite Johnny Depp. Steffie neben Johnny, und die Familie wieder auf der anderen Seite, fast verdeckt vom Feuer und dessen Rauchschwaden.
  Durch müde Augen hindurch beobachtete Joséphine, wie die anderen zu Mittag aßen, und auch ihr Magen grummelte. Dadurch wurden Johnny und Steffie auf sie aufmerksam. Steffie hielt etwas Schwarzes, Zappelndes in der Hand, doch Joséphine konnte nicht erkennen, was es war. „José!“, rief Steffie. „Du hast den ganzen Tag und die ganze Nacht durchgeschlafen!“
  Joséphine machte große Augen. Die Müdigkeit war verschwunden. Es war also schon der nächste Tag, und nicht mittags, sondern morgens? Verdammt! Kein Wunder, dass sie Hunger hatte.
  Nun blickte sie Johnny Depp ins Gesicht, und er lächelte ihr breit und freundschaftlich zu, sodass ihr ganz warm ums Herz wurde vor Glück. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass er neben ihr saß.
  Ihr nächster Blick galt den Kokosnussschalen, die vor den anderen standen. Joséphine fiel auf, dass alle grüne Blätter über ihre Schale gelegt hatten, als sie merkten, dass sie wach war. Hm, vermutlich, damit sie sie in Ruhe begrüßen konnten und die Kokosmilch nicht in der Sonne kaputtging. Neben jeder Schale lag ein buntes Strohhälmchen. Jemand musste ein Päckchen im Handgepäck gehabt haben.
  „Guten Molgen!“ Der Koch kam hinter seiner Feuerbarrikade herum und grinste ihr zu. „Sie müssen sehl hunglig sein! Sie haben sehl lange geschlafen! Ich habe ihnen ihl Flühstück aufgehoben. Gleifen Sie zu!“ Er schob ihr eine appetitlich aussehende halbe Kokosnussschale zu, über der zwei große, grüne Blätter lagen. Obendrauf lag ein quietschgelber Strohhalm.
  „Danke“, murmelte Joséphine. Sie hob das Blatt an, in der Erwartung, frische Kokosmilch zu finden, und schrie auf.
  Kakerlaken!
  Riesige, schwarze, zappelnde Kakerlaken!
  Igitt!
  Igitt!
  Igitt!
  Die Nuss flog in hohem Bogen in den Wald, und Joséphine zitterte vor Ekel. Erst jetzt merkte sie es: Alle um sie herum hielten die Blätter ihrer Kokosschalen fest. Sie hielten die Kakerlaken drinnen, damit sie nicht abhauten und sie sie gemütlich verspeisen konnten! Und das war das zappelnde Ding, das Steffie vorhin in der Hand gehalten hatte!
  Wah! Bäh!
  Johnny Depp blickte sie ernst an, dann legte er die Blätter über seiner Kokosnuss beiseite und griff in das Gewusel. Er holte eine Kakerlake heraus, die ein Loch im Rücken hatte, aus dem eine ekelhafte gelbe Flüssigkeit kam, und deren Beine sich noch bewegten. Eine neue Welle der Übelkeit überkam Joséphine. Als Johnny seinen grünen Strohhalm in das Loch im Rücken steckte und zu saugen begann, während er ihr noch hypnotisierend in die Augen starrte, sprang Joséphine auf und lief schreiend davon. Irgendwann merkte sie, dass Steffie hinter ihr herrannte und blieb stehen. Steffie erreichte sie, kein Bisschen außer Atem. „Es schmeckt besser als es aussieht! Glaub mir!“
  Joséphine blickte sie angeekelt an. „Du wagst es, mit mir zu reden, du Monster! Dir klebt noch ein Bein am Mund!“
  Steffie tat es weg. „Ah. Verzeihung. Jedenfalls, ich finde, du solltest es zumindest probieren.
  Joséphine schauderte. „Die leben alle noch.“
  „Ja.“ Steffie zuckte mit den Schultern. „Insekten sind irgendwie schwer zu töten, wenn man sie nicht total zerquetschen will. Nun komm schon!“
  Joséphine ging ergeben mit. Der Hunger brannte ihr ein Loch in den Magen, und würden die Blätter an den Bäumen nicht so verdammt unappetitlich aussehen, würde sie sogar sie essen. Aber in ihrem Handgepäck hatte sie auch nichts zu Essen. Sie hätte eine Packung Schokoriegel kaufen sollen. Nein, gleich zehn! Hunderte!
  Als sie am Feuer ankamen, hatte der Koch ihr bereits eine neue Schale mit Kakerlaken bereitgestellt. „Wollen Sie also doch plobielen? Veltlauen Sie mil, sein sehl gute Qualität von diesel Insel! Kommen aus den Felsen dolt hinten. Hiel, nehmen Sie diesen Stein und machen Sie ein Loch in Lücken von Kakellake. Und hiel ist Stlohhalm, zum Tlinken. Habe ich dabei gehabt, aus Hiloshima.“
  Joséphine atmete tief durch. Dann nahm sie eines der zappelnden Dingsda aus der Kokosnuss. Mit der anderen Hand nahm sie den spitzen Stein und brach damit ein Loch in den Rücken des Insekts. Es war ein grausames Knacken, und dann find das Insekt noch schneller zu zappeln an. Beinahe hätte Joséphine es fallen gelassen. Dann hob sie den Strohhalm auf – und blickte in sechs erwartungsvolle Gesichter.
  „Es würde mir definitiv leichter fallen, wenn ihr mich nicht alle anstarren würdet!“, motzte sie. Sofort schien jeder der anderen etwas anderes unheimlich interessant zu finden.
  Bevor ihr der Gedanke kam, dass wenn die Schalen Kokosnüsse waren irgendwo auch mehr davon waren, war es auch schon passiert: Mit entsetztem Gesicht steckte sie den Strohhalm in das zappelnde Insekt – es schmatzte, und grüne Flüssigkeit kam zum Vorschein –, führte ihn zum Mund und saugte.
  Ihre Augen weiteten sich, ihr Herz schlug schneller.
  Noch nie hatte sie etwas so Köstliches gegessen.

*

Johannes grinste, als er heimlich Joséphine betrachtete. Auch er hatte sich erst in einen McDonald gewünscht, bis er die Kakerlaken probiert hatte. Sie schmeckten nach nichts Vergleichbarem, recht süß, mit einem Hauch nach Zitrone und Orange, und etwas Undefinierbarem, das das Ganze einzigartig machte.
 Nichtsdestotrotz wollte er fort von dieser vermaledeiten, unsichtbaren und mysteriösen Insel. Mysteriöses hatte ihn noch nie interessiert, weshalb er in der neunten Klasse auch mit einem Mädchen namens Beatrice zusammen war. Aber, dachte er, Ich war wohl doch nur mit ihr zusammen, weil ich mich von Joséphine ablenken wollte. Sie hatte nämlich ziemlich deutlich durchblicken lassen, dass sie ihn nicht mochte. Und je mehr Aufmerksamkeit er auf sie verwendet hätte, desto unglücklicher wäre er geworden.
  Er seufzte tief und beobachtete weiter seine große Liebe.

*

Himmel, sie konnte gar nicht genug von diesen abscheulichen Viechern bekommen! Sie schwor sich, sobald (und wenn überhaupt) sie wieder zu Hause war, würde sie ein Restaurant eröffnen, mit Delikatessen von dieser Insel. Gewiss gab es hier noch mehr unentdeckte Köstlichkeiten, und allmählich behagte es ihr schon, hier auf dieser idyllischen und kulinarisch wertvollen Insel zu bleiben. Bis auf ihr seltsames Fast-Nahtoderlebnis fand sie ihren Urlaub bisher viel erholsamer, als er es in Kehl gewesen wäre.
  Während sie gegessen hatte, hatten sich die anderen in ein Grüppchen zusammengefunden. Sie hatte es kaum bemerkt, solchen Hunger hatte sie, doch nun bemerkte sie Johnny Depp, als er aus dem Grüppchen heraustrat und auf sie zukam. „Schmecken mir auch, diese Dingsda. Ich bin sicher, das liegt an diesem Zauberstein! Woanders würden sie vermutlich schmecken, wie normale Kakerlaken nun mal schmecken würden.“
  „Mhmnompfnompf!“ Das sollte die Frage sein, ob die Kakerlaken dieser Insel auch außerhalb dieser Insel noch so schmecken würden oder ob es der Einfluss der Insel sei, dass sie nur genau hier so gut schmeckten. Allerdings hatte sie gerade den Mund voll und wollte nicht auf den köstlichen Geschmack verzichten, um diese Frage vernünftig zu stellen.
  Johnny schaute sie einen Moment seltsam an, dann lachte er. „Jedenfalls, wir haben vorhin beschlossen, Richtung Südosten am Strand entlangzugehen. Das ist dort.“ Er deutete nach rechts. „Vielleicht finden wir irgendetwas, das uns weiterhilft. Ich finde diese Idee besser, als hier sitzenzubleiben, bis wir gefunden werden.“
  Joséphine beschloss, satt zu sein. „Einverstanden. Wann geht’s los?“
  „Jetzt gleich.“
  Sie nickte, stand auf und klopfte ihre Hände an den Beinen ab. Das Zeug klebte, und einen Moment bedauerte sie, dass sie keine lange Hose angehabt hatte. Die Vorhersage, dass sich das Wetter schlagartig ändern konnte, war glücklicherweise noch nicht eingetreten, denn Joséphine genoss die Sonne auf der Haut. Auch die Nacht war warm gewesen. Sie hoffte sehr, dass das noch so bleiben würde.
  Im Moment war es ebenfalls warm. Es war etwa zehn Uhr morgens, und wie es aussah, würde es um die Mittagszeit herum noch höhere Temperaturen geben.
  Nachdem also jeder seine wenigen Habseligkeiten gepackt hatte (alle hatten die Geistesgegenwart gehabt, ihr Handgepäck mitzunehmen, also hatte jeder das Nötigste dabei. Steffie hatte eigentlich nur einen Rucksack dabei, und da sie als Agentin hier war, konnte man nur spekulieren, was sich darin befand) ging es los. Die Familie Wong blieb zusammen und bildete die Nachhut, Steffie, Joséphine und Johnny liefen voraus, und zwischen den beiden Gruppen lief einsam und allein Johannes, so in Gedanken versunken, dass niemand auch nur auf die Idee kam, ihn anzusprechen.
  Anfangs, so etwa die ersten drei, vier Stunden, wurde noch viel geredet. Doch als es dann auf Nachmittags zuging und die Sonne erbarmungslos auf die Gefährten herunterbrannte, und gleichzeitig der Hunger und der Durst sich anschlichen und weder Kakerlakenfelsen noch Bäche sich blicken ließen, senkte sich Schweigen über sie. Niemand hatte etwas zu Trinken dabei, da sie es am Tag davor schon ausgetrunken hatten. Außerdem waren es nur kleine Flaschen, wie man sie am Flughafen nach der Kontrolle eben kaufen konnte, und die hatten sie dummerweise an ihrem letzten Rastplatz alle liegen gelassen. Vermutlich gab es im Wald einen Bach, doch trotz des Durstes wagte sich keiner in den gefährlich aussehenden Wald. Alle dachten an seltsame, genetisch mutierte Monster, die die Insel erschaffen haben konnte.
  Doch dann endlich, nach weiteren zwei Stunden endloser Qual, hörten sie es: Das Gluckern eines Baches. Plötzlich bekamen sie alle neue Energie, sprinteten los und hüpften schließlich ins Wasser des kleinen, frohselig dahinfließenden Wasserlaufs. Sie tranken, badeten und legten sich schließlich über den ganzen Strand verteilt in den Sand, wo sie sich von der Sonne trocknen ließen.
  Der Bach kam aus dem dichten Wald und verlief sich im Sand zu einem Delta. Die Gefährten waren hingerissen von so viel Schönheit.
  „Nicht einmal China sein schönel“, meinte der gebürtige Chinese, was ihm einen bösen Blick seiner Frau einbrachte.
  Die Gefährten beschlossen einstimmig (ohne Lixiti, die noch beleidigt war), hier zu bleiben. Den Rest des Tages lagen sie faul herum, badeten, sonnten sich und lernten sich besser kennen. Das prächtige Wetter hielt an.
  Joséphine redete sehr viel mit Johnny Depp, fast ununterbrochen, und die beiden bemerkten, dass sie viel Gemeinsam hatten. Ihre Gesprächsthemen gingen nie aus, und sie verstanden sich super. In diesen wenigen Stunden entstand eine enge Freundschaft zwischen den beiden, die man nur als Seelenverwandtschaft bezeichnen konnte, so schnell wurden sie Freunde.
  Es ging schon auf sechs Uhr abends zu – zum Glück hatte Steffie ihre wasserdichte Armbanduhr dabei! – als der kleine Kabuki sagte, er habe Hunger. Da er bis jetzt noch nie ein Wort gesagt hatte, sondern nur still und schüchtern dasaß und süß aussah, blickten ihn bei diesen Worten alle an. Er hatte es nur leise zu seiner ebenso stillen Mutter gesagt, doch da alle anderen ebenfalls Hunger hatten, hörte es jeder. Bis jetzt war der Drang zu Essen mit frischem, kaltem Wasser unterdrückt worden, doch nun, da es ausgesprochen wurde, spürte jeder den nagenden Schmerz in seinem Bauch. Seit den Kakerlaken am Morgen hatte es nichts zu Essen gegeben, und das Problem war, dass es hier auch nichts gab. Keine Früchte tragenden Bäume und auch keine Steine voll wuselnder Insekten. Selbst der einfallsreiche Koch schwieg. „Eigentlich ich finde zu Essen immel Dinge. Hiel aber sein nix!“
  Die Gefährten tauschten bedrückt Ideen aus. „Wir könnten uns in den Wald wagen“, schlug Steffie vor.
  „Oder im Sand graben“, ergänzte Joséphine.
  „Gibt es vielleicht Fische im Fluss?“, fragte Johnny Depp.
  „Im Meer tummelt sich sicher irgendwas“, grübelte Johannes.
  „Ich hab Hunger, Mami“, klagte Kabuki.
  Der Koch stampfte schließlich mit dem Fuß in den Sand. „Kommt, Lixiti und Kabuki. Wäle doch gelacht, wenn ich nichts zu Essen finden wülde!“
  Sie standen auf, und Johnny meldete sich zu Wort. „Soll vielleicht einer von uns mitgehen? Oder wir Männer könnten jagen gehen.“
  Der Koch schüttelte fast schon panisch den Kopf. „Nein! Ich meine… will schaffen das zu dlitt.“
  „Sollte nicht wenigstens Kabuki…“
  Der Koch schüttelte so nachdrücklich den Kopf, dass Johnny verstummte. Dann entfernte sich die Familie, lief am Bach entlang und verschwand schließlich im Wald.
  „Das war ziemlich komisch“, bemerkte Joséphine und erntete Zustimmung. Zwar wollte niemand die Familie der Gefahr aussetzen, doch niemand folgte ihnen.
  Die vier verbliebenen saßen betreten im Sand, die Sonne verschwand schon am Horizont, obwohl es gerade mal halb sieben sein konnte. Ein kühler Wind zog auf, und es wurde rasch dunkler.
  Joséphine fröstelte, das erste Mal auf dieser Insel, seit sie hier gestrandet war. Sie überlegte, ob sie ihre warme Garnitur Klamotten anziehen sollte, doch sie entschied sich dagegen. Den anderen schien es genauso zu gehen.
  Schließlich stand Steffie genervt auf. „Was sitzen wir hier eigentlich nutzlos herum und frieren uns den Hintern ab? Lasst uns ein Lagerfeuer machen!“
  „Mit welchem Feuerzeug?“, fragte Johnny. „Gestern hat es der Koch entzündet, mit den wasserdichten Streichhölzern, die er dabeihatte. Aber er ist weg.“
  „Er hat irgendwie so einiges dabei, was uns nützlich ist, findet ihr nicht?“, warf Johannes ein. Steffie nickte zustimmen, doch die anderen ignorierten ihn. Trotzdem redete er weiter, versuchte zu überzeugen. „Erst die Strohhalme, dann die Streichhölzer. Und dann auch noch wasserdicht. Kein Schwein hat wasserdichte Streichhölzer dabei wenn er in Urlaub fährt, nicht einmal wenn er Chinese ist. Oder?“
  Schließlich ignorierte ihn auch Steffie und sie redete mit den anderen. „Ich war auf diese Mission vorbereitet, erinnert ihr euch?“ Sie lächelte.
  Oh ja, erinnerte sich Joséphine verbittert. Und wie ich mich daran erinnere. Und hättest du ein wenig mehr nachgedacht, Steffie, dann säßen wir jetzt alle im Warmen. Sie beobachtete, wie Steffie zu ihrem Rucksack lief, eine Weile darin herumwühlte und schließlich ein silbernes Windfeuerzeug zückte.
  „Na also, damit dürfte es gehen.“ Sie warf es Joséphine zu. Dann meinte sie: „Ich gehe am besten der Familie Wong nach. Dann können wir zusammen Brennholz suchen.“
  „Soll ich vielleicht…“, begann Joséphine, doch Steffie winkte ab.
  „Das geht schon. Ich bin gleich wieder da.“ Sie verschwand im Wald, und nun waren Joséphine, Johannes und Johnny alleine.
  Joséphine überlegte. Sollte sie mit Johannes ein Gespräch anfangen?
  Diese Entscheidung wurde ihr abgenommen. Johannes rutschte ein wenig zu ihr herüber und räusperte sich unwohl. „Was hast du eigentlich so gemacht nach dem ABI?“
  Joséphine lächelte. „Mich bei Bill Gates eingeschleimt und ihm seinen Posten geklaut.“
  „Äh…“
  Wieder herrschte Schweigen. Johnnys Magen grummelte, und aus irgendeinem Grund fingen sie alle drei so an zu lachen, dass sie bald keine Luft mehr bekamen. „Das sind die Nerven!“, meinte Joséphine lachend.
  „Allerdings!“, erwiderte Johnny. „Ich hoffe sehr, dass die anderen etwas zu Essen finden.“
  In diesem Moment kam Steffie aus dem Wald, ein wenig außer Atem und einen Stapel dünner Äste unter dem Arm. Und alleine.
  „Du warst schnell“, bemerkte Joséphine. „So ist Familie Wong?“
  Steffie blickte unruhig über ihre Schulter. „Ähh… ich hab sie nicht mehr gefunden. Bin nur ein paar Meter in den Wald hinein und hab Holz gesammelt.“
  Sie warf den spärlichen Haufen „Holz“ auf den Boden und räusperte sich. „Die anderen bringen sicher noch mehr mit.“
  Mit diesen Worten drehte sie ihren Freunden den Rücken zu. Erst dachte Joséphine, sie schmolle irgendwie, doch als die erste kleine Flamme aus den Ästen flackerte und sie wieder einen Blick auf Steffie warf, hatte diese einen grüblerischen Ausdruck auf dem Gesicht, und ihre Augen blickten in die Ferne. Joséphine kannte diesen Ausdruck schon aus der Schule: Steffie dachte über etwas nach, ein Rätsel, dessen Lösung ihr offensichtlich erschien, doch auf die sie einfach nicht kam, worüber sie sich wiederum ärgerte und erst nachgab, wenn sie die Antwort gefunden hatte. Wenn sie diesen Ausdruck auf dem Gesicht hatte, konnte man noch so viel mit der Hand herumwedeln – sie merkte es einfach nicht.
  Als Joséphine es jetzt sah, wirbelten Fragen in ihrem Kopf herum. Worüber dachte sie nach? Was verheimlichte sie? Was hatte sie dort im Wald gesehen, das sie zur schnellen Umkehr veranlasst hatte?
  Joséphine warf einen Blick zu Johnny hinüber und sah, dass er ebenfalls Steffie anblickte, auch einen nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht. Ob er es wusste? Was Steffie verheimlichte? Er kannte schließlich ihr Berufsfeld und ihre Gedanken darin wesentlich besser als Joséphine selbst, auch wenn sie Steffie seit der Schule kannte. Ihr neuer Beruf ließ ihr nicht viel Freiheit zum Erzählen, und vor Johnny hatte sie diese Einschränkung sicher nicht aufrechterhalten müssen.
  Inzwischen brannte das Feuer mit allem, was die geringe Menge Holz hergab. Joséphine, Johnny und Johannes rückten so nahe an die Flammen heran, wie es möglich war. Nur Steffie blieb weiterhin abwesend sitzen, und nicht einmal die Kälte an ihren bloßen Armen und Beinen schien sie zu stören.
  Da kam Familie Wong aus dem Wald. Im Dämmerlicht gaben sie groteske Gestalten ab, doch als sie näherkamen sah Joséphine, dass alle drei ihre Oberteile unten hochgezogen hatten und etwas darin transportierten. Sie waren durchnässt bis zu den Armen, und der kleine Junge triefte vor Nässe. Also etwas aus dem Fluss. Joséphine hatte keine besondere Schwäche für Fisch, und sie hoffte, dass es keiner war.
  Die drei blieben vor dem mickrigen Feuer stehen und der Koch gab ein amüsiertes Lachen von sich. „Ist das Elnst? Das soll sein Feuel?“
  Die Blicke der anderen wanderten zu Steffie, doch die grübelte noch immer vor sich hin, diesmal die Augen auf die Familie geheftet, und überaus resigniert aussehend.
  Der Koch zuckte mit den Schultern. „Was soll’s. Wil haben gefunden Fischlaich! Kavial! Sein teule Delikatesse in China!“
  Joséphine riss die Augen auf. Kaviar! Wie ekelhaft! Sie hatte es erst einmal im Leben probiert, und diese Erfahrung reichte ihr. Es schmeckte nach rohem Fisch, was es letztendlich ja auch war. Sie hatte gehofft, dass ihr eine weitere Geschmacksprobe erspart bleiben würde, doch sie konnte ja nicht wissen, dass sie auf einer einsamen Insel mitten im Nirgendwo landen würde.
  Sie sehnte sich zu den Kakerlaken zurück.
  „Sein außelgewöhnliches Kavial! Schmecken nicht wie nolmales!“, meinte der Koch nachdrücklich. Aha, dachte Joséphine, die haben also schon probiert. Ich lasse jedenfalls auch erst Johannes und Johnny vorkosten. Sie glaubte nicht, dass ihr hier noch einmal etwas so Köstliches wie die Kakerlaken zwischen die Finger kam. Das war schon Zufall genug gewesen.
  Der Koch verteilte den Inhalt seines T-Shirts auf Johannes, Johnny und Steffie (die aus ihrer Traumwelt erwacht war). Der kleine Kabuki gab die Hälfte seiner Last an Joséphine. Sie schauderte, als die glitschigen, lachsfarbenen Kügelchen in ihr T-Shirt wabbelten.
  Die Frau behielt ihren Kaviar; Sie würde vermutlich mit ihrem Mann teilen.
   „Ich wünsche einen guten Appetit“, meinte dieser gerade. „Ich sammle liebel Holz fül ein  Feuel.“ Anscheinend war das augenblickliche Feuer in seinen Augen keines.
  Steffie roch misstrauisch an ihrem Kaviar. Dann nahm sie eines der Kügelchen in die Hand und steckte es sich in den Mund. Die drei anderen sahen ihr gebannt zu.
  Steffie begann zu kauen – und dann strahlte sie die anderen an. „Fantastisch!“, murmelte sie, während sie schon weiteraß.
  Johannes und Johnny schienen damit überzeugt zu sein. Auch sie begannen zu essen – und zu strahlen.
  Joséphine atmete tief durch. Es gab zwar keinen Grund dazu, aber sollten Steffie und Johnny schauspielern, wäre sie darauf hereingefallen. Was ihr Vertrauen gab, war die Tatsache, dass Johannes so untalentiert war, dass er unmöglich schauspielern konnte. Also musste es wirklich gut schmecken.
  Sie atmete tief durch. Dann griff sie mit der freien Hand in den Haufen in ihrem Top. Es gelang ihr nur schwer, eines der glitschigen Dingsda zwischen die Finger zu bekommen, doch dann hatte sie eines, hob es sich vor die Augen und betrachtete es wie Steffie vor ihr misstrauisch.
  Sie schloss die Augen und steckte sich das glibberige Ding zwischen die Zähne. Dann ließ sie es in ihrem Mund fallen. Erst schmeckte es nach nichts, doch als sie es dann zerbiss, floss ihr eine süßliche Flüssigkeit den Rachen hinunter – eine Flüssigkeit, die einfach gigantisch schmeckte. Im ersten Moment schmeckte es wie süße, reife Himbeeren, doch dann kam wie eine Geschmacksexplosion ein weiterer Geschmack hinzu, den sie noch nicht kannte – aber der definitiv süchtig machte. Die ganze Sache erinnerte Joséphine an die Bubbles in Bubble Tea, und sie konnte nicht aufhören, sie zu essen. Viel zu schnell war ihr Häufchen mitsamt ihrem Hunger verschwunden.
  Sie leckte sich gerade über die Lippen und wünschte sich mehr, da gewahrte sie ihrer Umgebung: Es war inzwischen stockdunkel geworden, der Koch war zurückgekehrt, das Lagerfeuer war mindestens zehn Mal so groß wie vorher und flackerte lustig vor sich hin. Neben ihr das der niedliche Kabuki, inzwischen trocken und versunken ins Essen. Neben ihm saßen seine Eltern und flüsterten miteinander. Rechts von ihr saßen nebeneinander Johnny, Johannes und Steffie und aßen ihre letzten Himbeer-Fischeier.
  Zufrieden legte sich Joséphine auf den Rücken und betrachtete die Sterne, über denen ein eigenartiger Neben hing, wie sie auch schon in der Nacht zuvor bemerkt hatte. Ob dies die Kuppel über der Insel war? Konnte man sie bei Nacht sehen?
  Dieses Rätsel, das Gemurmel der anderen um sie herum, und die Wärme des Feuers neben ihr ließen sie schnell einschlafen.

*

Entspannt lehnte Johannes sich zurück und stützte sich auf die Ellenbogen. Der feine Sand drückte, doch der leise Schmerz verging ihm beim Anblick von Joséphine, die eben noch in den Himmel gestarrt und jetzt die Augen geschlossen hatte. Sie war einfach bezaubernd schön.
  Johnny, der ihn beobachtet hatte, beugte sich zu ihm hinüber. „Gib gut auf sie Acht, während wir hier auf dieser Teufelsinsel sind. Ich habe das ungute Gefühl, dass es nicht mehr lange so friedlich sein wird.“

*

Joséphine erwachte durch das Zwitschern eines bunt schillernden Vogels, der direkt neben ihrem Gesicht gelandet war und erschrocken davonflog, als sie sich regte.
  Es war ein strahlend schöner Morgen, doch die Nacht war kalt gewesen, und die Sonne war noch nicht lange genug da, um ihre kalten Glieder zu wärmen. Das Feuer musste irgendwann in der Nacht erloschen sein.
  Ein Blick auf ihre Gefährten sagte ihr, dass alle fest schliefen und nicht allzu bald aufwachen würden. Sie stand mühsam auf, streckte sich und gähnte. Sie ließ die anderen schlafen und lief zum Ufer des Baches, trank das eiskalte Wasser und spazierte dann zum Meeresufer, dort, wo sich der Bach zum Delta verbreitete.
  Joséphine streckte sich erneut, dann machte sie ein paar Kniebeugen und hüpfte auf und ab, bis wieder Blut durch ihre armen Glieder floss. Dann spazierte sie zwischen den kleinen Flussäderchen des Deltas hindurch, bis sie eine etwas größere Fläche fand. Dort setzte sie sich im Yogasitz hin und meditierte eine Weile, während die Sonne auf sie herabschien und bald an Wärme zunahm. Als sie hinter den Wolken verschwand, öffnete Joséphine die Augen. Dann kam die Sonne wieder hervor, und Joséphine sah aus den Augenwinkeln im Delta etwas aufblitzen, das anders war als das Reflektieren des Wassers selbst. Als sie den Kopf in die Richtung des Aufblitzens wandte, sah sie es: Dort, in einem kleinen Bächlein der verzweigten Bachdeltas, klemmte eine Glasflasche.

*

Johannes erwachte völlig durchgefroren. Die Sonne weckte ihn, indem sie ihm mit ihren warmen Fingern die Beine entlangstreichte. Auch er trug knielange Shorts. Anders konnte man es im Dauersommer San Franciscos nicht aushalten.
  Als er sich umblickte, sah er, dass die anderen noch schliefen. Bis auf Joséphine, die etwas abseits saß und ein Papier vor sich ausgebreitet hatte, das sich an den Seiten nach innen rollte. Die Sonne zauberte einen glänzenden Rotstich in ihre Haare, und der Anblick ließ Johannes’ Herz schneller schlagen.
  Er schlenderte gemächlich zu ihr herüber. „Was ist das?“, fragte er neugierig.
  Sie sah nicht einmal auf. „Ich glaube, es ist eine Karte der Insel. Ich habe sie in einer Flasche im Bach gefunden.“ Erst jetzt hob sie den Kopf, die Sonne zauberte Kiwischeiben in ihre Augen, und sie lächelte Johannes an. „Guten Morgen übrigens.“
  Er wurde rot. „Äh… moin.“
  Sie deutete auf die Karte. „Möchtest du sie dir nicht auch anschauen?“
  Johannes nickte, setzte sich neben sie und tat, als studierte er die Karte. Dabei spürte er eigentlich nur ihr Bein, das das seine berührte, und hörte ihren gleichmäßigen Atem. „Bezaubernd“, meinte er schließlich, als er einfach etwas sagen musste. Er war sich selbst nicht sicher, ob er die Karte oder Joséphine meinte.
  Sie kicherte. „Bezaubernd? Das ist die schlechteste Karte, die ich je gesehen habe!“
  Er warf eilig einen Blick auf die Karte. Tatsächlich sah er auf den ersten Blick nur Gekritzel auf vergilbtem Papier, und nur mit Mühe erkannte er einen gewellten Kreis, der vermutlich die Insel darstellen sollte. Der Großteil der Insel war mit Bäumen bemalt, Wald also. Ein Rand rund um die Insel war gepunktet, laut der Legende am unteren Rand also Strand. Der Rest der Insel, der weder Wald noch Strand war, war auf der Karte leer, bis auf einen Flecken im Westen, der liniert war. Laut der Legende war dies ein Moorgebiet. Darauf konnte Johannes getrost verzichten. Auch der Bach, an dem sie sich befanden, war eingezeichnet, ebenso zwei weitere Flüsse. Die Schrift der Legende war verschnörkelt und schlecht zu lesen und sah sehr altmodisch aus. Links oben in der Ecke der Karte waren die Himmelsrichtungen eingezeichnet.
  Das Auffälligste an der Karte war allerdings die gestrichelte Linie, die vom Delta des hiesigen Flusses auf kompliziertem Wege auf ein komplexes Gebilde zulief, das sich in der Nähe des Moors befand und in dessen Mitte eine offene Truhe eingezeichnet war.
  „Wahnsinn“, murmelte Johannes, als ihm das Licht aufging. „Es ist eine Schatzkarte.“

*

„…sind hier!...“ „…Schatz?“ „…folgen…“ „…bestimmt nicht richtig…“ „…endlich STILL!“
  Joséphines laute Stimme ließ alle verstummen. Sie saßen im Kreis um die Karte herum und diskutierten lebhaft über die neue Route. „Ich bekomme Kopfweh von eurem Gebrüll“, wimmerte sie. „Kann man das nicht in normalem Tonfall klären?“
  Eine Sekunde voller Stille, dann schlug ihr Gemurmel aus Entschuldigungen entgegen, bevor weiterdebattiert wurde, in wesentlich ruhigerer Lautstärke diesmal. Trotzdem stand Joséphine auf, schlurfte zum Bach und setzte sich ans Ufer. Es war wieder sommerlich warm, und sie lief barfuß, ihre Birkenstock-Sandaletten lagen neben ihr im Sand.
  Steffie gesellte sich zu ihr. „Äußerst interessante Karte“, meinte sie, und Steffie hörte, dass sie es ernst meinte, wenngleich es auch ein wenig spöttisch klang. „Wo hast du sie nochmal gefunden?“
  Joséphine deutete auf das etwa zehn Meter entfernte Delta.
  „Aha.“ Steffie nickte nachdenklich. „Ab hier werde ich euch übrigens nicht mehr begleiten.“
  Joséphine zuckte zusammen. „Warum nicht? Was ist los?“ Und dann: „Hat es etwas damit zu tun, dass du gestern so nachdenklich warst?“
  „Du hast es bemerkt?“, fragte Steffie erstaunt, ohne die Fragen zu beantworten.
  „Wer nicht“, antwortete Joséphine trocken. „Es war kaum zu übersehen. Du warst total abwesend. Also, warum jetzt?“
  Steffie zuckte mit den Schultern. „Die anderen sind der Meinung, wir sollten der Linie auf der Karte folgen. Mich macht das alles äußerst misstrauisch. Der Weg ist so umständlich. Warum nicht den kürzesten Weg nehmen? Die anderen sind sich jedenfalls einig, also werde ich alleine gehen. Außer, du willst mich begleiten.“
  Joséphine dachte eine Weile nach, dann wurde sie rot und blickte zu Boden.
  Steffie nickte; Sie hatte es verstanden. Sie würde alleine gehen. „Übrigens, diese Familie ist mir unheimlich“, sagte sie dann. „Anfangs fand ich sie ja noch nett, aber jetzt… es sind nur Kleinigkeiten, die mir auffallen, und ich will nicht vorschnell urteilen. Aber… sei vorsichtig, wem du vertraust.“
  Joséphine sah in Steffies ungewöhnlich ernste grüne Augen und schluckte ihren Protest hinunter. „Mach ich.“
  Dann flüsterte Steffie ihr noch etwas ins Ohr. Und darauf nickte Joséphine ernst. „Aber nur, weil du so verdammt ernst klingst.“
  In diesem Moment erhoben sich die anderen alle gleichzeitig. Der Junge hing am Arm seiner Mutter und hatte seinen Daumen in den Mund gesteckt. Johnny trat vor. „Joséphine? Steffie? Wir werden der Linie folgen. Seid ihr damit einverstanden?“
  Joséphine nickte, doch Steffie blickte Johnny enttäuscht an. „Du solltest genug Agentenerfahrung haben, um zu wissen, dass man nicht einfach einem Weg folgt, schon gar nicht, wenn er so auffällig markiert ist. Ich hätte mehr von dir erwartet.“
  Johnny legte den Kopf schräg. „Ich weiß. Aber ich habe gründlich darüber nachgedacht. Ich bin mir sicher. Und ich möchte die anderen nicht alleine lassen.“
  Steffie nickte. „Na dann. Ich wünsche eine gute Reise.“ Sie verbeugte sich spöttisch, schnappte sich ihren Rucksack (Joséphine war sich sicher, dass sie die Agentenausrüstung ihrer Freundin in einer brenzligen Situation bald vermissen würde) und verschwand wie ein Schatten im Wald.
  Johnny schaute ihr betrübt hinterher. „Wo will sie überhaupt hin?“
  Der Koch meldete sich. Er klang nervös. „Sicher sie will auch finden Schatz und gehen den külzesten Weg.“
  „Nein, will sie nicht“, sagte Joséphine. „Sie sagte mir vorhin, der Schatz interessiere sie überhaupt nicht und sie wolle durch den Wald zum Strand im Norden und dort irgendwie Hilfe holen. Dann wollte sie dort auf uns warten.“ Sie wurde rot dabei, da dies eine glatte Lüge war, doch sie hatte Steffie vorhin versprochen, dies zu sagen. Johnny warf ihr einen durchdringenden Blick zu, doch ansonsten schien niemand etwas zu bemerken. Und der Koch schien erleichtert aufzuatmen. Joséphine erinnerte sich an Steffies Worte. Sei vorsichtig, wem du vertraust. Konnte es sein, dass sie einen Verdacht gegen den Koch hatte? Jetzt, da Steffie sie gewarnt hatte, fiel auch Joséphine sein teilweise seltsames Verhalten auf. Doch im nächsten Moment war der Koch schon wieder normal und so sympathisch wie vorhin. Sicher hatte Steffie Lixiti gemeint. Die ist sowieso eine griesgrämige, unsympathische Ziege, dachte Joséphine
  „Also dann.“ Johnny schnappte sich seinen Rucksack. „Ohne Frühstück, aber was soll’s. Auf geht’s!“ Die anderen überredeten ihn dann doch noch, für das Frühstück dazubleiben. Vor allem Joséphine, die die Himbeer-Fischeier schon als weiteren Punkt auf ihrem Tagesmenü des zukünftigen Restaurants geplant hatte.
  Tatsächlich fand der Koch noch welche, ein wenig mehr sogar als am Tag zuvor, und gesättigt machten sie sich auf den Weg nach Süden, weiter am Strand entlang. Joséphine freute sich, dass sie den Plan hatten, denn sie hasste es, ziellos durch die Gegend zu laufen. Außerdem war sie schrecklich neugierig, was der Schatz war – und noch mehr: Wer ihn dort versteckt, die verzauberte Insel also vor ihnen entdeckt hatte.
  Es war wieder so warm wie in den Tagen zuvor, und Joséphine lief barfuß über den Strand. Johnny gesellte sich zu ihr. „Du hast gelogen. Was macht Steffie wirklich?“
  Wieder wurde Joséphine rot. Sie wusste doch, dass Johnny etwas bemerkt hatte. „Sie nimmt den kürzesten Weg durch den Wald zum Schatz. Sie misstraut der Familie und wollte nicht, dass sie wissen, dass auch sie auf dem Weg zum Schatz ist.“
  Johnny nickte. „Sehr klug von ihr. Aber, weißt du, ich denke genau wie sie. Ich bin nur nicht mit ihr gegangen, weil ich euch beschützen wollte. Wie solltest du ohne einen erfahrenen Geheimagenten hier überleben?“ Er lachte und sie knuffte ihn freundschaftlich in die Seite.
  Die Gefährten hofften, den nächsten Bach noch am selben Tag zu erreichen. Zwar hatten sie diesmal die Glasflasche dabei, in der die Schatzkarte gesteckt hatte, doch auch dieser Vorrat hielt nicht ewig, schon gar nicht bei sechs Personen und der glühenden Hitze. Sie liefen stundenlang, und irgendwann war die Flasche leer. Nach weiteren gefühlten Stunden kam er  dann: Der vorhersagte Wetterumschwung. In der einen Sekunde war es noch immer so glühend heiß wie immer, und in der nächsten Sekunde war es da  eiskalt, und ebenso kaltes Wasser prasselte auf sie hinab. Es war ein Schock, doch ein willkommener Schock. Die erhitzte Haut wurde gekühlt, der Durst gelöscht, die Flasche wieder aufgefüllt. Zehn Minuten später hörten die Kälte und der Regenschauer ebenso schlagartig auf, wie sie begonnen hatten und es wurde wieder so warm, dass die nassen Sachen schon nach einer Viertelstunde wieder trocken waren.
  „Wow. Das nenne ich mal einen Wetterumschwung“, meinte Joséphine.
  Als sie abends gegen sechs Uhr (sie konnten nur schätzen, denn Steffies wasserdichte Uhr war mit ihr verschwunden) dann endlich das Gluckern eines Baches hörten, stürmten sie alle los und tranken vom frischen, kühlen Wasser. Der kleine Junge hüpfte sogar hinein, da es so furchtbar heiß war, doch seine Mutter zog ihn sofort wieder hinaus und schimpfte mit ihm auch chinesisch. Und sie hatte recht: Der Wasserlauf war keineswegs ein Bach, wie er sich angehört hatte. Nein, sobald sie näher kamen, trafen sie auf einen mindestens zehn Meter breiten Fluss, der in keinster Weise mit dem Bächlein des letzten Tages zu vergleichen war. Das Delta war dementsprechend gigantisch, und der Anblick raubte allen den Atem. Plötzlich kamen sie sich so klein und unbedeutend vor wie Ameisen im Vergleich zu einem Menschen.
  Sie schlugen ihr Lager etwa zwanzig Meter vom Fluss entfernt auf, damit das Rauschen nicht allzu laut war, und versammelten sich um die Karte.
  „Ab hier geht’s nach Westen weiter“, stellte Joséphine fest. „Durch den Wald.“ Alle Blicke wandten sich der Mauer aus Bäumen zu, die im Dämmerlicht drohend vor ihnen aufragte.
  „Also dann“, meinte der Koch und wechselte das Thema. „Wenden wil uns wilklich wichtigen Dingen in Leben zu: Essen.“
  Unter den Blicken der anderen, die unwohl zwischen ihm, dem Wald und der Katze hin- und herschauten, erhob er sich und stapfte durch den feinen Sand zum Waldrand, der etwa dreißig Meter entfernt war. Dort bückte er sich und hob etwas auf, das Joséphine der der Entfernung nicht erkennen konnte. Auf jeden Fall war es schwarz. Wieder Kakerlaken? Doch der Koch setzte das Etwas auf seinem Oberarm ab und sammelte dann weiter, wobei das Etwas an seinem Arm kleben blieb.
  Auf diese Weise machte er eine Weile weiter, beobachtet von den fünf anderen, die, jeder in seine Gedanken versunken, schweigend dasaßen.
  Joséphine setzte sich so hin, dass sie den Sonnenuntergang über dem Meer sehen konnte. Der Sand war noch warm, und sie ließ ihn sich nachdenklich durch die Finger rieseln, während sie die letzten Sonnenstrahlen und den spektakulären Anblick genoss.
  Johannes erhob sich von seinem Platz etwa fünf Meter von ihr entfernt, von wo er sie die ganze Zeit ziemlich ungeniert angestarrt hatte. Joséphine tat, als würde sie ihn weiterhin nicht bemerken und setzte wieder ihre nachdenkliche Miene auf. Als Johannes zu ihr kam und sich neben ihr niederließ, drehte sie den Kopf, als hätte sie ein leises Geräusch gehört, doch sie blickte ihn noch immer nicht an. Dann gähnte sie laut, stand auf, streckte sich, dass ihre Knochen knackten und schlenderte zum Koch. Da musste Johannes sich schon etwas mehr Mühe geben, wenn er mit ihr reden wollte.
  Als Joséphine beim Koch ankam, vergaß sie auf einen Schlag ihre „Probleme“ mit Johannes: Die Dinge, die des Koches Arm dunkel färbten und ohne weiteres daran kleben geblieben waren, waren nichts anderes als schwarze Schnecken! Sie schleimten auf und ab, die Häuser wackelten herum, und die wuselnde Menge schleimiger Schnecken drehte Joséphine den Magen um.
  Sie legte eine Hand auf den Bauch und drehte sich weg. Da verursachte nicht einmal Johannes ihr eine solche Übelkeit.
  Als sie wieder aufschaute, sah sie Kabuki an der Hand seiner Mutter auf sie zukommen. Er triefte noch immer vor Wasser und schniefte. Joséphine musste sich unwillkürlich eingestehen, dass sie Angst um den Kleinen hatte – für ihn war das ganze Abenteuer sicher nicht leicht, und eine Erkältung würde wohl das Letzte sein, das er jetzt gebrauchen konnte.
  Die beiden liefen an Joséphine vorbei. Der Junge schaute sie aus großen, unschuldigen Augen an, während die stille Mutter sie eiskalt ignorierte. Überhaupt fragte sich Joséphine, wie ein so offener und freundlicher Mann wie der Koch es mit einer solch ignoranten Person wie Lixiti treiben und ein Kind zeugen aushalten konnte. Der Gedanke ließ sie pervers grinsen lächeln.
  Sie ging zurück zu Johnny und Johannes und setzte sich neben ihren neuen besten Freund (Johnny). Seit die beiden damals vor ein paar Tagen ihre Freundschaft gegründet hatten, waren sie unzertrennlich. Den ganzen Weg über von dem Punkt an, an dem Steffie sie verlassen hatte, haben sie miteinander geredet. Nie war ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen, sie hatten Erfahrungen ausgetauscht, Gemeinsamkeiten gefunden, und Joséphine hatte keine Mühe damit gehabt, das Fan-Girl zu unterdrücken. Wenn sie ehrlich war, existierte es gar nicht mehr. Johnny war nun ein Mensch, und kein Film-Mythos mehr. Er war nun ein Mensch, der ihr so sehr am Herzen lag, dass sie für ihn sterben würde. Und ihr Freundschaftsband war nach diesen wenigen Tagen schon so fest verknüpft, dass sie wusste, dass er ebenso für sie sterben würde, wenn es denn nötig gewesen wäre.
  Im Moment schwiegen sie, ignorierten einvernehmlich den frustrierten Johannes und beobachteten den Koch. Als er auf sie zukam, schwankten gerade seine Frau und sein Sohn aus dem Wald, beladen mit Feuerholz.
  Das Leben gefiel Joséphine im Moment. Sie hatte einen besten Freund, einen jungen Mann, der eindeutig in die verliebt war, eine idyllische Insel und zumindest momentan prächtiges Wetter. Ihr gefiel das abenteuerreiche Leben mit dem Schlafen am Lagerfeuer und auf dem Strand, dem Sternenhimmel über sich, dass sie den Sonnenauf- und Untergang beobachten konnte, wann sie wollte, und dass sie keine nervigen Termine hatte, ebenso wenig wie nervende Mitarbeiter wie Susan und Johnson.
  Das Einzige, das sie vermisste, war ihre Brücke, Steffie und das Gefühl, jederzeit nach Hause zu können. Letzteres war das Schlimmste. Mochte ja sein, dass sie sich hier wohlfühlte, allerdings war sie auch erst vier Tage hier. Wer weiß wie lange sie noch hier sein musste, und vielleicht würde sie ja irgendwann wahnsinnig werden? Wenigstens hatte sich Begleiter und war nicht so einsam wie der bemitleidenswerte Robinson Crusoe. Obwohl, der hatte ja seinen Kannibalen namens Freitag. Und selbst Johannes war eine bessere Begleitung als ein Kannibale. Wenigstens war diese Insel unbewohnt, also gab es zumindest keine Gefahr, dass irgendwann ein Kannibale aus dem Wald stürmte und in ihren Arm biss.
  Lixiti warf ihre Äste auf den Boden, und Kabuki warf seine daneben. Johnny zückte das Windfeuerzeug, das Steffie ihm überlassen hatte (oder hatte er etwa seine eigene Agentenausrüstung dabei?) und entzündete das Feuer. Schon bald flackerten kleine rote Flammen darauf hervor, und Joséphine kroch näher, um sich zu wärmen. Es wurde rasch kälter, viel kälter, also holte sie ihren weißen Strickpullover aus dem Rucksack und zog ihn über. Er passte sogar zu ihrer khakifarbenen Shorts, was Joséphine aus irgendeinem Grund glücklich machte.
  Hypnotisiert starrte sie in die Flammen. Sie hatte Hunger und versuchte, ihn mit in-die-Flammen-Starren zu verdrängen, doch das erste Knacken war unüberhörbar. Joséphine schloss die Augen.
  „Bäh“, hörte sie jemanden flüstern. Johannes. Was für ein Weichei.
  „Wel möchte elstes Schnecke? Sein exquisite Sollte!“ Joséphine schluckte, als ihr aufging, dass sie selbst ein Weichei war. Also öffnete sie die Augen.
  „Ich will“, sagte sie. Wieder starrten sie alle an, als sie die aufgespießte Schnecke vom grinsenden Koch entgegennahm. Durchsichtiger Schleim lief am Stock hinunter, und die glibberige Masse des Tiers waberte noch höchst lebendig und in Todeskrämpfen hin- und her. Die Fühler fuhren sich notorisch ein und aus. Vermutlich war irgendetwas Lebenswichtiges durchbohrt worden. Konnte der Koch die Schnecken nicht wenigstens so töten, dass sie auch tot waren?
  Joséphine hielt den Stock in die Flammen und ignorierte die anderen. Bald waren auch sie versorgt, und es kehrte Stille ein, als jeder seine eigene Schnecke betrachtete.
  Joséphine betrachtete die ihre erst wieder, als sie puffend in Flammen aufging. Schnell zog sie den Stock hinaus und wedelte damit in der Luft herum, bis das Feuer ausging. Von der Schnecke war nur noch ein schwarzer Klumpen übrig.
  Phuh, dachte Joséphine erleichtert. Noch eine Schonfrist.
  Sie kratzte die verkohlte (und endlich tote) Schnecke in den Sand und der Koch hob ihr wortlos eine neue hin. Allerdings verspürte sie keinen Drang, die Schnecke selbst aufzuspießen, also hob sie dem Koch ebenfalls wortlos ihren Stock hin, was dieser mit einem leisen Lächeln quittierte.
  Neben ihr erklang ein Knacken, und Joséphine wendete den Kopf. Sie beobachtete Johannes, der umständlich sein Schneckenhaus aufknackte. Die Schnecke selbst war noch immer gelblich, aber nicht mehr schleimig. Und tot war sie auch. Johannes nahm die häuserlose Schnecke ohne große Umschweife in die Hand und steckte sie sich in den Mund. Er kaute, schluckte. Sein Gesichtsausdruck blieb normal. „Karotte“, murmelte er mit vollem Mund. „Nichts Besonderes, aber nicht schlecht.“
  Karotte? Die Schnecken schmeckten nach Karotten?
  Johnny brach in Gelächter aus, und die Absurdität der Situation ließ auch Joséphine lachen. Allerdings waren die beiden die Einzigen, denn Johannes fand das ganze gar nicht lustig, und die Familie war wohl ziemlich enttäuscht, was den Geschmack anbelangte. Also hielt Joséphine ihre neue Schnecke ins Feuer und beobachtete dann Johnny, der nun ebenfalls seine Schnecke aß.
  „Mhhh… ich liebe Karotten. Das schmeckt wirklich gut.“
  Joséphine schüttelte angeekelt den Kopf. Diese Schnecken würden garantiert nicht auf ihren Speisezettel kommen. Wer möchte schon Schnecken essen, die nach Karotten schmecken, wenn es auf der Welt echte Karotten im Überfluss gab?
  Etwa drei Minuten später war Joséphines Schnecke auch fertig. Sie knackte sie auf, roch daran und steckte sie sich dann in den Mund. Es schmeckte ungefähr so, als wäre eine Karotte weich und schleimig geworden, aber es schmeckte noch immer nach Karotten. Joséphine hätte definitiv Besseres erwartet von dieser Zauberinsel.
  Sie schaffte nicht mehr als zehn Stück von den Dingsdas, obwohl sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Sie bekam einfach nicht den Gedanken aus dem Kopf, dass es immer noch eine Schnecke war, die sie aß, auch wenn sie nach Karotte schmeckte.
  Während die anderen noch zugriffen, dachte sie nach. Wo war sie bloß gelandet in ihrem Leben? Eigentlich sollte sie schon längst in Deutschland sein. Sicher machte sich ihre Familie Sorgen. Und Johnson führte Freudentänze auf, weil er dachte, sie wäre tot. Sicher war der Flugzeugabsturz in allen Medien verbreitet worden. Ob es Überlebende gab? Wieder kamen Schuldgefühle in ihr hoch – sie hätte ihr Leben opfern können, damit andere Menschen gerettet werden konnten. Stattdessen hatte sie sich, selbstsüchtig wie sie war, einfach den Fallschirm geschnappt und sich dann noch geärgert, als sie zwei weitere Passagiere hatte. Trotzdem, es gab sechs Überlebende. Drei mehr als Fallschirme vorrätig waren.
  Sie dachte auch über ihre momentane Situation nach. Sie war jetzt seit vier Tagen auf dieser Insel, und es kam ihr schon vor wie eine Ewigkeit. Da Steffie ebenfalls den Schatz suchte statt Hilfe zu holen, würde vermutlich noch eine wirkliche Ewigkeit vergehen, bis sie hier fortkam.
  Wieder war da dieser Nebel vor den Sternen. Joséphine vermisste den Himmel – den richtigen Himmel, ohne Nebel, ohne blöde Kuppel. Sie wollte die Sterne sehen. Sie wollte wieder daheim sein.
  Johannes kam zu ihr. Diesmal wies sie ihn nicht ab. Sorge spiegelte sich in seinen Augen wieder. „Geht es dir gut? Du siehst traurig aus.“
  Sie spürte Tränen aufsteigen. „Ich habe es satt, hier zu sein.“
  Er nickte ernst. „Ich auch.“
  „Setz dich zu mir.“ Sie wusste nicht, was in sie gefahren war. Er sah zwar unglaublich gut aus, doch er war ein Schwachkopf. Warum hatte sie dies gerade gesagt?
  Auch er schien überrascht zu sein. Dann wurde er rot wie eine Tomate (was Joséphine im Dunkeln nur erahnen konnte) und setzte sich neben sie in den Sand.
  Wieder übernahm ihr Körper die Kontrolle über sie, und sie schmiegte sich an ihn. Auf eine unergründliche Weise spendete er ihr jetzt Trost nach diesen melancholischen Gedanken. Nach zwei verdatterten Sekunden legte er unbeholfen die Arme um sie und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.

*

Wow, wie sie duftete. Einfach unglaublich. Und da sollte man meinen, dass Haare nach vier Tagen auf einsamen Inseln nicht so wunderbar rochen wie diese hier. Und sie war so weich. Und so warm. So anschmiegsam – und so traurig.
  Er wagte nicht, sich zu bewegen. Den Moment zu zerstören. Er genoss jeden Augenblick mit ihr. Ihr weicher Kaschmirpullover schmiegte sich an seine Arme, seine Beine berührten die ihren. Nach einer Weile merkte er, dass sie eingeschlafen war.
  Sanft legte er sie neben sich, ihre Beine näher ans Feuer. Es würde kalt werden in der Nacht.

*

Joséphine erwachte, als die Sonne ihr ins Gesicht schien. Sie merkte, dass ihre Arme um Johannes’ Hals geschlungen waren, und dass die seinen um ihre Hüfte lagen. Sein Gesicht war weniger als fünf Zentimeter von ihrem entfernt. Er schlief.
  Ihre erste Reaktion war Entsetzen. Doch dann merkte sie, dass sie sich zu sehr in die bloß-nicht-Johannes-mögen-Phase hineingesteigert hatte. Als sie dies erkannte, wurde sie ruhig. Und glücklich. Dass sie hier lagen, Arm in Arm, konnte nur heißen, dass er sie ebenfalls mochte. Und sie mochte ihn. Sehr sogar.
  Sein Gesicht sah friedlich aus in der Morgensonne. Vorsichtig hob sie einen Arm hinter seinem Hals hervor und fuhr mit ihrem Finger die Konturen seiner Nase nach. Sie erinnerte sich noch, wie er in der siebten oder achten Klasse mit den anderen Jungs Quatsch gemacht und sich da die Nase gebrochen hatte.
  Eine Weile war sie noch versunken in das Gesicht vor ihr, dann löste sie sich sanft aus seiner Umklammerung. Was war gestern nur geschehen? Wie konnte sich ihre Zuneigung zu ihm von einem Augenblick auf den anderen entwickeln? War es so etwas wie Liebe auf den fünfzigsten Blick? Und sollte sie diesen Zustand so lassen? Wollte sie mit ihm zusammen sein? Oder sollte sie dagegen ankämpfen?
  Resigniert stand sie auf. Wie kompliziert Liebe doch war – und Liebe war es auf jeden Fall. Vielleicht hatte sie sich ja in ihn verliebt, als sie ihn das erste Mal wieder gesehen hatte, damals auf dem Flughafen, als er sich mit dem Polizisten gestritten hatte. Vielleicht hatte sie die Liebe bis dahin nur verleugnet. Und gestern, als sie traurig war und er ihr Trost gespendet hatte, da war ihr klar geworden, dass er für sie da war, wenn es ihr schlecht ging? Dass sie ihn wirklich mochte?
  Vielleicht.
  Joséphine blickte sich um. Johannes, Johnny, Lixiti und Kabuki lagen um den verkohlten Fleck des ehemaligen Lagerfeuers herum. Der Koch war verschwunden.
  Joséphine runzelte die Stirn. Wo war der Koch? Sei vorsichtig, wem du vertraust. Sie schluckte.
  Da trat der Koch aus dem Wald, beladen mit Ästen. Als er sie erblickte, winkte er ihr zu, und dabei fiel ihm die Hälfte seiner Last runter. Beim versuch, sie wieder aufzuheben, fiel auch der Rest zu Boden. Joséphine lächelte und eilte ihm zu Hilfe. Wie konnte sie ihn nur verdächtigen? Er war doch nur ein chinesischer Tourist!
  „Danke. Sein sehl nettes Fläulein.“ Er grinste sie an, und sie grinste zurück. Gemeinsam liefen sie zu den anderen und entzündeten ein neues Lagerfeuer.
  Johannes erwachte. Müde schaute er sich um. Als sein verschlafener Blick an Joséphine hängenblieb, lächelte sie ihm zu. Verträumt lächelte er zurück.
  Sie setzte sich zu ihm, während der Koch Schnecken zum Frühstück sammelte. Noch immer müde kuschelte sich Johannes an sie und nickte wieder ein.
  Joséphine dachte darüber nach, wie das wohl aussehen mochte. Als ob sie zusammen wären? Als ob sie ein Liebespaar wären?
 Johnny lieferte ihr die Antwort indem er aufwachte und bei ihrem Anblick in lautes Gelächter ausbrach.
  Sie zog ein missmutiges Gesicht. War es so schrecklich, sie beide zusammen zu sehen?
  „Du solltest euch sehen!“, grunzte Johnny lachend. „Du mit einem resignierten Gesichtsausdruck und er wie er sich an dich klammert, schläft und sabbert!“
  „Hmpf…“
  Der Koch kehrte zurück und warf Joséphine einen bedeutungsvollen Blick zu. Konnte sie denn keiner in Ruhe lassen? Sie verdrehte die Augen.
  Nach und nach erwachten die anderen. Nach dem Frühstück verschwand Joséphine zwei Meter in den Wald und zog sich ihre lange Jeans und die Sportschuhe an. Das Wetter heute war normal. Die Sonne schien zwar, doch es war nicht wirklich warm, aber es war auch nicht kalt, und es wehte kein Wind.
  „Lasst uns gehen“, meinte Johnny. „Je schneller wir es hinter uns bringen, desto besser.“ Auch Joséphine war nicht ganz wohl beim Anblick des Djungels. Zu ungewiss war es dort. Und zu dunkel. Kaum war man einen Meter drin, hatte man kaum noch Licht. Nicht einmal von oben, da die Blätter der Bäume ein festes Dach bildeten. Und es war immer kalt und nass.
  Der Koch schulterte seinen Rucksack. „Los, los.“ Er lief voraus, und im Gänsemarsch liefen sie ihm hinterher. Direkt hinter ihm lief Lixiti, hinter ihr und ihre Hand umklammernd der kleine Kabuki. Dahinter Johnny. Dann kam Joséphine und am Schluss Johannes.
  Das Voranschreiten verlief in Schneckentempo. Bei jedem Schritt musste man aufpassen, dass man nicht über Wurzeln stolperte oder sich weiter oben an einer herunterhängenden Liane aufhängte. Licht hatten sie jedoch, da sie sich am Fluss entlang fortbewegten und dort ein Spalt zwischen den Blättern am Ufer war.
  Der Wald war beängstigend. Am ehesten ließ er sich noch als Regenwald bestehend aus Palmen beschreiben. Es war schwül, man schien Wasser einzuatmen. Und nicht zu vergessen die Tiere.
  Seltsame Geräusche tönten durch die Stille. Affengeräusche. Fledermausschreie. Seltsames Geraschel in den Pflanzen neben ihnen. Zumindest hörte es sich danach an. Man konnte ja nie wissen, was sich hinter den Geräuschen versteckte. Wie war das nochmal mit den Mutationen der Tierwelt?
  Zwei Mal kam es auch zu kleinen Zwischenfällen. Das erste Mal lief ihnen eine Maus über den Weg. Sie war schwarz und hatte rote Augen. Das seltsamste aber waren die roten Höcker zwischen den Ohren. Eine weiße Eule stürzte aus dem Blätterdach nach unten und schnappte sich die Maus.
  Der zweite Zwischenfall war etwas schlimmer. Wenn nicht zu sagen extrem schlimm.
  Es passierte nach dem Zwischenfall mit der Maus und etwa fünf Stunden, nachdem sie losgelaufen waren.
  Und natürlich hatte es etwas mit Johannes zu tun.
  Er lief am Schluss der Reihe. Als sich alle nacheinander unter einer Liane hindurchduckten, verpeilte er es und stieß mit dem Kopf dagegen. Nur stellte sich dadurch heraus dass es keine Liane war, sondern eine giftgrüne Schlange. Sofort öffneten sich bernsteingelbe Augen mit schlitzförmigen Pupillen, und die Schlange sprang mit geöffnetem Rachen auf Johannes zu. Er schrie auf, und da war es schon zu spät: Die Giftzähne der Schlange hatten sich durch den Pulli in seinen Oberarm gebohrt.
  Die Schlange wand sich so lange, bis sie sich befreit hatte, und als Joséphine ihm zu Hilfe eilte, war sie schon verschwunden.
  Johannes sank zu Boden. „Mir… ist…schwindlig…“ Dann fiel er ihn Ohnmacht.
  „Johannes! Johannes! Oh Gott!“, schluchzte Joséphine und umklammerte seine Hände. Dann wurde sie zur Seite gestoßen. Der Koch kniete sich vor Johannes, fühlte seinen Puls und kontrollierte seine Pupillenreflexe. Dann drehte er sich zu Joséphine um und grinste sie an. „Sein nix Schlimmes. Sein Betäubungsgift von Schlange. Nix Sterben.“
  Der Rest des Tages verging eintönig. Sie trugen Johannes abwechselnd zwischen sich, was eine anstrengende Arbeit war. Er war schwer, und der Weg schwierig. Voller Wurzeln, Erdbrocken und heruntergefallenen Lianen. Zusätzlich musste darauf geachtet werden, nicht umzukippen und in den Bach zu fallen.
  „Dieser Volltrottel“, hörte sie Johnny einmal murmeln, als wieder die Trageschichten gewechselt wurden.
  Gegen zwei Uhr nachmittags suchte der Koch etwas zu Essen, fand aber nur giftig aussehende Beeren. „Sein nix giftig. Nein, nein.“ Zur Demonstration steckte er sich einen Haufen in den Mund, und als er nach fünf Minuten noch nicht tot war, griff auch Joséphine zu.
  Johannes erwachte nach weiteren zwei Stunden anstrengenden Tragens. Nach einer halbstündigen Pause konnte er auch wieder laufen. Joséphine versteckte, welche Sorgen er sich um ihn gemacht hatte. Schließlich waren sie nicht zusammen. Dass sie gestern eine melancholische Phase und mit ihm gekuschelt hatte und dass ihr aufgegangen war, dass sie ihn liebte, hatte noch nichts zu sagen. Nichtsdestotrotz sollten sie sich erst einmal besser kennenlernen, bevor sie einen weiteren Schritt wagten. Außerdem wollte Joséphine sich Zeit lassen, zu erkennen, ob ihre Gefühle wirklich waren – nicht dass er sie plötzlich anekelte während sie gerade…
  Gegen sechs Uhr abends trafen sie auf eine winzige Lichtung vor einem großen Baum. Dass es sechs Uhr war, konnten sie daran erkennen, dass es anfing dunkler zu werden – sie befanden sich hier zwar in der Karibik (oder irgendwo in der Nähe), doch bis jetzt war es an jedem Tag zur gleichen Zeit dunkler geworden.
  Familie Wong sammelte gemeinsam mit Johnny Holz (das Unterholz besteht aus diversen Büschen – nicht dass ihr euch fragt wo sie immer das Holz herbekommen, wo doch der ganze Wald aus Palmen besteht), während Joséphine Johannes aus seinem Pullover half. Beim Anblick seiner muskulösen Brust stockte ihr kurz der Atem, dann wurde sie rot. Johannes merkte davon nichts, denn er hatte die Augen geschlossen. Vermutlich hatte er Schmerzen.

*

Johannes schloss die Augen und konzentrierte sich auf Joséphines sanfte Finger, die über seine Brust strichen. Es fühlte sich so wundervoll an. Und es ließ den Schmerz des Schlangenbisses zu einem leisen Pochen schrumpfen.
  Er zuckte zusammen, als sie die Bisse berührte. „Sorry“, murmelte sie. Und dann: „Das sieht übel aus.“ Er selbst hatte es noch nicht gesehen, aber das wollte er auch gar nicht – vermutlich sah es grauenvoll aus. So wie es sich anfühlte.
  „Warte kurz“, meinte seine Traumfrau. Er hörte, wie sie sich erhob, wegging, und dann wieder kam. Dann floss Wasser über seinen Arm. Vermutlich aus der Glasflasche. Es hörte es Gluckern, und es brachte eine kühle Linderung. Er seufzte erleichtert. Eine warme Hand legte sich auf seine Wange.
  Er öffnete die Augen und blickte in Joséphines besorgtes Gesicht. Dann lächelte er schwach. Und wurde wieder ohnmächtig.

*

„Mensch!“, schimpfte Joséphine. „Wieso wird er wieder ohnmächtig?“
  Der Koch trat zu ihr, eine selbstgedrehte Fackel in der Hand, die er neben ihr in den Boden steckte. „Sein nicht bekannte Schlange. Vielleicht sein neues Gift? Abel nicht sein tödlich, nein, nein.“
  Die Familie und Johnny hatten ihr Holz neben Joséphine abgeladen, damit man Johannes nicht wieder herumtragen musste. Bald schon flackerte es lustig.
  „Können wir nicht umdrehen?“, fragte Joséphine. Sie hatte schon jetzt genug vom Wald. Der nasse Boden, auf dem sie saß und der ihre Hose mit Matsch befleckte, der Fluss, dessen Wasser immer grüner und unappetitlicher wurde, das spärliche Licht, das nur aus der Seite des Flusses kam. Die undefinierbaren Tiergeräusche, die aus dem Wald drangen. Und ganz klar die Angst vor irgendwelchen Schlangen mit neuen Giften die einen immer wieder ohnmächtig werden ließen.
  „Natüllich wil können. Sein nix Ploblem. Abel dann nix finden Schatz!“
  Joséphine schüttelte seufzend den Kopf. „Stimmt schon. Aber wir brauchen doch gar keinen Schatz. Ich bin eine der reichsten Frauen der Welt! Ich will einfach nur nach Hause.“
  Johnny grinste sie an. „Darüber haben wir doch vorgestern schon gesprochen, als wir die Karte gefunden haben. Wir haben abgestimmt, dass wir der Karte folgen wollen. Du auch.“
  „Ja, ich weiß. Und ich werde meine Entscheidung nicht zurückziehen. Aber es ist wirklich mies hier.“
  Darauf sagte niemand mehr etwas – eine stumme Zustimmung.
  „Haben Sie etwas für Johannes’ Wunde?“, fragte sie den Koch.
  „Ah. Klal. Sein Antibiotika? Damit sich nicht entzündet Wunde. Rest muss machen Immunsystem selbst.“
  Sie nickte. Er gab ihr ein kleines Fläschchen.
  In diesem Moment erwachte Johannes wieder und stöhnte vor Schmerzen auf. Sofort warn Joséphine bei ihm. „Alles in Ordnung?“
  Er lachte sie an. „Bis auf die Tatsache dass ich von einer Schlange gebissen wurde, ja.“
  „Hier. Schluck das.“ Sie drückte ihm das Fläschchen in die Hand.
  Seine Augen wurden groß. „Ehrlich jetzt? Ist das Antibiotikum? Wo kommt das denn her!“
  „Der Koch hatte es dabei.“
  Johannes schielte auf den Koch, der auf den großen Baum zulief und mit einem Stock im Boden herumstocherte. „Man hat nicht einfach mal so Antibiotika dabei wenn man aus einem Flugzeug springt.“
  Joséphine wurde wütend. „Hör doch auf mit deinen ganzen Vorurteilen. Immer greifst du den Koch an. Was hast du nur gegen ihn?“
  „Ich bin nur objektiv.“
  „Klar, so wie Steffie. Ihr seid doch alle beide blind. Der Koch ist ein guter Mann. Ich würde mir eher um seine Frau Sorgen machen!“
  Johannes schaute neugierig. „Steffie hatte auch etwas gegen den Koch? Dann muss es ja stimmen! Schließlich ist sie ja eine Agentin, wenn ich das richtig verstanden habe!“
  „Ach, sei still! Jetzt darfst du deinen Pullover übrigens selbst wieder anziehen.“ Eingeschnappt rutschte sie zu Johnny hinüber und fing mit ihm ein Gespräch übers Quallenfischen an. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Johannes zögerte und schließlich das Antibiotikum doch einnahm. Was hatten alle gegen den Koch?
  Die sollten mal daran denken, was sie ohne ihn tun würden! Niemals wären sie auf die Idee gekommen, Kakerlaken oder Schnecken zu essen!
  „Aha!“, ertönte da ein triumphierender Laut. Der Koch hielt den Stock in die Höhe und daran baumelte – eine Schlange!
  Sie war mindestens einen Meter fünfzig lang und dunkelbraun mit roten Flecken. Und anscheinend ihr heutiges Abendessen.
  Blitzschnell schnappte sich der Koch den Kopf der Schlange und drückte das Maul zu, damit sie nicht zuschnappen konnte. Dann kam er zu ihnen. „Lixiti, Schatzileinchen.“ Wortlos erhob sie sich, ein Schweizer Taschenmesser in der Hand, und schnitt der Schlange den Kopf ab. Der Koch hielt die zuckende Schlange von ihnen weg, damit niemand vom herausspritzenden Blut getroffen wurde. Die Gefährten sahen nur stumm zu. Kabuki vergrub sein Gesicht in den Händen.
  „Ah, mjam mjam“, meinte der Koch. Joséphine und Johnny tauschten einen Blick.
  Der Koch nahm seiner Frau das Messer ab, dann verschwand er zum Fluss. Lixiti nahm den abgetrennten Schlangenkopf und folgte ihrem Mann.
  „Uah“, meinte Joséphine. „Die Szene hätte glatt in einen Horrorfilm gepasst.“
  Johnny lachte. „Stimmt. Und wir sind mittendrin.“
  Da kam Johannes angekrochen. Eine Hand hielt er auf die Wunde gepresst, die andere hatte er auf dem Boden abgestützt, während er auf den Knien näherrobbte. „Autsch“, sagte er und blieb neben Joséphine sitzen. Sie war noch immer wütend auf ihn, doch ihre Gefühle nahmen wieder mal Überhand und sie legte ihm eine Hand an die Wange. „Alles okay?“
  Er legte seine Hand über ihre und setzte ein Seeräubergrinsen auf. „Klar.“
  Es raschelte in den Büschen neben ihnen, und alle fuhren herum. Kabuki mit einem leisen Schrei. Und dann traten der Koch und Lixiti heraus. Lixiti hockte sich zu ihrem Sohn, während der Koch ans Feuer trat. Die ehemalige Schlange war nun längs aufgeschnitten und ausgenommen. Sie war einmal vorne und einmal hinten auf einen spitzen Stock gespießt worden. „Riecht daran“, ereiferte sich der Koch und wedelte mit den Überresten der Schlange vor Joséphines Gesicht herum. Ein Schwall fischiger Luft schlug ihr entgegen. „Phuh“, machte sie. Schlangen die nach Fisch rochen?
  „Ja ja, liechen nach Fisch, nicht? Vielleicht schmecken auch danach!“
  Ah. Fisch. Wenigstens etwas Normales.
  Der Koch fand zwei Y-förmige Stöcke, steckte sie gegenüber außerhalb des Feuers auf und legte den Schlangenspieß darauf. „Mjam mjam“, wiederholte der Koch und klatschte breit grinsend in die Hände.
  Das Abendessen verlief schweigend. Die Schlange schmeckte wirklich nach Fisch, allerdings nach keinem Joséphine bekanntem. Einfach nach Fisch. Und ein Bisschen auch nach nichts.
  Nach dem Essen rückte sie sofort zu Johannes, lehnte sich an ihn und schlief sofort ein. Wie gestern.
  Der nächste Tag war der Horror. Hatte Joséphine je an einem der vorherigen Tage gewusst, wie mies dieser Tag werden würde, hätte sie nur gelacht. Schließlich war sie auf einer einsamen Insel gestrandet und musste Insekten essen. Was konnte schlimmer sein?
  Aber dieser Tag war es eindeutig.
  Der Morgen begann friedlich. Joséphine erwachte in Johannes’ Armen, wie auch am Morgen zuvor. Man sah Sonnenstrahlen durch das dichte Blätterdach schimmern, was die Laune hob. Das Wasser glitzerte. Alle waren gut drauf.
  Nachdem sie ihre Sachen gepackt hatten setzten sie ihren Weg im Gänsemarsch fort. Wieder ging es so zäh voran wie auch gestern schon. Voraus lief der Koch, hinter ihm und sich an seine Hand klammernd Kabuki. Dahinter kam Johnny, dann Joséphine und hinter ihr Johannes. Heute hielten sie Händchen. Am Schluss lief Lixiti. Sie war damit beschäftigt, gesammelte Blätter auf ein Stück Schnur zu reihen, weshalb sie ein wenig langsamer lief und ganz hinten bleiben wollte. Sie meinte, sie wolle die Heilkraft der hiesigen Kräuter testen, sobald sie wieder zu Hause war. Möglicherweise seien auch die Pflanzen verändert.
  Es geschah gegen zwölf Uhr mittags. Nach dem ununterbrochenen Laufen waren alle müde, und es war eine Pause gegen ein Uhr ausgemacht worden. Bevor es aber dazu kam, erreichten sie eine schwierige Stelle. Vor ihnen und neben ihnen wurden die Bäume allmählich so dicht, dass es kein Durchkommen gab. Die einzigen Wege führten entweder zurück, um die zugewachsene Stelle weiträumig zu umgehen, oder ganz nah am Fluss entlang, wenn nicht zu sagen schon im Fluss. Bei der letzten Möglichkeit müsste man sich an den Baumstämmen direkt am Ufer festhalten und sich zum nächsten schwingen, bis wieder Platz zum Gehen war. Diese Möglichkeit war um einiges gefährlicher, natürlich, doch bei der anderen würden sie den Fluss aus den Augen verlieren. Und er war ihr Leitfaden, da sie am Ende des Flusses aus dem Wald herauskommen sollten, so sagte die Karte.
  Sie entschieden einstimmig dafür, den zweiten Weg zu nehmen.
  Was ihnen zum Verhängnis wurde.
  Das Wasser war tief. Zumindest zu tief, um hindurchzuwaten. Der Koch testete den Weg. Einmal rutschte er auf einem glitschigen Streifen Moos aus, doch er konnte sich noch fangen. Dann kehrte er zurück, nahm Kabuki Huckepack und überquerte den gefährlichen Abschnitt. Er war etwa zehn Meter lang, bevor es wieder genug Platz zum Gehen gab.
  Johnny schaffte es ohne Probleme. Er hatte sehr ausgeprägte Muskeln, es fiel ihm also leicht. Auch Joséphine hatte keine Probleme. Johannes überraschenderweise auch nicht, obwohl Joséphine das Gegenteil erwartet hätte, bei seiner Schusseligkeit.
  Nein, es geschah bei Lixiti.
  Die ersten fünf Meter klappten wie am Schnürchen. Die anderen passten schon gar nicht mehr richtig auf, so sicher waren sie, dass es jeder schaffen konnte. Auch Lixiti war sich sicher.
  Natürlich. Man konnte ja nicht wissen, wann man ausrutscht.
  Sie rutschte auf jenem Stück Moos aus, auf dem auch ihr Mann ausgerutscht war.
  Nur dass sie sich nicht mehr festhalten konnte.
  Wie in Zeitlupe erinnerte sich Joséphine daran. Lixiti rutschte aus. Ihre Hände wedelten in der Luft, streiften die rettenden Bäume, griffen dann ins Leere. Und sie fiel ins Wasser.
  Was danach geschah, das würde Joséphine am liebsten vergessen. Es war wie in einem Horrorfilm.
  Nein.
  Schlimmer.
  Lixiti fiel. Sie schrie. Wasser spritzte auf. Und dann war es plötzlich rot, so viel rot. Und Lixitis Schreie wurden lauter, kreischender. Und dann sah Joséphine den Kopf des Ungeheuers: Ein Alligator.
  Seine dunkelgrüne, ledrige Haut passte sich perfekt dem Wasser an. Das Weiß seiner Augen stach extrem hervor. Die Zähne waren rot vor Blut – Lixitis Blut.
  Das Schreien hörte auf. Der Alligator fing an, mit dem Kopf zu schütteln, und Lixiti wurde hin und her geschleudert. Gleichzeitig lief der Koch los, schreiend. Joséphine sah aus den Augenwinkeln, wie Johnny ihn gewaltsam festhielt, doch sie konnte ihren Blick nicht von der grausamen Szene abwenden.
  Lixitis Kopf hing ins Wasser, ihr schwarzes Haar schwebte darauf. Der Alligator hielt still. Beobachtete seine anderen Opfer. Seine Zähne noch immer in der Leiche der Frau vergraben.
  Dann fing es erneut an. Das Schütteln. Und Joséphine sah zu, wie Lixiti zerriss, bis nicht mehr als ein zerfetztes Stück Fleisch von ihr übrig war und Blut, so viel Blut.
  Dann verschwand der Alligator in der Tiefe.
  Nur noch das rote Wasser zeugte davon, was soeben passiert war.
  Und der grausame Schrei, der noch immer in Joséphines Kopf nachhallte.
  Dies alles dauerte nur wenige Sekunden. Schütteln, Pause, Schütteln, Verschwinden.
  Joséphine übergab sich.

*

Johannes eilte Johnny zu Hilfe, als sich der Koch mit schier unmenschlicher Kraft aus seinem Griff losreißen wollte, während er unentwegt den Namen seiner Frau rief. Doch Lixiti war tot, das hatte Johannes mit eigenen Augen gesehen. Er würde bis an den Rest seiner Tage Albträume davon haben.
  Der Koch zerrte noch immer. Der kleine Junge versteckte sich weinend hinter einem Baum. „Lixiti! Lixiti! LIXITI!“, rief der Koch und brüllte: „Lasst los! Lasst mich los!“ Doch Johannes und Johnny dachten nicht daran, Es hätte ihnen gerade noch gefehlt, dass auch der Koch noch ins Wasser spränge.
  „Kommen Sie!“, meinte Johnny. „Sie können ihr nicht mehr helfen! Kommen Sie!“
  „Nein!“, brüllte er. „Lixiti!“
  Und dann, zwei Sekunden später, fiel er in sich zusammen, sein Kopf sank auf die Brust, und ein lautes, hemmungsloses Schluchzen ertönte. Die Freunde warfen sich einen Blick zu. Die beiden Männer ließen den Koch los, Joséphine näherte sich vorsichtig Kabuki, der sich überraschenderweise sofort an sie klammerte und weiterweinte.
  Der Koch klagte und klagte, doch auf Chinesisch, in seiner Heimatsprache, und keiner verstand ihn. Aber eines war klar: Er trauerte um seine verlorene Ehefrau. Zumindest hatte er nun begriffen, dass sie tot war.
  Johannes stand da und beobachtete Joséphine. Wie würde er reagieren, wenn ihr etwas passieren würde?

*

  „Lasst uns weitergehen“, sagte Joséphine leise. „Wer weiß, vielleicht kommt es zurück.“ Unruhige Blicke wurden auf das Wasser geworfen.
  Johnny blickte sich um. Dann meinte er: „Ich gehe voraus und suche erstmal einen Platz, an dem wir bleiben können. In dieser Verfassung kommt keiner von uns weit.“ Und damit hatte er Recht. Nicht nur der Koch und Kabuki waren außer sich – auch Johannes, Joséphine und Johnny standen unter Schock.
  Johnny verschwand, und Joséphine entfernte die klammernden Finger des Jungen um ihr Bein. Dann kniete sie sich vor ihn und blickte ihm in die Augen. „Kabuki?“ Sein trauriger, tränenverschleierter Blick richtete such auf sie. Er schniefte. „Kabuki, deine Mutter ist jetzt an einem besseren Ort. Sei nicht traurig, ja?“ Zur Antwort schluchzte er erneut laut auf.
  Joséphine war traurig. Sie wusste nicht, wie man kleine Kinder tröstete. Schon gar nicht kleine chinesische Kinder. Woran glaubten sie denn? Auch an ein Paradies? An Wiedergeburt?
  Johnny kehrte zurück. Er warf einen Blick auf den jammernden Koch und seufzte. „Wir haben Glück. Gerade mal dreißig oder vierzig Meter von hier entfernt befindet sich wieder eine kleine Lichtung. Dort können wir bleiben.“ Er legte eine Hand auf die Schulter des Kochs. „Kommen Sie. Wir müssen hier weg.“
  Seine geröteten Augen richteten sich nur blicklos auf ihn, dann erhob er sich. Er wirkte wie ein Zombie.
  Joséphine nahm den kleinen Jungen auf den Arm. Er war schwer, doch jetzt brauchte er Trost. Sofort schlang er seine kleinen Ärmchen um ihren Hals und weinte herzzerreißend weiter. Sie zog eine Grimasse. Der arme Kleine.
  Sie kämpften sich weiter durch Unterholz und heimtückische Wurzeln, dann kamen sie auf eine kleine Lichtung. Sie war nicht größer als die letzte, doch nicht nur ein großer Baum beeindruckte hier, sondern gleich ein ganzer Ring davon. Sie umgaben die Lichtung als wären sie künstlich angelegt worden.
  Etwas huschte in den Bäumen, und Joséphine, die eben auf diesen Fleck gesehen hatte, erkannte braunes Fell. Es machte ihr Angst. Was war das?
  Sie setzte den kleinen Jungen ab und eilte zu Johnny. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Kabuki zu seinem Vater rannte. „Da war was in den Bäumen“, raunte sie Johnny zu. „Vielleicht sollten wir besser aufpassen…?“
  Johnny nickte ernst.             „Ich werde meine Waffe laden.“
  Sie blickte entgeistert. „Deine Waffe?!“
  „Äh… nur ein kleines Agentenspielzeug. Nichts Gefährliches.“
  Damit war Joséphine beruhigt. Wenigstens etwas, das sie beschützen konnte.
  Kabuki kam laut heulend auf sie zugerannt und klammerte sich wieder an ihr Bein. Der Koch blickte seinem Sohn mit düsterer Miene hinterher, dann wurde sein Gesicht wieder völlig ausdruckslos.
  Johannes schlurfte zu Joséphine. Sie tauschten einen Blick und sahen das Leid in den Augen des anderen. Dann nahmen sie sich bei der Hand.
  „He!“ Johnny winkte von der anderen Seite der Lichtung. „Gehen wir Feuerholz sammeln?“
  Feuerholz? Aber es war doch gerade mal Mittag!
  Ach ja. So schnell würden sie nicht mehr weitergehen.
  „Geh du nur“, meinte Joséphine zu Johannes. „Ich bleibe hier.“ Sie streichte Kabuki beruhigend mit der Hand über den Kopf. Dann setzte sie sich neben den Koch auf das saftige Gras, das im Sonnenlicht, das von oben hereinfiel, gut gedeihen konnte. Kabuki kletterte auf ihren Schoß, und sie umarmte den Kleinen. Er weinte noch etwa zehn Minuten, dann schlief er mit dem Daumen im Mund ein.
  Sie blickte auf den Koch. Er saß da, die geröteten Augen starr auf das Gras gerichtet. Seine Arme hingen an den Seiten herunter. Keine Regung ließ verlauten, ob er noch lebte. Ob er depressiv geworden war? Sicher hatte er Lixiti sehr geliebt. Es muss grauenvoll sein, jemanden zu verlieren, wenn man gerade mal fünf Meter entfernt war und ihm doch nicht helfen konnte. Sicher machte er sich unheimliche Selbstvorwürfe.
  Plötzlich ertönte ein Schuss. Der Koch, auf dem Joséphine Blick geruht hatte, gab keine Regung von sich. Doch Joséphine zuckte zusammen und Kabuki drehte sich unruhig in ihren Armen.
  Was war das gewesen? War das Johnnys erwähnte Waffe? Waren die beiden in Gefahr? Was war nur los?!
  Dann ertönte ein glückliches Lachen aus dem Wald, das nur Johnny gehören konnte. Trotzdem machte sich Joséphine weiter Sorgen, bis die beiden gesund und munter aus dem Wald traten. Johnny hatte etwas Flauschiges, Braunes über der Schulter hängen, in der Hand ein mindestens ein Meter langes Schießgewehr. Neben ihm trottete Johannes, bis zur Nasenspitze mit Brennholz beladen.
  Johnny lachte erneut und ließ seine Beute auf den Boden fallen. Es war ein Affe.
  Joséphines Kinnlade fiel runter. „Wie konntest du das nur tun! Das arme Tier!!“ Dann warf sie einen genaueren Blick auf die Waffe in Johnnys Händen. Sie schnaubte. „Nur ein kleines Agentenspielzeug? Nichts Gefährliches?“
  Er grinste sein Jack-Sparrow-Piratengrinsen. „Ich habe schon mit größeren Waffen gespielt. Wenn du verstehst, was ich meine.“ Sie boxte ihn dafür gegen das Bein, das ihrer Faust am nächsten war und sah dann grimmig zu, wie Johannes die Äste auf einen Haufen vor ihr schmiss. Johnny schlenderte dazu und entzündete das Feuer. Dann holte er die beiden Y-förmigen Äste von gestern vom Rucksack des Kochs, die dieser dort festgemacht hatte, und steckte sie in die Erde. Dann machte er sich daran, den Affen mit einem spitzen Stock aufzuspießen, doch Joséphine schrie auf. „Spinnst du! Nimm ihn doch erst mal aus! Und häute ihn. Und vergrab die Eingeweide, mir wird noch schlecht davon.“
  Er grinste schon wieder, salutierte dann und verschwand zum Fluss. Im nächsten Moment bereute sie es schon: Vielleicht kam der Alligator zurück? „Johnny!“, rief sie. Sein Kopf tauchte noch einmal aus den Bäumen auf. „Was?“ „Pass auf den Alligator auf.“ Er wedelte zur Antwort nur mit seinem „ungefährlichen Agentenspielzeug“.
  Kabuki regte sich in ihren Armen, dann wurde er wieder ruhig. Sie streichelte ihm beruhigend über den Kopf und hoffte, dass er keine Albträume bekam. Die Fantasie kleiner Kinder war immer wieder erschreckend.
  Johannes setzte sich stumm zu ihr und ergriff ihre Hand. Sie beschloss, Kabuki gemütlich auf dem Rasen zu lagern. Im Schatten. Sie ließ Johannes’ Hand los, dann trug sie Kabuki an den Rand der Lichtung in den Schatten und ließ sich selbst dort nieder. Die Sonne brannte wie am ersten Tag, und nahe am Feuer zu sitzen war kaum auszuhalten. Johannes folgte ihr.
  „Der arme Kleine“, murmelte Joséphine wieder, als sie den Kopf des Jungen auf ihre Beine bettete und sich dann Johannes zuwandte. Sein trauriger Blick traf den ihren.
  „Schlimme Sache“, meinte er leise. Sie nickte. Extrem schlimme Sache.
  Er setzte sich ihr gegenüber, und sie nahmen sich an beiden Händen. Es tröstete Joséphine, dass sie einen Menschen wie Johannes bei sich haben konnte, vor allem in einer solchen Situation. Da wurde ihr klar, dass sie nun dieser Mensch für Kabuki war: Seine Mutter in einen blutigen Tod gerissen, sein Vater manisch depressiv. Der Koch saß übrigens unbeteiligt am Feuer, eigentlich vie, zu nah an den Flammen, die Augen starr geöffnet. Blinzelte er? Hoffentlich. Wäre schlecht, wenn nicht.
  Pfeifend kehrte Johnny zurück. Hatte er denn überhaupt kein Herz? Machte es ihm denn überhaupt nichts aus, das mit angesehen zu haben? Er war sicherlich an vieles gewöhnt, doch er sollte wenigstens ein wenig Rücksicht zeigen!
  „Bleib hier!“, zischte sie Johannes zu und stapfte dann zu Johnny, der den nackten Kadaver des Affen soeben von seiner Schulter auf den Boden schmiss und sich daran machte, ihn aufzuspießen. Joséphine sah weg, während er dies tat, und setzte sich dann wartend auf den Boden. Sie beobachtete ihn, wie er den aufgespießten Affen auf die Äste legte und schmoren ließ. Dann gesellte er sich zu ihr.
  „Spuck’s aus, beste Freundin. Was habe ich schon wieder falsch gemacht?“
  Sie machte ein grimmiges Gesicht. Sie meinte es schließlich ernst! „Du solltest ein wenig Respekt vor der Trauer zeigen! Außerdem hättest du diesen armen Affen verdammt noch mal nicht erschießen sollen!“
  Er lächelte traurig. „Ich habe Respekt vor der Trauer. Ich habe aufgehört zu pfeifen, als ich auf die Lichtung kam. Aber ich kann nichts dafür, dass ich glücklich bin – ich habe schon tausend Menschen sterben sehen, und ich habe gelernt, um Menschen, die ich nicht mochte, nicht zu trauern. Ich mochte Lixiti nicht. Sie war eine falsche Schlange. Ich handele nur, wie ich ausgebildet wurde.“
  „Aber es ist so… herzlos.“
  „Tut mir Leid.“
  „Und der Affe? Wir hätten Besseres finden können!“
  „Ich glaube, es ist das, was du am Anfang gesehen hast.“ Klar, das braune Fell. So viel hatte sie sich auch schon zusammenreimen können.
  Johnny erhob sich, griff einen Stock aus den Flammen und zog damit die Oberlippe des Affen in die Höhe. Rasiermesserschafe, mindestens fünf Zentimeter lange Zähne kamen zum Vorschein. „Es hat uns angegriffen. Wenn es dir lieber gewesen wäre, ich hätte mich auffressen lassen statt aus Notwehr das Tier erschießen sollen…“
  „Nein…“ Okay, Notwehr, das war schon etwas anderen. Außerdem hatte das Vieh tödliche Zähne. „Sorry.“
  „Kein Problem.“ Sie umarmten sich freundschaftlich und saßen dann, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, nebeneinander.
  Stunden schienen so zu vergehen, unterbrochen nur von dem Augenblick, an dem Johnny den Spieß umdrehte um den Affen auch von der anderen Seite zu braten.
  Schließlich nickte sie an Johnnys Schulter ein. Grauenvolle Albträume plagten sie, voller Blut, Affen mit Alligatorköpfen und abgerissenen Körperteilen. Und einem kleinen, weinenden Jungen.
  Sie erwachte, als es schon dunkel war. Nur der Mond schimmerte geheimnisvoll und gruselig auf die Lichtung. Sie merkte, dass sie völlig erschöpft gewesen war.
  Um sie herum schliefen schon alle, neben ihr Johannes, auf der anderen Seite Kabuki. Neben dem Kleinen Johnny. Der Koch saß noch immer an derselben Stelle, doch auch er schien zu schlafen.
  Joséphine blickte auf den Spieß mit dem kalt gewordenen Affenfleisch. Niemand hatte davon gegessen. Auch sie verspürte keinen Hunger. Nur Durst. Sie hatten den ganzen Tag nichts getrunken, seit der Unfall passiert war. Niemand traute sich mehr ans Wasser. Außerdem war es inzwischen zu grün, um noch getrunken werden zu können.
  Sie erhob sich leise, um die anderen nicht zu stören. Im tristen Mondlicht sah alles einsam und langweilig aus. Die Schwärze zwischen den Bäumen verhieß unbekannte Gefahren, die Joséphine einen Schauder über den Rücken jagten.
  Sie näherte sich vorsichtig den Bäumen am Rand der Lichtung und trank das Kondenswasser von der Unterseite eines riesigen Palmenblattes, das fast bis zum Boden reichte. Der Boden war den ganzen Tag feucht, und wenn die Sonne schien wie an einem Tag wie diesem, kondensierte das Wasser an den Unterseiten der Blätter. Es schmeckte frisch und gesund, und sie überlegte, üb sie jetzt die Flasche damit füllen sollte. Doch sie entschied sich dagegen. Morgen würde noch genug Zeit dafür sein. Jetzt war sie nur unheimlich erschöpft. Noch immer, obwohl sie geschlafen hatte.
  Als sie sich umdrehte, fuhr ihr der Schreck in die Glieder: Zwei helle Punkte leuchteten in der Dunkelheit. Dann erkannte Joséphine, dass es die geöffneten, vom Mond beleuchteten Augen des Kochs waren, die sie anstarrten. „Sie wird zu mir zurückkehren“, flüsterte er heißer. Seine Stimme klang wahnsinnig. Irr. „Oh ja, das wird sie, und wir werden für immer vereint sein.“
  Langsam, vorsichtig, näherte sich Joséphine dem Koch. War er… war er wach?
  Ein Grunzen ertönte, dann ein Schnarchen. Die Augen waren noch immer geöffnet. „Lixiti…“ Sie schlossen sich. Der Koch fing an, leise zu schnarchen, wie er es seit ihrem ersten Treffen schon immer getan hatte. Joséphine atmete erleichtert den Atem aus, den sie unbewusst angehalten hatte.
  Diese Nacht konnte sie nicht mehr einschlafen.

*

Verspannt erwachte Johannes. Er hatte das Gefühl, gerade mal zwei Stunden geschlafen zu haben, doch er wusste, es war länger.
  Joséphine, die neben ihm lag, blickte ihn an. Sie hatte müde Augenringe und sah ziemlich mitgenommen aus.
  „Hallo“, flüsterte er und zauberte damit ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. „Hallo“, flüsterte sie zurück.
  „Seid ihr endlich wach, ihr Turteltäubchen?“, sagte die muntere Stimme Johnnys. „Steht auf, ihr Faulpelze. Wir können den Wald heute noch verlassen. Ich will nichts als hier weg.“
  Da musste Joséphine zustimmen. Auch sie wollte aus diesem Wald des Grauens verschwinden. Sie richtete sich auf. Johannes ebenfalls.
  Der kleine Kabuki schlief noch. Der Koch starrte wieder blicklos auf das erloschene Lagerfeuer. Kein Hauch des Wahnsinns von heute Nacht war mehr darin zu erkennen. Vermutlich hatte sie es sowieso geträumt.
  „Auf, auf“, meinte Johnny und schulterte seinen Rucksack. Das Fleisch des Affen hatte er bereits eingepackt und die Äste wieder hinten draufgeschnallt. Joséphine merkte, dass die Wasserflasche mit klarem Wasser gefüllt war. Johnny hatte also nicht so gut schlafen können. Also war er doch nicht so unberührt geblieben, wie er gesagt hatte.
  Johannes schulterte vorsichtig den schlafenden Kabuki, und Joséphine schlurfte zum Koch, berührte seine Schulter und wartete auf eine Reaktion. Sie kam nicht. „Kommen Sie, Mann. Wir müssen weiter. Deprimiert sein bringt Lixiti auch nicht wieder zum Leben.“ Der leere Blick richtete sich auf. „Lixiti? Wann kommt sie Heim? Sie ist schon so lange weg.“
  „Ja, ja. Sie kommt bald. Und jetzt bitte, stehen Sie auf.“
  Er erhob sich, schwankte ein wenig wie ein Zombie. Überhaupt sah er ziemlich zombiemäßig aus. Joséphine lief ein Schauder über den Rücken, als sie an die Szene letzte Nacht dachte.
  Die Gefährten, die am Anfang ihres Abenteuers zwei Köpfe mehr zählten, fühlten sich einsam. Nicht nur, dass jeder das Fehlen von Lixiti spürte, auch wenn sie immer still und kaum wahrnehmbar gewesen war, sondern auch die Gedanken waren einsam. Jeder dachte für sich. Es wurde nicht geredet. Eine Art depressive Stimmung lag in der Luft, die nicht nur vom Koch ausging.
  Auch Joséphine fühlte sich leer. Ausgelaugt. Traurig. Obwohl sie nichts gegessen hatten, klagte keiner über Hunger, und sie liefen schweigend bis zum Abend und noch weiter. Joséphine schätzte, dass es etwa zehn Uhr nachts war, als sie von einem Moment auf den anderen aus dem Wald stolperten. Vor lauter Dunkelheit hatten sie nicht bemerkt, wie die Bäume lichter wurden.
  Ein erleichtertes Ausatmen ging durch die Gefährten.
  Erwähnenswert ist natürlich, dass der Koch den ganzen Tag über seinen Zombie-Zustand behalten hatte. Der kleine Junge war im Laufe des Tages aufgewacht, hatte sich jedoch tapfer gehalten und nicht geweint. Das einzige, was er von sich gab, war die Bitte, von Joséphine getragen zu werden oder zumindest ihre Hand zu halten. Anscheinend konnte er Johannes nicht unbedingt leiden.
  Der Fluss, dem sie die ganze Zeit gefolgt waren, mündete nach etwa zehn Meter nach Ende des Waldes in einen großen, kreisrunden See mit spiegelglatter Oberfläche, der sich zu ihrer Linken ausbreitete und in dem sich der Vollmond spiegelte.
  Die Landschaft war wenig vertrauenserweckend. Wohin sie auch sahen: Überall war trockene, braune Erde. Nur hinter ihnen befand sich der Wald und vor ihnen der See. Ansonsten war nichts zu sehen.
  „Wir bleiben hier“, entschied Johnny. Sie hätte ohnehin nicht mehr weitergehen können, da es schon so dunkel war.
  Sie nutzten die schwüle, warme Nacht, um sich die Mühen eines Lagerfeuers zu sparen. Alle fielen dort, wo sie gerade standen, zu Boden und schliefen ein.
  Der nächste Tag war wieder der Horror. Vielleicht ahnt ihr durch die Wiederholung der Worte, was passieren wird. Genau. Der Horror kam wieder.
  Der Morgen war frisch, doch keiner frierte wirklich. Sie genossen das Gefühl des Freien Himmels über sich, ohne Palmenblätter, von denen sie allmählich genug hatten.
  Der Affe war in Johnnys Rucksack schlecht geworden, und fliegen sammelten sich darum. Also warf Johnny ihn in den See und machte sich auf die Suche nach einem Frühstück (der Appetit war zwar nicht zurückgekehrt, doch schließlich mussten sie etwas essen, wenn sie nicht verhungern wollten), während Johannes und Joséphine sich über die Schatzkarte beugten.
  „Schau, der See ist eingezeichnet. Soweit sind wir alle richtig.“ Joséphine deutete auf den Kreis mit der Wellenlinie darin. „Und hier ist der Schatz.“ Sie zeigte auf das komplexe Gebilde, das sich bei näherer Betrachtung als schneckenhausförmig erwies. Der Eingang befand sich nördlich. Die gestrichelte Linie führte von ihrem aktuellen Standpunkt aus nach Nordwesten. Es war der kürzeste Weg.
  „So nah schon“, flüsterte Johannes ehrfurchtsvoll. Auch Joséphine war neugierig, woraus der Schatz bestand, und ob sie graben müssten wie in den Piratenfilmen.
  „Haha!“, rief Johnny. Als die beiden sich umdrehten, sahen sie ihn mit einem aufgespießten Igel auf sie zukommen. Zu Joséphine meinte er: „Dieses Wesen ist tatsächlich unschuldig gestorben. Doch du musst zugeben, dass irgendein Tier sterben muss, wenn wir nicht verhungern wollen.“ Das stimmte, doch Joséphine gab keine Antwort. Johnny grinste. „Ich mache dir auch eine Bürste aus den Stacheln.“ Dafür warf sie ihm einen bösen Blick zu.
  Sie brieten den Igel über einem hastig zusammengewürfelten Feuer. Er schmeckte nach nichts, was allerdings nicht am Igel lag, sondern an den von Trauer und Entsetzen verkümmerten Geschmacksnerven der Gefährten. Sie zwangen den Koch, etwas zu essen. Kabuki aß freiwillig, allerdings ohne Freude.
  Der Aufbruch verzögerte sich. Johnny beschloss, aus der aufgehobenen Affenhaut und dem Leder des geleerten Rucksacks des Kochs Flaschen zu fertigen. Dafür benutzte er Efeuranken, die an den Büschen des Unterholzes heranwuchsen und sehr kräftig waren, und als Nähnadel verwendete er den dicksten und stabilsten Knochen des kleinen Igels, in den er ein Loch bohrte, welches als Öhr diente.
  Johnny machte seine Arbeit wirklich gut. Die „Flaschen“, es kamen am Ende etwa zwanzig Stück raus, waren dicht. Der Nachteil war natürlich der fürchterliche Geschmack des Affenfells und des Leders. Doch die Ebene vor ihnen war endlos weit, und auf der Karte waren lange keine weiteren Flüsse eingezeichnet. Trotz der zwanzig lederbeutelähnlichen Flaschen würden sie mit der Flüssigkeit sparen müssen.
  Ein Trost war, dass es wieder kühler wurde. Die Nacht, die warm gewesen war, mündete in einen warmen Morgen, doch als die Gefährten gegen zwölf Uhr dann zum Aufbruch bereit waren, wehte ein fast eisiger Wind. Alle zogen ihre ganzen Klamotten an, wodurch auch Platz für die „Flaschen“ geschaffen wurde.
  Da niemand einen Kompass dabei hatte, entschieden sie sich, dem Verlauf des Waldes zu folgen, bis sie das eingezeichnete Gebilde erblickten. Sobald dies geschah, würden sie natürlich auf direktem Wege darauf zulaufen und an dessen Wand entlanggehen, bis sie auf den Eingang stießen.
  Ein guter Plan.
  Käme nicht wieder mal der Horror dazwischen.

*

Johannes gähnte. Sie liefen schon drei Stunden schweigend am Wald entlang. Er hatte es allmählich satt, den ganzen Tag nur zu laufen. Wenn er es genau betrachtete, bestand sein bisheriger Aufenthalt auf dieser Insel zu achtzig Prozent aus Laufen und aus neunzehn Prozent aus Essen. Das restliche Prozent ging vermutlich auf den menschlichen Erleichterungsvorgang drauf.
  Plötzlich glaubte Johannes, am Horizont etwas Schwarzes zu sehen, das sich von links bis rechts erstreckte. Was mochte das sein?
  Er lief zu Joséphine und teilte seine Entdeckung mit ihr. Sie stimmte zu. Da war irgendetwas. Aber was?
  Nach einer weiteren Stunde, nachdem der schwarze Streifen am Horizont immer dicker geworden war, wurde allen klar, worauf sie da zuliefen: Eine riesige Schlucht!
  Johannes schüttelte den Kopf. Irgendwie war ihm klar gewesen, dass ihr Plan zu einfach war und dass ein einfacher Plan nicht gelingen konnte, wenn er und sein Pech dabei waren.
  Sie blieben stehen und berieten sich. Was sollten sie tun?
  Schließlich einigten sie sich darauf, weiter auf die Schlucht zuzugehen. Wenn sie das Gebilde dann immer noch nicht sahen, würden sie eben der Schlucht in Richtung Westen folgen, bis sie darauf stießen. Und sie hofften, dass es dann einen Durchgang gab. Was, wenn die Schlucht am Gebilde vorbeiführte? Dann müssten sie den viel längeren Weg um die ganze Schlucht herum gehen.
  Nein danke.

*

Sie erreichten die Schlucht. Sie war gigantisch, mindestens einen Kilometer breit, so schien es den Gefährten.
  Und tief. Mindestens hundert Kilometer tief. Mindestens.
  Sie befanden sich am äußersten Rand der Schlucht. Sie wurde Richtung Wald immer schmaler und endete etwa fünf Meter davor.
  Was nun folgte, führte den Horror, der nur darauf gewartet hatte, zuzugreifen, endgültig herbei: Die Beratung. Oder genauer: Die Entscheidung, die aus der Beratung hervorging.
  Die Gefährten berieten nämlich tatsächlich, ob sie hier die Schlucht am Rand überqueren wollten, somit auf die andere Seite gelangten und dann der Schlucht Richtung Westen folgten, bis sie auf das Gebilde stießen. Oder ob sie, was die andere Möglichkeit darstellte, der Schlucht auf dieser Seite folgen sollten, bis sie das Gebilde erreichten und dann der Wand des Gebildes zum Eingang folgen sollten. Sie wussten schließlich nicht, auf welcher Seite der Schlucht sich das Gebilde befand.
  Sie überließen die Entscheidung Joséphine. Sie überlegte fünf Minuten, in denen sie das für und wider abwägte, und sich schließlich für Möglichkeit zwei entschied. Sie fand, dass sie dadurch ihrem Ziel sicherer näherkamen, als wenn sie der Schlucht auf der anderen Seite folgten. Wer weiß, vielleicht endete die Schlucht ja erst im Meer? Und das Gebilde befand sich auf dieser Seite? Vielleicht. Man konnte es einfach nicht wissen.
  Also fügten sich alle. Und der Horror packte zu.
  Es war etwa fünf Uhr abends, die Gefährten waren schon so erschöpft, dass sie ihrer Umgebung kaum noch gewahrten, als sie am Horizont eine weiße Mauer erblickten. Sie wussten sofort: Dies war das Gebilde von der Karte. Anscheinend bestand es aus sehr hohen, weißen Mauern, die Schneckenförmig angelegt waren. Und ganz eindeutig von Menschenhand.
  Sie liefen nah an der Schlucht, etwa fünf Meter vom tödlichen Abgrund entfernt. Sie waren sich alle sicher, nicht dumm genug zu sein, um aus Versehen hineinzufallen. Nur hatten sie alle den kleinen Mann vergessen, dem man so etwas noch nicht zutrauen konnte: Während jeder in seine eigenen Gedanken versunken war, hüpfte Kabuki nah am Abgrund herum.
  Es geschah alles so schnell, dass unmöglich jemand hätte reagieren können: Das Rollen fallender Steine, das Ratschen von Haut, ein erschrockener Schrei, ein entsetztes Aufkeuchen, und dann ein langer, ängstlicher, quälender Schrei, der Joséphine bis an ihr Lebensende in den Träumen heimsuchte, als Kabuki in den Abgrund fiel.
  Als sich alle erschrocken umdrehten, war es bereits zu spät: Joséphine sah nur noch Kabukis vor Schreck geweiteten Augen, dann nur noch seine Arme. Sie stürzte auf ihn zu, doch da war er schon fort, und Johannes’ starke Arme hielten sie fest, damit sie nicht hinterherstürzte.
  Der Schrei verklang, vermischt mit Joséphines eigenem verzweifeltem Brüllen. Sie riss ihre Arme los und drückte sie auf die Ohren, damit sie das unweigerlich folgende Geräusch nicht hören musste. Sie war nicht so lebensmüde, dem kleinen Jungen noch folgen zu wollen, doch sie konnte es auch nicht erleben, wie sein kleiner, sich gerade noch im Wachstum befindender Körper aufkam und die Knochen barsten.
  Nach einer Weile nahm sie die Hände von den Ohren. Der Schrei war verstummt. Tränen flossen ihr über die Wangen. Wer hier herunterfiel, konnte nicht überleben. Sie machte sich gar keine Hoffnungen mehr.
  Der Koch hatte seither keine Regung von sich gegeben. War sein Geist wirklich so entrückt, dass er das Dilemma nicht einmal mitbekommen hatte?
 Johnny stand mit herabhängenden Armen da und starrte auf die Stelle, an der sich die Erde gelöst hatte, und Johannes stand noch immer hinter ihr, wo sie sein Schweigen mitbekam.
  Ihre Knie knickten ein und sie fiel zu Boden. Verzweifelt weinte sie um den kleinen Jungen, der ihr den unerträglichen Aufenthalt auf dieser Horrorinsel immer versüßt hatte und der einen so sinnlosen Tod gestorben war.
  Johannes setzte sich neben sie, bat ihr schweigend seinen Trost an, den sie sofort ergriff. Auch ihm liefen die Tränen über die Wangen, schließlich hatte auch er den kleinen, zierlichen Jungen getragen und ihn in sein Herz geschlossen.
  Sie umarmten sich. Und trauerten. Und trauerten. Und trauerten.
  Als Joséphine nicht mehr weinen konnte, war es bereits schon ewig dunkel. Erschöpft vor Trauer um den Verlust ließ ihr Körper sie einschlafen.
  Der nächste Morgen war trüb. Bewölk. Eisig kalt.
  Joséphine erhob sich entschlossen. „Lasst uns gehen. Je schneller wir das hier hinter uns bringen, desto eher können wir nach Hause gehen und mit einem Helikopter zurückkehren, um Kabuki eine angemessene Beerdigung zukommen zu lassen.“
  Also machten sie sich auf den Weg. Der neue Plan war, wie geplant zum Gebilde zu gelangen und dann nicht den Eingang zu suchen, sondern gen Norden zum Strand zu wandern, wo Steffie vermeintlich auf sie wartete. Sie hofften, dass die Schlucht ihnen keinen Strich durch die Rechnung machte. Joséphine fragte sich, was Steffie gerade in Wirklichkeit machte. Hatte sie den Schatz gefunden? War sie tot? War sie vielleicht wirklich schon am Strand?
  Joséphine klammerte sich an Johannes, und er streichelte ihr tröstend über den Arm. Die weiße Mauer am Horizont wurde immer größer. Höher und länger. Es musste ein gigantischer Komplex sein. Und hoffentlich befand es sich auf ihrer Seite der Schlucht. Es wäre wirklich frustrierend, wenn die Schlucht sie doch noch davon trennen würde, nachdem Joséphine entschieden hatte, auf dieser Seite zu blieben. Und sie hoffte natürlich, dass es einen Übergang über die Schlucht gab, und dass die dem verdammten Moor fernbleiben konnten.
  Schließlich standen sie vor der Mauer, die mindestens so hoch wie der Eiffelturm war. Und die Schlucht hatte ihnen tatsächlich einen Strich durch die Rechnung gemacht: Statt links oder recht des Komplexes zu verlaufen, endete sie davor. Dieses Ende der Schlucht ragte völlig senkrecht in den Boden hinein, dass es wie eine Verlängerung der Wand wirkte, die übrigens dezent gerundet war, das auf die schneckenhausförmige Form des Gebildes schließen ließ.
  Ab hier gab es nur noch eine Möglichkeit: Da rechts von ihnen die Schlucht war, und zwar so nah an der Wand, dass es nicht einmal einen schmalen Steg am Rand gab, mussten sie sich nach links, gen Westen wenden und an der Wand entlanglaufen. Laut der Karte war dies ein etwa drei Mal so langer Weg als der, wenn sie nach Norden laufen konnten.
  Und natürlich führte der Weg direkt durch das Moor, das anscheinend ebenfalls an der Wand des Gebildes endete.
 Die Gefährten standen eine Weile unentschlossen da, dann schnaubte Johnny genervt und schlenderte nach links los, an der Wand entlang. Die anderen folgten ihm wie willenlose Schafe, die ihrem Hirten folgten. Sie gaben eine kümmerliche Schafsherde ab. Joséphine, Johannes, Johnny und der Koch. Wobei der Koch nur halb zählte, da er eigentlich nur körperlich anwesend war. Immer noch.
  Es dauerte nicht lange, da wurde der Boden zäher. Schon bald bestand er aus nichts anderem als Matsch, der so flüssig war, dass man bei jeder falschen Bewegung bis zur Hüfte einsank. Die Gefährten mussten von Grasinsel zu Grasinsel springen, waren jedoch alle schon nach zwei Stunden bis zum Bauch voll Matsch. Der Koch war träge, sprang aber dennoch halbwegs gut.
  Fakt war jedoch, dass dies einer der schlimmsten Tage in Joséphines Leben war. Gerade mal noch übertroffen vom vorherigen Tag, doch an den mochte sie nicht denken.
  Es war kalt, sie war hungrig, sie trauerte, sie war dreckig, und es war noch kein Ende des Moors in Sicht. Außerdem summten hier heimtückische, eindeutig mutierte Steckmücken herum, die Stiche hinterließen, die groß wie Beulen waren und juckten wie verrückt.
  Und das Schlimmste war, dass sie das Ende des Moors nicht erreichten, bevor es dunkel wurde. Im Dunkeln konnten sie unmöglich weitergehen, also lehnten sie sich an die Wand, schliefen ein und hofften, am nächsten Morgen nicht eingesunken zu sein.
  Es ging. Joséphine und Johannes steckten beide bis zur Brust im Schlamm, als sie erwachten, doch Johnny, der es irgendwie geschafft hatte, nur bis zu den Knien einzusinken, zog sie ohne Probleme raus.
  Auch dieser Tag war ein Gewaltmarsch. Es gab hier außer den Mücken kein Zeichen von Leben, und sie hatten ihre letzte Mahlzeit am vorletzten Abend zu sich genommen, den kleinen Igel. Am Tag von Kabukis Tod hatte es kein Frühstück gegeben, und dann waren sie bis zum Abend gelaufen. Und heute Morgen hatte es ebenfalls kein Frühstück gegeben. Und als wäre das nicht genug, brachen sie an diesem Tag nach drei Stunden Laufen ihre letzte Wasserflasche an.
  Bald war der Hunger das Schlimmste. Er wurde unerträglich, und die Gefährten hatten kaum noch die Kraft, weiterzustolpern.
  Und dann endlich, endlich, endete das Moor. Der Boden wurde nach und nach härter, bis er schließlich wieder aus der trockenen, roten Erde bestand, die auch vor dem Moor da war. Und zur allgemeinen Erleichterung wuchsen ein paar spärliche Büsche an der weißen Wand, auf denen sich gelb-grün gestreifte Raupen tummelten, und zwar zu Tausenden.
  Ohne darüber nachzudenken, ob sie giftig waren oder ob man überhaupt Raupen essen sollte, stopften die Gefährten sich die Raupen in den Mund. Nachdem der größte Hunger gestillt war, schmeckte Joséphine sie auch: Sie schmeckten süß, klebrig, zäh. So, wie man sich den Geschmack von Raupen vermutlich vorstellte. Nicht zu vergleichen mit den Kakerlaken, aber eindeutig ziemlich wohlschmeckend.
  Erschöpft streckten sich die vier nebeneinander aus. Nun ja… die drei. Der Koch setzte sich wieder im Schneidersitz auf den Boden und starrte blicklos auf die Erde.
  Joséphine ließ den letzten Tropfen Wasser aus der provisorischen Flasche auf ihre Zunge tropfen. Mann, war sie durstig. Jetzt war der Hunger gestillt, und der Durst drängte sich in den Vordergrund.
  Sie kämpfte sich mühsam auf die Beine und entrollte die Karte auf dem Boden. In der Nähe des Punktes, an dem sie sich befanden, also am nördlichen Ende des Moores und an der Wand des Gebildes, sollte einer der Flüsse fließen. Sie hatten eigentlich keine andere Wahl.
  Also machten sie sich auf, diesen Fluss zu finden. Damit entfernten sie sich zwar vom Komplex, doch die Mauer war so hoch, dass man sie vermutlich noch ewig sehen würde.
  Tatsächlich fanden sie den Fluss ohne irgendwelche Zwischenfälle, tranken, füllten die Flaschen auf und entschieden dann, zum Gebilde zurückzukehren. Der Gedanke an den Schatz schien nun, da sich alle wieder mehr oder weniger erfrischt fühlten, wieder recht anziehend zu wirken. Außerdem gab es ihnen allen, auch wenn es keiner laut aussprach, ein Gefühl von Rache. Die Insel hatte ihnen zwei Menschen geraubt, und nun würden sie ihr ihren Schatz rauben.
  Nun standen sie vor dem Eingang. Hier sah man deutlicher, dass die Wände (oder die eine Wand?) schneckenförmig gedreht waren. Der Eingang, ein schmaler Spalt mit den hohen Wänden, an dessen Boden es fast gänzlich dunkel war, erweckte den Eindruck des Eingangs zur Hölle. Da die Wände gebogen waren, konnte man nur etwa zehn Meter weit sehen, bevor man um die Kurve gehen musste.
  „Also los“, murmelte Johnny und marschierte los. Joséphine und Johannes folgten ihm. Der Koch trottete mit leerem Blick hinterher.
  Auf diese Weise verging fast der ganze Tag. Aufgrund der vergehenden Zeit änderten sich die Lichtverhältnisse, und man spürte kaum merklich, dass die Kreise, in denen sie liefen, etwas enger wurden. Aber alles in allem musste Joséphine zugeben, dass das Abenteuer, auf das sie sich alle so gefreut hatten, seit sie die Karte gefunden hatten, ziemlich langweilig war. Außerdem mussten sie schließlich irgendwann ankommen, und es würde sie nicht wundern, wenn die Schnecke einfach in einem Kreis mit zehn Zentimetern Durchmesser endete, in dessen Boden ein Schild mit der Aufschrift „Reingefallen!“ stünde. Zusätzlich drängte sich ihr der Gedanke auf, dass sie, wenn sie irgendwie fliehen müssten, den ganzen Weg zurücklaufen mussten. Grauenvoll. Ihr wurde schon beim normalen Gehen in diesen Kreisen schwindelig, wie sollte es ihr erst beim Rennen ergehen?
  Plötzlich blieb Johnny stehen, sodass Joséphine fast in ihn hineingelaufen wäre. Als sie aufblickte, sah sie, dass die Wand links von ihr endete.
  Sie hatten das Ende der Schnecke erreicht, und die Mitte war nicht etwa von zehn Zentimeter großem Durchmesser, sondern eher von zehn Meter großem.
  „Woah“, entfuhr es Joséphine, als die alles andere als das erblickte, was sie erwartet hatte. Es stand kein Schild mit „Reingefallen!“ in der Mitte. Genau genommen bestand der Boden nicht einmal aus trockener Erde, wie er es bis jetzt gewesen war, sondern aus saftigem, grünem Gras.
  Und die Kreisfläche war auch nicht leer, nein. Etwa zwei Meter am Rand des Kreises wimmelte es nur so von Bäumen. Es war ein richtiger kleiner Wald, im Kreis angelegt, die Stelle ausgenommen, an der sie nun standen und von der sie in die Mitte des Kreises gelangen konnten. Das Seltsame an diesem „Wald“ war, dass es nichts zu hören gab – kein Geraschel der Bäume im Wind, keine Tierlaute. Und keine Farben – nur Bäume. Buchen, Ahorn, Eichen. Alles, was nicht auf eine tropische Insel gehörte und nicht im Geringsten zum Rest des Waldes auf dieser Insel passte.
  Die Lichtung in der Mitte des ansonsten bewaldeten Kreises war in helles Sonnenlicht getaucht, das letzte Sonnenlicht des Tages. Es mochte schon wieder auf sechs Uhr abends zugehen.
  Joséphine war mulmig zumute. Irgendetwas war hier falsch. Nicht nur das Offensichtliche, die unnatürliche Stille und der unpassende Wald, sondern es lag auch etwas in der Luft. Ein Hauch von… Gefahr?
  Vermutlich war es das. Sie spielte mit dem Gedanken, einfach umzudrehen.
  Die anderen schienen dasselbe zu denken, denn seit sie stehengeblieben waren, standen sie herum und ließen die Eindrücke auf sich wirken.
  Johannes drehte ihr den Kopf zu. „Lass uns von hier verschwinden. Scheiß auf den Schatz.“
  Sie nickte schon zustimmend, doch Johnny meinte: „Leute, es wird bald dunkel. Wir haben einen ganzen Tag dafür gebraucht, hier herzukommen. Ich werde nicht in der Nacht dort zwischen den Wänden herumlaufen. Und schlafen tu ich dann doch lieber hier statt dort.“
  Da mussten Joséphine und Johannes zustimmen, doch es änderte nichts am unguten Gefühl.
  Vorsichtig näherten sie sich durch den Gang zwischen den Bäumen der Lichtung in der Mitte und blickten sich vorsichtig um. Von hier aus sah man den Eingang kaum vor lauter Bäume.
  „Wo hier ein Schatz sein soll, weiß ich auch nicht“, meinte Johnny missmutig. „Aber falls uns jemand belauschen will, werde ich ihn finden.“ Damit holte er einen seltsamen Kasten mit einer kleinen Antenne aus seinem Rucksack. „Meine arme Agentenausrüstung. Ich glaube, die hat noch mehr gelitten als ich. Das hier ist übrigens ein hochmoderner Metalldetektor. Er spürt Wanzen, Abhörgeräte, Kameras und Ähnliches auf. Alles, was metallisch ist.“ Er schaltete das Gerät ein und drehte sich einmal im Kreis. Der Detektor blieb still.
  „Hm“, brummte Johnny. „Scheint alles ruhig zu sein. Der Wald ist also doch nur Wald.“
  Als nächstes griff er sich etwas aus dem Rucksack, das wie ein Fernglas wirkte. „Eingebaute Wärmebildkamera“, erklärte Johnny seinen interessierten Zuschauern. „Damit ich sehe, ob wir auch wirklich alleine sind. Ich habe keine Lust, im Schlafen überfallen zu werden.“ Wieder drehte er sich einmal um sich selbst, dann nickte er zufrieden. „Niemand zu sehen. Allerdings auch keine Tiere.“
  Beruhigt atmete Joséphine aus. Sie hatte schon Angst gehabt – dieser Ort war wirklich beunruhigend.
  „Es wird dunkel“, stellte Johannes ernüchternd fest. „Lasst uns ein Feuer machen, nachdem wir letzte Nacht so unangenehm geschlafen haben.“
  Ja, da stimmte Joséphine zu. Sie fand, sie hatte es verdient, eine angenehme Nacht zu verbringen. Erstens natürlich wegen der letzten Nacht im Halb-Stehen und versunken im Matsch, und zweitens wegen der Tatsache, dass sie genau genommen am Ziel ihrer Reise waren. Seit sie die Karte gefunden hatte, wollten sie hierher. Doch hier war nichts, und das erinnerte Joséphine daran, dass sich die Schätzung zur Länge ihres Aufenthaltes hier auf ein paar Jahre oder länger bezog. Außerdem war Steffie ja nicht am Strand, um Hilfe zu holen, sondern…
  „Johnny? Johnny!“ Er war gerade zum Rand des schmalen Waldes gegangen und hatte zusammen mit Johannes begonnen, Feuerholz zu sammeln.
  „Ja?“, antwortete er besorgt.
  Sie ging aufgeregt zu ihm hinüber. „Steffie wollte doch den kürzeren Weg hierher nehmen! Das heißt, sie muss hier sein!“
  Er runzelte die Stirn. „Sicher ist sie schon wieder weg. Ich hab doch die Wärmebildkamera…“ Plötzlich leuchteten seine Augen auf, und er rief lachend in den Wald: „Komm schon raus! Wir wissen, dass du da bist!“ Und im nächsten Moment trat eine grinsende Steffie aus dem Wald, allerdings auf der anderen Seite des Kreises. „Ta-daa“, rief sie und breitete die Arme aus.
  Joséphine stürzte auf sie zu und umarmte ihre Freundin. „Wie lief es so auf dem kürzeren Weg?“
  Steffie runzelte die Stirn. „Keinerlei Schwierigkeiten. Ich hab gerade mal einen Tag für den Wald gebraucht, dann bin ich in der Nähe der Schlucht herausgekommen, bin auf meiner Seite geblieben und hab nach einem weiteren Tag den Eingang zur Schnecke hier gefunden. Ich verstehe also immer noch nicht, weshalb die Karte diesen umständlichen Weg vorschreibt.“
  „Das werden wir wohl nie erfahren“, meinte Johnny. „Aber bau dein Zelt ab und geselle dich zu uns.“
  Steffie grinste und verschwand wieder im Wald. „Sie hat ein Strahlenabweisendes Zelt aufgebaut“, erklärte Johnny seinen Begleitern. „Es ist ganz klein und handlich, aber dadurch konnte ich sie nicht durch die Wärmebildkamera und den Metalldetektor aufspüren. Es gehört zur Standartausrüstung der Geheimdienste, und eigentlich hätte ich damit rechnen müssen.“
  Sie begannen wieder damit, Feuerholz zu sammeln. Nach ein paar Minuten kehrte Steffie zurück und schloss sich ihnen an. Verwundert registrierte Joséphine, dass sie nicht einmal nach Lixiti und Kabuki gefragt hatte – und dass sie es nicht als verwunderlich anzusehen schien, dass der Koch mit leerem Blick umherstierte.
  Sie gesellte sich zu Steffie. „Lixiti und Kabuki sind tot.“
  Steffie blickte sie an. „Ich weiß. Trauer nicht um den Kleinen. Glaub mir, das ist nicht nötig.“
  „Wieso?“
  Doch Steffie blickte nur geheimnisvoll. „Ich habe noch keine festen Beweise für meine neueste Verschwörungstheorie, und glaub mir, bevor ich es nicht beweisen kann, willst du sie gar nicht wissen.“
  „Ähm… okay.“
  Sie schichteten die gesammelten Äste auf einen Haufen am Eingang und entzündeten das Feuer. Johnny meinte, so würden sie es sofort merken, wenn sich jemand anschleichen sollten, auch wenn es Nacht war. Er würde unweigerlich über sie hinweg laufen müssen. Mittlerweile war es völlig dunkel, die schmale Mondsichel war hinter Wolken verborgen.
  Da es hier keinerlei Tiere gab, mussten sie sich mit dem Essen von Pflanzen begnügen.
  „Du Steffie, erzähl mal deine Geschichte“, meinte Joséphine, als der Gesprächsstoff ausging.
  „Na gut“, erwiderte diese mit etwas grimmigem Gesichtsausdruck. „Nachdem ich euch verlassen hatte, folgte ich dem Fluss bis zu einem großen See, der sich mitten im Wald befand. Dort fand ich die Überreste eines alten Dorfes – es war menschenleer, und die Hütten waren alle verbrannt. Außerdem fand ich ganze Haufen von menschlichen Knochen dort. Plötzlich griff mich jemand von hinten an. Mithilfe meiner Kung-Fu-Künste befreite ich mich und merkte, dass ich einem Kannibalen gegenüberstand. Ich glaube, er wollte mich fressen, dabei hat er schon sein ganzes Dorf verputzt. Jedenfalls, ich fesselte ihm die Arme und schleppte ihn mit. Ich hab ihn außerhalb dieses Gebildes angebunden. Ja, ich weiß, das klingt unmenschlich, aber man muss mit ihm wirklich umgehen wie mit einem bissigen Tier. Ich glaube, ich nehme ihn mit nach Deutschland und erziehe ihn richtig. Und dann wird er mein Sekretär oder so was. Er sagt die ganze Zeit nur „Jamdi! Jamdi!, also nenne ich ihn auch so.
  Nachdem ich ihn gefunden hatte, liefen wir bis zum Ende des Waldes und trafen auf die Schlucht. Wir blieben auf der nördlichen Seite und gelangten dann zum Eingang. Ich band Jamdi an einen Busch… würde mich nicht wundern wenn er entkommen wäre, aber diese Gegend ist nicht gerade reich an Vegetation… und betrat das hier. Ich baute mein Zelt auf und verließ den Komplex wieder. Dann kehrte ich erst wenige Stunden vor eurer Ankunft hierher zurück.“ Sie nickte nachdrücklich, zum Zeichen, dass ihr Bericht zu Ende war.
  „Aha“, meinte Johnny schließlich. „Und hast du schon etwas von einem Schatz gesehen?“
  Steffie schüttelte den Kopf. „Wie gesagt, ich war nie lange hier. Lasst uns morgen gemeinsam danach suchen.“
  Damit waren alle einverstanden, und sie legten sich früh schlafen.
  Joséphine kuschelte sich wieder an Johannes. Sie war unglaublich erschöpft, aber auch erleichtert. Endlich war die Schatzsuche vorbei! Jetzt konnten sie endlich zum Strand laufen und irgendwie Hilfe kontaktieren…
  In dieser Nacht schlug das Grauen zum dritten Mal zu.

*

Johannes atmete tief den Duft ihrer Haare ein. Joséphine schlief schon fest, doch ihn hielten Gedanken wach. Tausend Fragen irrten durch seinen Kopf, vor allem über seine Zukunft. Was wollte er? Was musste er? Er begriff nicht eine einzige dieser Fragen, doch sie waren da und ließen ihn nicht einschlafen, als seien sie körperlich anwesend und würden ständig um ihn herumkriechen wie Dämonen aus der Hölle. Nicht einmal ein Schluck aus der ekelhaften Flasche ließ ihn zur Ruhe kommen.
  Plötzlich hörte er ein dumpfes Pochen. Zwei Sekunden Stille, dann folgte noch sieben Mal dasselbe Geräusch.
  Johannes brach der kalte Schweiß aus. Bildete er sich dieses Geräusch nur ein? War es einer der anderen? Leider war der Mond, so schmal er auch sein mochte, hinter dicken, dunklen Wolken verborgen, sodass er rein gar nichts erkennen konnte, aber er glaubte sich zu erinnern, dass er auf dem Weg zum Rucksack mit den Flaschen an vier Personen vorbeigekommen war. Was konnte das nur sein?
  Zwei Sekunden nach den ersten acht Pochern folgten die nächsten acht. Johannes erstarrte mit vor Angst geöffneten Augen. Acht mal schnell hintereinander das Pochen, dann fünf Sekunden Stille. Dann wieder. Und wieder. Und jedes Mal schien es näher zu sein.
  Johannes schloss die Augen. Sollte er die anderen wecken? Sollte er sich demjenigen stellen, der da mit seltsamen Geräuschen
  Poch, Poch, Poch, Poch… Poch, Poch, Poch, Poch
  ankam? Er hatte doch keine Waffe! Und es war dunkel!
  Er wagte sich nicht zu rühren, aus Angst, die Aufmerksamkeit des Ankömmlings auf sich zulenken. Normalweise hätte Johannes keine solche Angst, doch irgendetwas an diesem Pochen ließ ihn schaudern – es war einfach falsch. Und kam definitiv nicht von einem Menschen.
  Von was dann? Von einem Tier? Nein, dafür war es zu laut und zu unnatürlich. Von einer Maschine? Aber Maschinen bestanden
  Poch, Poch, Poch, Poch… Poch, Poch, Poch, Poch
  aus Metall, und dieser Johnny hatte ja mit seinem Metalldetektor herumgewedelt und dann gemeint, es sei nichts Metallisches hier. Und sie lagen ja direkt vor dem Eingang, also konnte niemand hineingelangt sein. Es musste etwas sein… das schon da war, als sie ankamen.
  Johannes schloss die Augen und atmete tief ein. Im nächsten Moment überschlugen sich die Ereignisse.
  Zuerst ertönte wieder das Pochen, allerdings nicht nur acht Mal, sondern so oft und so schnell, dass Johannes es gar nicht mehr zählen konnte. Im nächsten Moment ertönte so etwas wie ein Fauchen, verdammt nah an seinem Ohr, das ihn zusammenzucken ließ und alle anderen, die neben ihm lagen aufweckten. Und dann ertönte ein gequälter Schrei desjenigen, der seit Tagen nicht mehr geredet hatte: Der Koch.
  Noch immer war es völlig dunkel, und Johannes konnte nur hören: Er hörte Joséphine aufschreien, dann Geraschel etwas weiter hinten, ein ekelhaftes Reißen, ein grauenvolles, gurgelndes Stöhnen, dann Schüsse, mindestens zehn. Und dann Stille.
  „Verdammt!“, hörte Johannes Steffie fluchen. „Johnny?“
  Johnny antwortete. „Ich bin hier. Was war das? Kannst du es sehen?“
  „Nein, aber ich glaube, der Koch ist tot. Ich höre ihn nicht mehr atmen. Und hier ist so viel Blut.“
  In diesem Moment wichen die Wolken, und das spärliche Mondlicht überflutete die Lichtung. Es war nicht hell, aber hell genug, dass Johannes genug sah, um sich übergeben zu müssen.

*

Als Joséphine aus ihrer Ohnmacht erwachte, graute schon der Morgen. Sie wagte es nicht, die Augen zu öffnen, sondern klammerte sich nur an Johannes, in dessen Armen sie lag. Er war wach und streichelte beruhigend ihren Arm.
  Schließlich ergab sie sich und blickte sich um. Es war noch schlimmer als erwartet.
  Gestern abends lagen sie in einer Reihe vor dem Eingang. Johannes, dann sie, neben ihr Johnny, daneben Steffie und neben ihr der Koch.
  Jetzt lagen sie noch immer so da, nur dass vom Koch nicht mehr als ein Haufen Blut und Knochen übrig war. Joséphine übergab sich in die nächsten Büsche.
  Neben der Leiche des Kochs lag der Angreifer.
  Es war eine mindestens einen Meter hohe und drei Meter lange Spinne, deren mindestens zehn Zentimeter dicken Beine in alle Richtungen abstanden. Im Chitinpanzer des unglaublich großen Insekts waren zehn Löcher, aus denen eine ekelhafte, gelbe Flüssigkeit quoll. Die hundert Augen der Spinne waren geöffnet und blickten drohend ins Nichts.
  „Ekelhaft“, murmelte Johannes neben ihr. Sie blickte ihm ins Gesicht. „Wie konnte das passieren?“, fragte sie. Dabei wusste sie es schon: Diese Spinne war eines der Monster, das die Insel hervorgebracht hatte. Sie bestand weder aus Metall noch sonderte sie irgendwelche Wärme ab – so konnten sie weder Johnny noch Steffie entdecken. Außerdem hatte im Leben keiner mit einer Riesenspinne gerechnet. Wie auch.
  Johannes antwortete nicht auf ihre rhetorische Frage. In diesem Moment erwachte Steffie. Sie blickte auf die beiden Kadaver, dann gähnte sie und streckte sich genüsslich. Sie verpasste Johnny einen leichten Tritt in die Seite, der ihn weckte, und schlenderte dann zu Joséphine und Johannes. „Guten Morgen“, meinte sie gutgelaunt. „Ich glaube, ich habe jetzt die Beweise für meine Verschwörungstheorie. Warten wir noch auf Johnny, dann kann ich sie euch erzählen.“
  Joséphine machte ein böses Gesicht. „Wieso Verschwörung? Hier sind drei Menschen gestorben!“
  Steffie lächelte nur. „Darum geht es ja. Aber warte ab.“
  Ein verschlafener Johnny ließ sich neben Joséphine plumpsen. Auch er schien nicht beeindruckt zu sein von den Toten neben seinem Schlafplatz.
  Steffie verschränkte geschäftsmäßig die Arme hinter dem Rücken. „Um genau zu sein ist es meine und Johnnys Theorie. Ich fange am Besten ganz von vorne an.“ Sie räusperte sich. „Es war Zufall, dass Johnny in deinem Flugzeug saß, Joséphine. Als es dann jedoch abstürzte und ihr auf dieser Insel landetet, auf der ich mit Johnny bereits im Einsatz war, rief er mich zur Unterstützung. Er fand die Sache höchst verdächtig. Also ließ ich mich sofort hierherfliegen und sagte, ich hätte euch durch Zufall gefunden. Die erste Beobachtung war, dass die Familie seltsam war. Johnny fand das auch. Also beobachtete ich sie. Wisst ihr noch, am Tag, an dem wir die Karte gefunden hatten? Die Familie wollte nicht, dass jemand sie begleitete, als sie etwas zu Essen suchten. Ich sagte euch, ich suche Feuerholz und folgte ihnen. Dann beobachtete ich sie dabei, wie sie den Kaviar fanden – allerdings hinter ein paar Steinen versteckt und in Plastiktüten verpackt. Jemand musste sie dort deponiert haben, der wusste, dass wir dort vorbeikommen. Von da an wusste ich, dass die Familie nicht das war, was sie zu sein schien. Das nächste war die Karte, die einen absolut umständlichen Weg hierher zeigte.  Ich folgte dem kürzesten Weg und hiel die ganze Zeit über mit Funktelefonen Kontakt mit Johnny. So wusste ich auch, dass die beiden gestorben waren. Allerdings glaubte ich nicht, dass sie wirklich tot waren – es musste ein Plan dahinter stehen. Erst dachte ich, die Familie wolle uns zum Schatz führen. Aber jetzt, da alle drei tot sind, glaubte ich, dass jemand uns zum Schatz führen will. Versteht ihr? Hier ist kein Schatz – es ist ein Rätsel. Wir müssen das Rätsel lösen, um an den Schatz zu kommen. Und dieser jemand schafft es nicht, also hat er die Familie als Schauspieler organisiert, damit sie dich, Joséphine, zum Schatz führen. Ich glaube, es ist ein elektronisches Rätsel, und wer als die Chefin von Microsoft könnte es lösen? Es ist kein Zufall, dass du hier gelandet bist, Joséphine. Und die Familie ist nicht tot. Ich habe mir gestern den Koch (oder was von ihm übrig ist) genauer angesehen. Das ist kein Blut, genauso wenig wie der Rest von ihm mal ein Mensch war. Das ist bloß etwas, das aussehen soll wie ein Mensch. Ich glaube, in der Nacht wurde der Koch abgeholt und stattdessen diese Puppe dorthin gelegt – und dieses Tonbandgerät.“ Sie hob ein blutiges Gerät hoch und drückte auf einen Knopf. Leidende Schreie ertönten. Dieselben wie in der Nacht zuvor. „Da hört ihr es. Die Spinne ist leider echt, doch sie wurde mit Honig angelockt, das auf die Puppe gestrichen war, damit die Spinne auch nur den Koch angriff. Es muss dem Jemand klar gewesen sein, dass ich und Johnny die Spinne sofort aufhalten würden. Wir haben eigentlich genau so gehandelt, wie dieser Jemand es wollte – außer, dass ich und Johnny seinen Plan durchschaut haben. Sein Ziel ist der Schatz.“
  Steffie ließ ihre Theorie auf ihre Zuhörer wirken. Joséphine wollte es nicht glauben. Das Blut sah zu echt aus. „Was ist mit Lixiti und Kabuki?“, fragte sie.
  Steffie nickte. „Ich glaube, dass es bei ihnen ähnlich war wie hier. Lixiti wurde vermutlich unter Wasser gezogen und stattdessen wurde die Puppe mit dem Tonbandgerät in die Fänge des Alligators gelegt. Vermutlich war das Tier nicht einmal echt. Und was den kleinen Jungen angeht – auch er ist nicht tot, dessen bin ich mir sicher. Aber wie sie das hinbekommen haben, das weiß auch ich nicht.“
  „Das klingt ziemlich weit hergeholt“, meinte Joséphine mit zitternder Stimme. Noch immer klang Kabukis leidender Schrei in ihren Ohren nach, und sie schien seine vor Entsetzen geweiteten Augen vor sich zu sehen, während sie machtlos zusehen musste, wie er abstürzte.
  Auch Johannes schien noch nicht ganz überzeugt.
  „Immerhin haben wir den festen Beweis“, meinte Johnny. „dass der Koch hier nicht echt ist. Das alles ist Kunstblut. Ne ganze Menge, aber trotzdem Kunstblut. Außerdem hat kein Mensch eine Wattefüllung und ein Tonbandgerät im Bauch.“
  „Eh… das will ich mir nicht genauer ansehen. Aber ich glaube euch mal“, meinte Joséphine unsicher. Sie wusste nicht, was sie glauben sollte – auch wenn es keinen Grund gab, es zu bezweifeln.
  Schließlich seufzte sie. „Ich werde erst überzeugt sein, wenn ich sie lebend vor mir stehen sehe. Aber lasst uns jetzt entweder abhauen oder den Schatz suchen.“
  Johnny schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Sollte es unseren geheimnisvollen Jemand wirklich geben, ist es ja genau das, was er will: Den Schatz. Und wenn wir ihn finden, wird er ihn uns irgendwie klauen. Sicher versteckt er sich irgendwo hier auf der Insel. Außerdem wissen wir ja selbst nicht, wo er ist – ich werde sicher nicht die Wieso umgraben, um ihn zu finden.“
  Steffie nickt ernst. „Es ist natürlich ein Rätsel. Niemand vergräbt einen Schatz einfach. Das muss unser Jemand auch gewusst haben, sonst wäre das hier nur noch ein Haufen Erde.“
  „Dann lasst uns nachdenken“, meinte Joséphine, um sich von den Kadavern abzulenken. Warum schafften die anderen ihn nicht einfach fort? Sicher begannen sie allmählich zu stinken – nein, Moment: Der Kadaver. Das andere soll ja angeblich eine…Puppe sein. Bäh.
  „Gut“, meinte Steffie. „Nehmen wir an, der Schatz ist nicht im Boden. Wo kann er sonst sein? In der Wand? Woraus besteht sie?“
  Johnny lief in den Wald neben ihm. Auch wenn dieser nur aus zwei Metern Bäumen besteht, wurde Johnny sofort von ihnen verschluckt. Ein Gong ertönte, dann ein Fluchen.
  Johnny kehrte zurück. „Die Wand besteht aus Metall! Wieso hat mein Detektor das nicht begriffen?!“
  Steffie machte ein grübelndes Gesicht. „Es muss ein neuwertiges… Johnny!“ Ihr Gesicht strahlte. „Das ist es! Das Metall, das wir damals gesucht haben – es ist nicht unter der Insel, sondern hier! In den Wänden! Und es scheint eine Strahlung zu haben, dass man es nicht aufspüren kann!“
  Johnnys Kinnlade fiel herunter, als er es begriff. Ja, es konnte gar nicht anders sein! Und vermutlich haben es die Ureinwohner zu dieser Wand geformt, oder andere Zivilisationen.
  „Wir müssen an der Wand suchen“, ereiferte sich Johannes. „Vielleicht ist irgendwo ein Hohlraum, der den Schatz versteckt!“
  „Ja!“, Johnny grinste über das ganze Gesicht. „Wir teilen uns auf zwei. Du und Joséphine, ihr geht vom Eingang aus nach links, ich und Steffie nach rechts. Wenn ihr etwas Ungewöhnliches entdeckt, ruft!“
   Schon waren die beiden verschwunden, und Joséphine blickte sich ängstlich um. „Was, wenn es noch mehr Riesenspinnen gibt?“ Johannes warf sich in die Brust, was ihn lächerlich wirken ließ, und sagte: „Ich beschütze dich!“, was ihn noch lächerlicher machte. Joséphine schnaubte amüsiert. Sollte diese Situation eintreten, wäre es wohl andersherum.
  Sie betraten den Wald und gelangten an die weiß verputzte Wand. Joséphine kratzte mit einem Fingernagel daran herum und bemerkte erstaunt, dass die weiße Schicht tatsächlich abging und dass darunter ein rötliches Metall zum Vorschein kam. Dies war also der stärkste Punkt der Auswirkungen. Hier waren die Mutationen am größten. Kein Wunder, dass die Spinne hier so groß war. Ekelhaft.
  Sie liefen weiter, und Joséphine ließ ihre Hand an der Wand entlangstreifen. So weit sie sehen konnte war nichts als glatte Wand. Plötzlich spürte sie ein paar Unebenheiten, und als sie stehenblieb und sich die Wand näher betrachtete, sah sie ein Rechteck, das um ein paar Millimeter aus der Wand herausstach und etwa dreißig Mal zwanzig Zentimeter groß war. „Johnny! Steffie!“, rief Johannes. „Ich glaube, wir haben es!“
  Die beiden kamen angerannt und betrachteten das Rechteck. „Könnte sein“, murmelte Johnny. Gemeinsam begannen sie, das Rechteck freizukratzen, wobei so einige Fingernägel daran glauben mussten. Am Ende hatten sie ein bronzenes Rechteck vor sich, das aussah wie ein Safe ohne Zahlenschloss. Kein Weiterkommen. „Verdammt“, fluchte Steffie.
  „Alle weg!“, rief Johnny. Dann nahm er seine ungefährliche Waffe und feuerte mindestens fünf Kugeln ab. Sie blieben einfach stecken, doch mehr brachte es auch nicht.
  „Das hast du toll gemacht“, meinte Steffie.
  Er schmunzelte. „Ich verbiete mir diesen sarkastischen Unterton. Aber mach’s besser.“
  Steffie untersuchte das Rechteck genau. „In den Ecken befindet sich jeweils ein stecknadelgroßes Loch…“
  „Das bringt uns nicht weiter“, knurrte Johnny. „Lass uns auf unserer Seite noch einmal genauer schauen! Ihr beiden bleibt hier.“
  Und damit verschwanden Johnny und Steffie.
  Johannes drehte sich zu Joséphine um und räusperte sich. „Äh… da gibt es etwas, das ich dir schon lange sagen wollte.“ Ah, dachte Joséphine. Endlich. „Ich… äh… weißt du… na ja also wir kennen uns ja jetzt schon eine Weile, und eigentlich hab ich dich ganz gern, und da wollte ich fragen… ach verdammt. Ich liebe dich. Willst du mit mir zusammen sein?“
  Joséphine verkniff sich ein Lachen. „Es ist neutral.“
  „Hä?“
  „Das heißt ja, verdammt!“ Und damit stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund.
  In diesem Moment kehrte Johnny zurück und brach bei ihrem Anblick in solches Gelächter aus, dass er fast am Boden lag. Auch Steffie ging es nicht besser.
  „Irgendwas gefunden?“, fragte Joséphine missmutig.
  „Ja“, grinste Steffie. „Euch, knutschend. Aber ansonsten… das hier.“ Sie hielt Joséphine ihre Hand hin. Darin lagen vier Nadeln. „Die sind auf der gegenüberliegenden Seite von hier in der Wand gesteckt und haben ein Viereck gebildet. Ich denke, es ist klar, was wir damit sollen.“
  Das war es allerdings. Steffie gab jedem eine Nadel, und sie steckten sie gleichzeitig in die winzigen Löcher in der Wand.
  Vier mal nacheinander ertönte ein kaum hörbares Klicken. Dann begann sich das Viereck aus der Wand zu schieben.
  „Krass“, meinte Johannes, als ihm der Quader vor die Füße fiel. Er war nur etwa fünf Zentimeter dick und enthüllte einen Hohlraum mitten in der Wand.
  „Wow, seht euch diese Technik an“, raunte Johnny. „Und das alles ohne Strom.“
  „Jaja“, meinte Steffie. „Die Funktion von dem Ding können wir später testen. Aber vielleicht habt ihr gemerkt, dass der Hohlraum leer ist?“
  Das war er allerdings. Doch Joséphine schob sich vor. „Ich wette, der Schatz ist da. Entweder links, rechts oder unter diesem Hohlraum. Vermutlich soll das einen nur in Verwirrung führen. Also…“ Sie tastete mit ihrer Hand an den Wänden herum, bis sie eine kleine Erhebung fühlte. Sie grinste. „Na also“, murmelte sie, während sie auf die Erhebung drückte. Sie befand sich auf der rechten Seite.
  Die rechte Wand schob sich nach oben. Von der Seite konnte Joséphine sehen, dass die Wand einen neuen Hohlraum enthüllt hatte – und darin lag ein dicker, brauner Beutel.
  Joséphine steckte mit glitzernden Augen die Hand in den zweiten Hohlraum und holte den Beutel heraus. Sie scharten sich alle um sie, als sie ihn öffnete.
  Darin lagen… violette Edelsteine!
  „So was habe ich ja noch nie gesehen!“, rief Johnny. „Das muss eine neue Entdeckung sein! Sicher sind sie mehr wert als alle anderen Edelsteine der Welt…“ Auch seine Augen glitzerten jetzt.
  „Ich würde sagen…“, mischte sich Johannes ein. „…bevor wir damit beginnen, uns darum zu streiten, einigen wir uns darauf, ihn auf vier zu teilen. Okay?“
  Damit waren alle einverstanden, denn jeder von ihnen wusste, dass es früher oder später zum Streit kommen würde – das lag in der Natur von Schätzen.
  „Also gut. Mission erfüllt, lasst uns von hier verschwinden!“, rief Steffie.
  Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, nahmen unterwegs ihre zerschlissenen Rucksäcke auf und ignorierten den Kadaver der Spinne und die Puppe, die den Koch darstellte.
  Wieder verging ein ganzer, langweiliger Tag auf dem Weg nach draußen. Die Schnecke war wirklich gigantisch, und bald war jedem vom Laufen im Kreis schwindlig.
  Den Schatz, diesen unauffälligen, braunen Beutel, trugen sie abwechselnd. Die ersten drei Stunden war es Joséphine, die nächsten drei Stunden Steffie, die danach Johnny, und jetzt, als sie aus dem Gebilde austraten, trug ihn Johannes gerade seit zwei Stunden.
  „Ah, Freiheit“, murmelte Joséphine und ließ sich den Wind übers Gesicht fahren. Das Wetter war normal, es war eine angenehme Temperatur, und die leichte Brise, die wehte, war sehr angenehm.
  Der Plan war, Jamdi zu suchen und sich dann auf den Weg nach Norden zu machen, bis sie auf das Meer stießen. Dort sollte sie dann ein Helikopter abholen, den Steffie per Funk bestellt hatte. Joséphine ärgerte sich noch immer, dass dies nicht früher geschehen war. Sie hätte sich all das Leiden hier ersparen können! Doch genau so wütend war sie auf Johnny, denn der hatte auch die ganze Zeit ein Funkgerät in seinem Rucksack gehabt.
  In diesem Moment hörten sie es: Die Rotoren eines Helikopters.

*

Johannes wechselte den Beutel auf die andere Schulter. Allmählich wurde er wirklich lästig. Aber eigentlich hatte er nichts dagegen, Steine im Wert von Billiarden Euro auf der Schulter zu schleppen.
  Als er das Rotorengeräusch hörte, atmete er erleichtert aus. Steffie hatte zwar gesagt, dass der Helikopter erst morgen käme und zwar am nördlichen Strand, aber er hatte wirklich nichts dagegen, schon jetzt auf dem Heimweg zu sein. Der Pilot musste wohl früher Zeit gehabt haben.
  „Das ist nicht der, den ich bestellt habe“, meinte Steffie. „Wer kann das sein?“
  Johannes ignorierte sie. Er war reich! Er konnte es gar nicht mehr erwarten, sich eine schicke Villa am Meer… nein, bloß nicht am Meer. Ganz weit in den Gebirgen von Amerika!... zu kaufen und es sich gut gehen zu lassen!
  Am Horizont kam ein kleiner schwarzer Punkt in Sicht. Das Rotorengeräusch wurde ständig lauter.
  „Komm schon, Leute. Ich weiß, dass es verlockend ist, aber wir dürfen uns nicht sehen lassen! Wir müssen uns verstecken!“
  „Ja“, stimmte Johnny zu. „Das kann niemand Gutes sein. Unser Helikopter ist es nicht, und wer sonst könnte es sein, wenn nicht der geheimnisvolle Jemand?“
  Johannes warf ihm nur einen genervten Blick zu. Diesen „Jemand“ gab es doch nicht!
  Oh Mann, und jetzt fing auch Joséphine noch an. „Gut, wir verstecken uns.“
  Mittlerweile war der Helikopter rasant näher gekommen. Die anderen zogen sich zurück, doch Johannes runzelte die Stirn. Was für Weicheier! Er würde auf jeden Fall in diesen Helikopter einsteigen.
  „Johannes! Komm schon!“, rief seine Traumfrau, und fast hätte er nachgegeben, nur um bei ihr zu sein. Stattdessen, versuchte er es wie sie: „Joséphine! Komm her! Wir können mit dem Ding heimfliegen!“
  Sie schüttelte den Kopf, doch antwortete nicht. Das Rotorengeräusch war schon zu laut. Der Helikopter schwebte über ihnen. Ein Lautsprecher oben wurde eingeschaltet, und eine Stimme rief: „Wir sind von der Küstenwache. Wir sind hier, um ihnen zu helfen. Wir werden jetzt eine Strickleiter hinunterlassen, und sie können daran heraufklettern!“
  Aha, cool, wie in den Filmen! Nice.
  Die Strickleiter wurde heruntergelassen, und Johannes sah, wie Steffie mit bösem Blick auf ihn zurannte. „Geh weg da, Mann! Das ist eine Falle!“
  Ah, endlich konnte er ihr eins auswischen. Sie stand doch sowieso die ganze Zeit zwischen ihm und Joséphine. Er konnte sie wirklich gar nicht leiden.
  Die Strickleiter fiel vor sein Gesicht, und er griff mit einer Hand danach. In der anderen hielt er den Beutel. Er hätte ihn einfach in den Rucksack packen sollen.
  Sein Fuß erreichte die erste Stufe, und er klammerte sich mit den Händen an die Leiter. Steffie hatte ihn fast erreicht, doch Joséphine stand noch immer dort.
  Egal. Er würde dem Piloten sagen, es soll sie später abholen. Jetzt wollte er erst einmal wieder auf einem gemütlichen Sitz sitzen.
  Steffie erreichte ihn gerade, da wurde die Leiter eingezogen und sie griff ins Leere.
  „Johannes, du Dummkopf! Es ist eine Falle! Lass den Schatz los!“
  Doch er hörte nicht auf sie und lachte sie aus. Der Schatz war sein!
  Plötzlich traf ihn etwas am Arm, und vor Schmerz ließ er den Schatz fallen. Autsch!
  Er wollte hinunterspringen, um ihn wieder zu holen, doch er war schon zu weit oben.

  Dann kletterte er in den Helikopter. Ob mit oder ohne Schatz, hauptsache warm.


TEIL 1          TEIL 3

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