Lobeshymnen auf den zweiten.
Einladungen auf den dritten.
Drohbriefe auf den vierten.
Hassnachrichten auf den fünf-… ach was, nein, die
kommen zu den Drohbriefen.
Joséphine legte mit gerunzelter Stirn die Finger
aneinander, lehnte sich in ihrem Chefsessel zurück und betrachtete die vier
Stapel ungeöffneter Briefe auf ihrem Schreibtisch. Ein Außenstehender würde
jetzt vermutlich sagen, hm, okay, sie hat die Stapel sortiert, aber woher
sollte sie deren Inhalt kennen?
Doch in diesem Punkt war Joséphine ein Genie für
sich. Wie in vielen anderen Punkten zwar auch – beispielsweise wenn es darum
ging, die täglichen Geschäftsaufgaben im Kopf auszurechnen oder ein Gefühl für
die Bewerber zu entwickelt, die sich für einen bestimmten Job am besten eignen
würden –
aber in diesem einen Punkt war sie sogar einzigartig.
Drückte ihr jemand einen Brief in die Hand, wusste sie sofort, um welche der
fünf Kategorien es sich handelte. Natürlich gab es noch mehr Kategorien, zum
Beispiel die vielen Fanbriefe mit frankiertem Rückumschlag, oder die der
Menschen, die ihr Ideen für neue Produkte zu verkaufen versuchten, doch am
Häufigsten traf Joséphine an ihrem Arbeitsplatz eben auf diese fünf.
Und sie kam eigentlich damit klar.
Verbesserungsvorschläge waren unwichtig, Lobeshymnen waren unwichtig (obwohl…
hier musste sich Joséphine eingestehen, dass sie an depressiven Tagen gerne
einen dieser Briefe öffnete, die sie heimlich mit heim nahm), Drohbriefe und
Hassnachrichten waren ebenfalls unwichtig.
Und unwichtige Dinge mussten eliminiert werden,
handelte es sich hier nun um Menschen, Gegenstände, andersartige Lebewesen…
oder Briefe. So lautete Joséphines Devise.
Also lehnte sie sich grimmig vor und fegte Stapel
eins, zwei und vier mit einem lässigen Handstreich von ihrem gigantischen
mahagonibraunen Schreibtisch, den sie bei einer Verlosung gewann, an der sie
gar nicht teilgenommen hatte, hinein in den Papiermüll.
Sie begann damit, den verbliebenen Stapel zu beäugen,
doch dann driftete ihr Blick zum Mülleimer ab. Sie versicherte sich, dass die
Tür zu ihrem Büro in den nächsten zehn Sekunden nicht geöffnet werden würde –
eine weitere wundersame Eigenschaft von Joséphine –, griff in den Haufen der
Briefe und zog zielsicher zwei Lobesnachrichten heraus, die es ihr schon vorher
angetan hatten. Depressive Tage kamen immer allzu unerwartet, und man konnte
nie genug Trost zu Hause haben.
Joséphine steckte die Briefe in ihre hintere
Hosentasche und wandte sich diesmal endgültig dem letzten Stapel Briefe auf
ihrem Tisch zu.
„Sehr geehrte Frau Princet, ich freue mich, sie
anlässlich ihres Gewinns des großen Weltliteraturpreises zu einer Siegesfeier
für einen Abstecher nach Sidney einladen zu dürfen…“ Schon beim ersten Brief
runzelte Joséphine die Stirn und knabberte an ihrem Stift, einem Kuli aus
Eigenproduktion, wie sie sie täglich zu tausenden an Schulen verschenkte, herum
– mehr aus Langeweile als aus Nachdenklichkeit.
Und sie überlegte
auch nicht, ob sie teilnehmen sollte,
sondern wie sie formulieren könnte, dass sie nicht teilnahm. Sie hatte
mittlerweile alle zehn Weltliteraturpreise des letzten Jahrzehnts und anderes
unnützes Zeug gewonnen, dass sie das berühmte Opernhaus in Sidney bereits
auswendig kannte.
Die ganzen Preise waren in Joséphines Augen nichts
anderes als Bestätigungen ihres Könnens und ihrer Genialität, die ihr
anscheinend angeboren war und die ihr so ziemlich jede Pforte öffnete, die sie
jemals betreten wollte. Sie waren unwichtiges, billiges, aber doch sehr
dekoratives Zeugs, mit dem man gut angeben kann, ohne wirklich anzugeben, indem
man einfach ein paar dezente, aber nicht zu versteckte Vitrinen in seiner Villa
aufstellte. So machte sie ihre Untergebenen neidisch, ihre Besucher (alles
neureiche Möchtegern-Millionäre, die es verdient hatten, neidisch gemacht zu werden),
und natürlich sich selbst. Bis sie dann herausfand, dass sie keinen Grund
hatte, auf sich selbst neidisch zu sein und glücklich wie ein kleines Kind mit
einer ihrer Auszeichnungen in der Villa herumhüpfte.
Zum Glück passierte das nicht so oft, allenfalls ein
bis zwei Mal pro Tag, einmal wenn sie morgens zur Arbeit ging, und einmal wenn
sie abends zurückkam.
„…leider ablehnen. Mit freundlichen Grüßen, Joséphine
Princet.“
„Bah“, meinte Joséphine und setzte ihre geschwungene
Unterschrift auf das Dokument, bevor sie den Brief (hochwertiges Papier aus
eigener Produktion) faltete und in einen Umschlag steckte, ihn adressierte und
einen neuen Stapel, einen mit zu verschickenden Briefen, begann.
Dann machte sich die Chefin der weltweit bekannten
Computerproduktion Microsoft daran, weitere Einladungen höflich, aber absagend
zu beantworten.
Wäre heute ein normaler Tag, würde sie nur mit einem
Kaffee in der Hand in ihrem Sessel sitzen, die Beine entspannt auf den
Schreibtisch gelegt, während der Stapel Arbeit vor ihrer Nase mit jeder Stunde
größer wurde, jedes Mal um etwa fünf Zentimeter, wenn Susan neues Material
brachte. Vielleicht läge auch ein Buch neben ihr, in dem sie ab und zu
geblättert hätte, vielleicht eines ihrer geliebten Fantasy-Bücher, oder heute
doch mal wieder einen Thriller?
Aber die meiste Zeit
würde sie nur dasitzen, aus dem Fenster schauen, nachdenken, Kaffee trinken und
von Ferien träumen. Die Arbeit würde sie dann erst spät am Abend machen, per
Computer, damit niemand ihre nachlässige und müde Handschrift kommentieren
konnte, und dann würde sie erst sehr spät nach Hause gehen. Nach Hause, in ihre
gigantische Villa, die alles hatte, was man sich nur wünschen konnte, und noch
einiges mehr. Sie würde das Licht auslassen, damit sie ihre Trophäen nicht sah
und nicht würde widerstehen können, sie von oben bis unten mit verliebten
Küssen zu bedecken, doch wenn sie dann später nicht einschlafen konnte, würde
sie sich hinunterschleichen, sich ihren Lieblingspreis schnappen und ein wenig
mit ihm über den flauschigen Teppich tanzen, mit dem ihr fünftes Wohnzimmer
ausgelegt war. Danach würde sie dann merken, dass sie prima würde einschlafen
können, und dann würde sie überlegen, ob sie es nicht gleich hätte tun können,
wenn sie beim Heimkommen das Licht eingeschaltet hätte.
Am nächsten Tag würde sie es dann aber wieder nicht
tun und um Mitternacht aufstehen und tanzen, und vielleicht würde sie sich noch
ein Glas Milch einschenken und ihrem Spiegelbild zuprosten, bevor sie lächelnd
den Milchbart abwischen und ohne die Zähne zu putzen (ohmeingott) wieder ins
Bett schlüpfen würde.
Ja, ungefähr so sah Joséphine Princets Alltag aus,
und sie liebte es, reich und erfolgreich zu sein und sich alles kaufen zu
können, was das Herz begehrte.
Doch heute war alles andere als ein normaler Tag.
Denn Joséphine Princet wollte in Urlaub fahren.
Sie wurde abrupt aus ihrer konzentrierten (und
verträumten) Arbeit gerissen, als die Tür zu ihrem Büro aufgerissen wurde –
oder besser gesagt: getreten, denn die Person hatte keine Arme frei – und
Susan, Joséphines Büroassistentin ins Zimmer gestürmt kam, einen geradezu
gigantischen Stapel Bewerbungsmappen auf dem Arm haltend, den sie schnaufend
auf den Schreibtisch ihrer Vorgesetzten fallen ließ.
Joséphine zog eine Augenbraue hoch und blickte über
den Stapel hinweg in Susans rotes Gesicht. „Wie wär’s mit klopfen?“
Susan, die bisher zusammengesunken auf einem der
Besuchersessel saß und schnaufend gen Boden blickte, fuhr auf. „Was? Bitte?“
Joséphine verdrehte genervt die Augen. „Die Tür.
Deine Hand. Klopfen. Kapiert?“
Susan nickte eilig. „Ja, klopfen, immer schön
klopfen, mach ich gerne Frau Chefin, klopf-klopf!“
Joséphine lächelte gespielt. „Ja, immer schön
klopfen.“ Sie hatte Susan erwartet, und sie war auch auf die Minute rechtzeitig
gekommen, doch dass sie so hereinplatzte, hatte sie ihr schon mehrere Male
verboten. Eigentlich hatte sie Susan die Kündigung angedroht, sollte etwas
derart Unhöfliches noch einmal geschehen, doch leider war ihr Susans schlimme Lage
durchaus bewusst.
Sie erinnerte sich, wie das ganze Schlamassel mit
ihrer unfähigen Assistentin überhaupt angefangen hatte. Susan verlor ihre
Eltern als sie zwölf war und wanderte danach zusammen mit ihrer zwei Jahre
älteren Schwester sofort in ein Waisenhaus,. Ihre Schwester wurde nach vier
Jahren, als sie volljährig wurde, entlassen, und verschwand dann mit ihrem
Freund irgendwo am anderen Ende der Welt, ohne eine weitere Nachricht an ihre
kleine Schwester, die noch zwei Jahre abzusitzen hatte. Susan war in der
kleinen Einrichtung für Waisen immer eine Art Außenseiterin gewesen, und desto
schlimmer war es für sie, dass sie, als sie volljährig wurde, ohne irgendwelche
Mittel aus dem Waisenhaus verwiesen wurde. Sie hatte weder Freunde, die sie um
Unterstützung hätte bitten können, noch Familienmitglieder, denn mit ihrer
Schwester waren alle möglichen Bezugspersonen verschwunden. Früher hatte keine
Pflegefamilie sie haben wollen, da sie generell mit fremden Menschen nicht
klarkam, ohne sie versehentlich vor den Kopf zu stoßen, und nach ihrer
Entlassung… tja, danach sollte sie verdammt nochmal selbst klarkommen, machte
ihr das Waisenhaus nicht gerade feinfühlig klar. Es war hoffnungslos überfüllt
und hatte keine Reserven mehr dafür übrig, sich um das verlassene Schwesterlein
zu kümmern. Susan kam in einem Obdachlosenheim unter, das sich rührend um sie
kümmerte und ihr bei der Jobsuche half.
Es war völliger Zufall, dass Joséphine zu genau
dieser Zeit ihre alte Büroassistentin verlor (die Arme wurde vergewaltigt und
bekam dann massive Panikanfälle schon beim bloßen Anblick eines Menschen; im
Moment wohnt sie auf einer etwa fünfzig Quadratmeter großen Insel mitten im
Pazifik und lebt vom Fischfang, zufrieden mit sich und der Welt) und Susan ihr
über den Weg lief. Beide wollten zum Arbeitsamt, Susan, um sich einen Job zu
suchen, und Joséphine, um eine Suchanzeige für eine Büroassistentin aufzugeben.
Die Sache war schnell geklärt.
Im Nachhinein dachte Joséphine jedoch, dass Susan an
diesem Tag Drogen genommen haben musste. Es gab ansonsten keine andere
Erklärung
Erklärung dafür, dass sie einen guten Eindruck bei der
Chefin von Microsoft hinterlassen hatte.
Hatte.
Oder vielleicht hatte ja Joséphine ein paar
therapeutische Muntermacher zu viel genommen, sie wusste es nicht mehr genau.
Seit sie reich war, war dieses selbstverständlich absolut legale Zeug so
einfach zu bekommen, da achtete sie gar nicht mehr darauf, wie viel sie nahm.
Aber es erleichterte ihren Arbeitstag ungemein und unterstützte sie beim Denken,
wenn sie wie jeden Tag mit hochgelegten Füßen in ihrem Büro saß und über den
Sinn des Lebens nachdachte (oder ihn suchte, denn gefunden hatte sie ihn
schließlich noch nicht).
Jedenfalls, um auf das Thema zurückzukommen,
Joséphine hatte sich des armen Dings vor drei Jahren angenommen und bereute es
seit… nun, ebenfalls seit drei Jahren. Susan war unzuverlässig, unsauber und
nervtötend. Sie verhielt sich wie ein kleines Kind, und man musste sie auch wie
ein kleines Kind behandeln, wenn man mit ihr fertig werden wollte. Joséphine
hatte diese Technik bereits perfektioniert. Man musste lobend sein, wenn sie
etwas gut gemacht hatte (was selten vorkam), aber man musste auch streng sein,
wenn etwas nicht so gut lief. Susan musste schließlich klar werden, dass sie
großes Glück gehabt hatte, Joséphine zu treffen, und noch größeres, dass
Joséphine ein so großes Herz hatte und sie noch nicht gefeuert hatte. Susan
musste zudem lernen, sich besser anzupassen und sich in der Öffentlichkeit
besser zu benehmen. Nicht, dass sie erneut Kaffe über sämtliche Teilnehmer
eines wichtigen Meetings schüttete, wie sie es erst vor kurzem getan hatte.
Joséphine streckte lächelnd, aber entschieden den
Zeigefinger aus und deutete zur Tür. „Verschwinde schon!“, sagte sie, da sie
den jämmerlichen Anblick Susans nicht länger ertragen konnte. Ihr war schon
immer klar gewesen, dass sie Susan nie entlassen würde, wie diese sich auch
benahm. Auf eine gewisse trottelige Art hatte Joséphine sie eben doch ins Herz
geschlossen, und wer das schaffte, musste schon etwas Besonderes sein.
Oder einfach verdammt großes Glück haben.
Aber jetzt waren erst einmal Ferien angesagt, und in
dieser Zeit konnte sich Joséphine endlich wieder entspannen, ihre Familie und
Freunde treffen und gemütliche Tage verbringen, auch wenn es nur wenige waren.
Auch auf die Flüge freute sie sich, ihrer Meinung nach gab es keine bessere
Reisemöglichkeit als ein Flugzeug mit erster Klasse.
Joséphine hatte die freien Tage bitter nötig. Seit
dem ultimativen Freundestreffen letztes Jahr (bei dem sie ihren Freundinnen
Clara und Steffie dabei geholfen hatte, den internationalen Superstar Philipp
Haag aus den Klauen eines rachsüchtigen und in die Jahre gekommenen Lehrers zu
befreien) hatte sie keine freien Tage mehr gehabt, sondern geschuftet wie ein
Ackerknecht (das ganze Träumen und Kaffeetrinken machte Joséphine wirklich
fertig), und auch ihr Arzt warnte sie besorgt vor einem möglichen Burnout.
Joséphine hatte einiges über das Burnout-Syndrom gelesen, und war vollkommen
zufrieden damit, noch davon verschont gewesen zu sein.
Nach langem Drängen ihres Arztes hatte sie
schließlich nachgegeben und versprochen, sich ein paar Tage von dem ganzen
Arbeitsstress freizunehmen.
Ein Problem bei der ganzen Sache gab es allerdings
noch, und das lautete Johnson.
Als Susan erschrocken über ihren groben Ton aufsprang
und zur Tür rannte, hielt Joséphine sie noch einmal auf und deutete galant auf
den Stapel Bewerbungen, der immer noch vor ihrer Nase stand. „Nimm den Dreck
bitte wieder mit und leg sie auf dem Weg nach unten Johnson auf den
Schreibtisch. Ich mache demnächst Urlaub.“
Sie beachtete Susans große Augen nicht – Was? Die
Chefin macht Urlaub? So was kommt ja seltener vor als eine Sonnenfinsternis! –
und tat, als würde sie weiter Einladungen beantworten. Als Susan weg und die
Tür zugefallen war, seufzte sie resigniert auf und legte den Stift beiseite.
Sie war wirklich nicht für ausdauernde Arbeit geschaffen.
Sie drehte ihren Stuhl um 180 Grad herum, schlug die
Beine übereinander und betrachtete die Skyline von Washington, D.C., durch die
Fensterscheibe der verglasten Front ihres Bürogebäudes. Sie sah das Monument,
den weltbekannten Obelisken, und sogar das Weiße Haus. Allerdings war sie schon
so oft ins Weiße Haus eingeladen worden, dass sie es allmählich überdrüssig
wurde. Außerdem würde es lila viel schöner aussehen.
Wieder einmal staunte sie darüber, wie weit sie es
gebracht hatte, wo sie doch als einfach Bürohilfskraft bei Microsoft angefangen
hatte, ähnlich wie Susan.
Bei diesem Gedanken zogen sich ihre Augenbrauen
zusammen. Sie musste wirklich deprimierter sein als sie bisher geglaubt hatte,
wenn sie jetzt schon Vergleiche zwischen sich und Susan fand.
Eine Weile überlegte sie noch hin und her, ob Susan
eine Bedrohung für sie darstellen könnte, doch schließlich entschied sie sich
resolut dagegen, und etwa zeitgleich wurde die Tür hinter ihr so brutal
aufgestoßen, dass sie gegen die Wand knallte. Joséphine ließ sich nichts
anmerken – obwohl sie sich über die vermutlich gigantische Delle in ihrer Wand
durchaus aufregen könnte – und starrte weiterhin nachdenklich aus dem Fenster.
Sie dachte daran, dass sie sich extra einen Chefsessel mit hoher Lehne
ausgesucht hatte, damit es von hinten so wirkte wie in den Gangsterfilmen mit bösen
Bösewichtern. Die hatten immer so große Sessel in denen sie saßen und man sie
nicht sehen konnte, um dem Publikum den Augenblick der Enthüllung der Identität
des bösen Bösewichts zu verzögern. Joséphine liebte sich in der Rolle des bösen
Bösewichts, und sie liebte auch die Gestik und Mimik, die der böse Bösewicht im
Film immer trug, wenn er sich herumdrehte: Aneinandergelegte Fingerspitzen, ein
überlegenes Lächeln auf dem Gesicht.
Joséphine hatte Johnsons Ankunft erwartet, sonst säße
sie mit ihrer Arbeit nicht mehr hier, sondern schon längst auf der Terrasse
ihrer Villa, im strahlenden Sonnenschein, wo sie sich ein wenig bräunen würde,
und vielleicht nebenbei eine Fußmassage genießen würde.
Johnson legte einen wahrhaft johnsonigen Auftritt
hin, wie er es immer tat. Keiner konnte besser einen johnsonigen Auftritt
hinlegen wie der ehrenwerte Mr. Johnson selbst.
„Du machst Urlaub? Du machst Urlaub?! Sag
mal hast du sie eigentlich noch alle? Wie bescheuert bist du eigentlich! Du
kannst mich doch hier nicht mit deiner Schar dummstirniger Kühe alleine lassen!
Wir brauchen einen Chef! Wir brauchen dich! Urlaub, ich glaub ich
spinne. Wie hast du dir das eigentlich gedacht? Du verschwindest für Wochen auf
einer idyllischen Südseeinsel und lässt mich den Saustall hier leiten, noch
dazu nur als Ersatzchef, womit ich rein gar nichts anfangen kann? Du hast sie
doch nicht mehr alle, du mit deinen verrückten Ideen! Da mach ich nicht mehr
mit, ich mach nicht mit bei dem Scheiß, das sag ich dir, ich hab genug von der
Welt, adieu, ich fahre schnell in den Baumarkt und kaufe mir ein Seil, nein,
aber Urlaub! Wie kommt sie überhaupt darauf? Sie ist verrückt!
Verrückt! Total irre! Und wer erfährt es als letztes? Der treue Johnson
natürlich!“
Endlich stoppte er seine Tirade, und Joséphine hörte
ihn schnaufen. Vermutlich hatte er alles in einem Atemzug heruntergerattert.
Ja, das war Johnson, wie er leibte und lebte. Schon hörte Joséphine ihn erneut
tief Luft holen, da tippte sie kurz mit der Fußspitze an die Glasscheibe, wodurch
sich der Stuhl drehte und nach exakt 180 Grad vor Johnson stehen blieb, der
sich erhitzt auf ihre Schreibplatte gestützt hatte und bereits einen hochroten
Kopf hatte. Sie erhob den Zeigefinger, um ihn davon abzuhalten, eine weitere
Schimpftirade auf sie loszulassen. Tatsächlich unterließ er es, stellte sich
aufrecht hin und verschränkte auffordernd die Arme vor der Brust. Seine Haut
nahm wieder eine normale Farbe an.
Joséphine warf einen kurzen Blick auf den Stapel
Berwerbungsmappen, der wieder auf ihrem Schreibtisch lag, entschied sich aber
dafür, dieses Thema später anzusprechen. Sie breitete gespielt einladend die
Arme aus und begrüßte ihn.
„Johnson, mein Lieber, ich freue mich auch sehr, dich
zu sehen. Möchtest du einen Kaffee? Setz dich doch!“ Sie deutete mit einer
einladenden Handbewegung auf einen der Besucherstühle, wunderte sich aber
nicht, als Johnson nicht reagierte, sondern sie weiter abwartend anstarrte.
Also seufzte sie gespielt theatralisch und legte
wieder die Fingerspitzen aneinander, wie sie es damals, vor vielen Jahren, bei
Angela Merkel abgeschaut hatte, die zu dieser Zeit Bundeskanzlerin in
Deutschland war. „Johnson, du bist alles andere als der letzte, der es erfährt,
also reg dich nicht darüber auf. Warum
ich es dir nicht gleich gesagt habe? Nun, das liegt schlicht und einfach an
meiner perfekten Planung und natürlich meiner Gemütlichkeit. Dadurch, dass
Susan es dir sozusagen aus zweiter Hand erzählt hat, konnte ich versichert
sein, dass du sofort aufspringst und in mein Büro rennst. Auch habe ich Susans
Zeit zum Laufen in dein Büro exakt berechnet, sodass ich sie so lange aufhielt,
bis sie um genau 12:35 Uhr dein Büro erreichte – ihre tägliche Laberpause mit
Sven einberechnet – und du also genau um 12:37 Uhr in mein Büro gestürmt kam,
was genau vor drei Minuten war. Es ist jetzt 12:40 Uhr, genau die Zeit, zu der
ich dich hier haben wollte. Nun habe ich zwanzig Minuten, die ich brauche, dir
die aktuellen Themen auseinanderzusetzen und um 13:00 endlich mein Büro
verlassen zu können. Ist die Frage geklärt?“
Johnson schwieg sich weiter aus, allerdings glaubte
Joséphine, einen amüsierten Funken in seinen Augen aufblitzen zu sehen, was sie
als Erfolg wertete. Johnson war schon immer etwas exzentrisch gewesen. „Und
jetzt setz dich“, sagte Joséphine schließlich mit bestimmter Stimme.
Ihm lag ob ihres befehlenden Tons ohne Zweifel ein
bissiger Kommentar auf der Zunge, doch er schien ihn sich zu verkneifen und
trottete dann gemächlich zum Sessel, wo er es sich gemütlich machte, als erwarte
er, einem zweistündigen und todlangweiligen Vortrag lauschen zu müssen.
Joséphine grinste halb. Johnson mochte zwar ein
verrückter, einundzwanzig-jähriger Punker sein, über den sie nicht das
Geringste wusste und der rücksichtslos bis in die Fußspitzen war, doch glaubte
sie, seine Persönlichkeit mittlerweile gut genug zu kennen um zu wissen, dass
er der perfekte Ersatzleiter für ihre Firma war. Er hatte es schließlich nicht
ohne Grund auf den Posten des Ersatzchefs geschafft.
Joséphine erinnerte sich an den Tag, nachdem sie die
Anzeige „Ersatzchef gesucht“ in die Zeitung und das Internet gestellt hatte.
Mindestens fünfzig Kandidaten hatten sich gemeldet, in der Hoffnung, die Stelle
(und damit ein abartig hohes Gehalt) zu ergattern. Dabei hatten sich jedoch
sieben Achtel der Bewerber als unfähige Trottel herausgestellt, die nicht
einmal die Anzahl der Filialen in Amerika schätzen konnten und stattdessen die
Bestellung ihres heutigen Mittagessens aufschrieben.
Joséphine hatte sich resigniert fünf Personen ausgepickt,
die für den Platz in Frage kämen, bei keinem jedoch war sie sich wirklich
sicher. Dann, fast eine Stunde, nachdem die Bewerbungstreffen abgeschlossen
waren und Joséphine eben die Alarmanlage scharfschalten wollte, um nach Hause
zu gehen, tauchte dieser magere, erschreckend bunt gekleidete Typ in ihrem Büro
auf, die grün und pink gefärbten Haare hochgegelt, eine perfekte
Irokesen-Frisur. Schon auf den ersten Blick war Joséphine fasziniert von ihm
(sie war schon immer beeindruckt von diesem Style, und sie selbst war alles
andere als abgeneigt gegen Dinge wie Piercings und Tattoos, wie ihre Haut
selbst bezeugen konnte), doch das Beeindruckendste kam danach. Johnson überflog
den Fragebogen, den jeder Bewerber vorgelegt bekommen hatte, nur einmal und
warf ihn dann demonstrativ in den Mülleimer. „Schwachsinnige Fragen“,
meinte er. „Und sie wollen die Leiterin von Microsoft sein?“ Danach hatte sie
ihm mündlich Fragen gestellt, komplizierte was-wäre-wenn-Fragen (Was machen
sie, wenn eine Filiale überfallen wird? Was, wenn ein Feuer ausbricht? Wenn ein
Hackerangriff auf unser System gestartet wird? Wir erpresst werden?), die
beweisen sollten, dass er wusste, was er in einer bestimmten Situation tun
sollte, und ein gestelltes Bewerbungsgespräch mit ihm geführt, denn auch der
stellvertretende Leiter musste neue Arbeiter einstellen.
Oder nur der
stellvertretende Chef, denn Joséphine saß ja den ganzen Tag nur auf ihrem
Chefsessel und starrte glücklich und verträumt die Skyline von Washington,
D.C., an.
Nun ja, jedenfalls war Joséphine sofort klar, dass
sie jedem der vorherigen Bewerber eine Absage erteilen musste, denn der
Intelligenzquotient dieses Mannes musste gigantisch sein, so ausgeklügelte
Antworten hatte er für jede ihrer Fragen parat. Nie hatte sie eine so zugleich
schlampig gekleidete (Johnson war wahrhaft schlampig gekleidet, selbst für
einen Punk, was darauf hinwies, dass er anscheinend nicht gerade in den besten
sozialen Verhältnissen lebte) und doch so intelligente Person getroffen wie Johnson.
Leider war er ziemlich geheimnisvoll, verriet nichts über seine Vergangenheit
(obwohl, was konnte ein neunzehnjähriger schon für eine Vergangenheit haben,
die es sich zu verbergen lohnte?), was Joséphine zur Weißglut trieb. Sie liebte
es, wenn Menschen für sie wie ein offenes Buch waren, und sie ihnen haushoch
überlegen war. In Johnson fand sie einen Rivalen, doch bald schon merkte sie,
dass das unwichtig war. Sie stand mit ihm auf einer Stufe, er war ihr sehr
sympathisch, und bald verstanden die beiden sich super und duzten sich sogar.
Sie vertraute ihm, und er vertraute ihr, zumindest, soweit jemand wie Johnson
überhaupt jemandem vertrauen konnte. Seine exzentrischen Phasen hatte Joséphine
sich jedes Mal selbst zuzuschreiben, indem sie wieder einmal versuchte, ihn
nieder zu machen. Ab und zu konnte sie einfach nicht widerstehen, doch kein Mal
klappte es. Immer wieder ließ er seine charmante Art spielen und verließ die
vor Wut schäumende Joséphine mit einem breiten Grinsen, obwohl es doch sie war,
die mit der Kabbelei angefangen hatte.
Doch diesmal hatte sie es geschafft. Sie hatte ihn
unheimlich wütend gemacht und sah dabei sogar noch gut aus, wie sie da gechillt
in ihrem Sessel saß und um zehn Stufen überlegender wirkte als er, der doch
immer absolut lässig blieb und sich seine Gedanken niemals anmerken ließ. In
diesem Moment verfluchte Joséphine ihr selbst ausgedachtes Stufen-System im
Kampf gegen Johnson jedoch, denn durch seine sofort wieder aufgesetzte
Lässigkeit, mit der er ihr jetzt begegnete, stieg er wieder um fünf Stufen auf.
Doch im nächsten
Moment kümmerte es sie nicht mehr. Sie hatte ihre Genugtuung gehabt, und nun
wollte sie ihm erstmal weiter unter die Nase reiben, dass da Großes auf ihn
zukam. „So, Johnson, schön dass du es eingesehen hast. Jetzt können wir
vernünftig miteinander reden, von Chef zu Chef sozusagen.“
Er erlaubte sich ein leises Schnauben, denn er hatte
die Ironie im letzten Satz deutlich herausgehört. Joséphine grinste.
„Aber kommen wir zum Geschäftlichen. Wie du jetzt
weißt, mache ich Urlaub, und das schon morgen. Normalerweise erledige ich in
Zeiten wie diesen meine Arbeit immer per Computer, auch im Ausland, doch dieses
Mal muss es anders werden. Ich kann es mir nicht mehr leisten, stundenlang zu
arbeiten. Dabei macht es schließlich keinen Unterschied, ob ich hier in meinem
Büro sitze oder irgendwo am Strand oder bei meinen Eltern zu Hause.“
Johnsons Gesicht war ausdruckslos. „Aha.“
„Darum“, fuhr Joséphine fort und freute sich auf
seine Reaktion. „übertrage ich dir alle Macht, die ich habe, für die Zeit, in
der ich im Urlaub bin. Entlassungen, Kostendeckungen, Produktneuerscheinungen,
Tagesorganisationen, whatever – alles jetzt deine Aufgabe.“
Johnson schwieg weiterhin, ein grüblerischer Ausdruck
legte sich auf sein Gesicht. Schon war Joséphine enttäuscht. Sie wusste zwar,
dass ein Punk wie Johnson nicht so leicht aus der Fassung zu bringen war, nach
seinem Wutausbruch vor fünf Minuten hatte sie allerdings gehofft, dass er heute
einen emotionalen Tag hatte. Anscheinend hatte sie sich geirrt, denn Johnson
schien nun seine Entscheidung getroffen zu haben und öffnete den Mund.
„Einverstanden“, lautete seine einzige Antwort.
Joséphines Augenbrauen zogen sich zusammen. „Willst
du nicht irgendwie… motzen oder so? Oder dich freuen? Oder Irgendwas?“
Johnson blickte sie überrascht an, mit einem
Gesichtsausdruck, der sich nur als Kannst du das bitte wiederholen? Ich
glaube, ich habe mich gerade verhört bezeichnen ließ.
Der Hauch eines
Grinsens breitete sich in seinem Gesicht aus, und er zog seine langen Beine zu
sich, als er sich gerade hinsetzte. Dann rutschte er vor und ließ sich vor dem
Sessel – und somit vor Joséphine – auf die Knie fallen. Er faltete die Hände
und blickte mit hinterhältig glitzernden Augen zu ihr auf. „Oh Herrin! Ich
danke euch so sehr, dass ihr mir diese Chance gegeben habt! Ich weiß nicht, wie
ich das in Zukunft wieder gut machen soll, denn ab jetzt stehe ich unendlich in
eurer Sch…“
„Halt die Klappe!“, zischte Joséphine und sprang auf,
während sie erschrocken zur Tür blickte. „Hör auf mit dem Quatsch! Steh auf!“
Johnson, noch immer in derselben Pose, legte den Kopf
schief. „Angst, dass uns jemand so sieht?“, fragte er anzüglich. „Das wäre
nicht gerade gut für dein Image.“ Joséphine verpasste ihm nur einen Tritt in
die Seite, und er ließ sich gespielt schmerzvoll auf den Boden fallen.
Anspielungen dieser Art schien er zu lieben, und er wusste, wie sehr Joséphine
es hasste. Wieder einmal musste sie sich eingestehen, dass ihr Plan, Johnson zu
erniedrigen, schief gegangen war und sie nur sich selbst erniedrigt hatte.
Diese Erkenntnis machte sie so wütend, dass sie den noch immer reglos am Boden
liegenden Johnson einen erneuten Tritt in die Seite gab und „Steh auf, du
nutzloser Haufen!“, rief.
Grinsend und unbekümmert richtete Johnson sich auf,
pflanzte sich wieder auf den Sessel und beobachtete Joséphine dabei, wie sie
versuchte, sich zu beruhigen, und ihn demonstrativ ignorierte.
Es klopfte an der Tür, und Joséphine setzte sich
schnell hin, richtete ihre Haare und rief „Herein!“ Die Tür öffnete sich und
Susans Kopf erschien im Spalt. „Frau Princet? Da ist ein älterer Herr am
Eingang, er möchte sie sprechen. Er sagt, es gehe im die Golden Gate Bridge,
und sie wüssten, was er damit meint…“
Joséphine war erst perplex, dann erinnerte sie sich
wieder. „Ja, ja, sag ihm ich komme gleich. Setz ihn doch in den Warteraum und
gib ihm ein Glas Wasser. Ich…“ Sie warf einen vorwurfsvollen Blick auf Johnson,
der sich eingehend mit seinen Fingernägeln beschäftigte, dem Gespräch zwischen
Joséphine und Susan jedoch scheinbar keine Aufmerksamkeit widmete. „Ich habe
hier noch etwas zu erledigen.“ Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Johnson den
Kopf hob und grinsend mit den Augenbrauen wackelte. Sie wedelte eilig mit der
Hand. „Jetzt geh schon. In fünf Minuten bin ich da.“
Die Tür fiel zu, und Johnson meldete sich zu Wort.
„Was für eine Verschwörung heckst du denn diesmal aus, Herrin? Willst du die
Golden Gate Bridge zerstören? Von hier aus?“
Joséphine legte ein hochnäsiges Gesicht auf und
freute sich, mal etwas zu wissen, das Johnson nicht wusste. „Das geht dich
nichts an, Untergebener. Dich braucht nur zu interessieren, dass du morgen Chef
eines der größten Konzerne der Geschichte der Menschheit wirst. Diese Tatsache
solltest du dir klar werden lassen und ein wenig ehren, aber nicht so wie
vorhin.“
Sie drehte sich in ihrem Stuhl wieder zum Fenster.
Menschen, klein wie Ameisen, verließen gerade in Scharen die Bürogebäude des
Central Business District, um Mittagspause zu machen. Das erinnerte sie daran,
dass sie ihren Arbeitstag eigentlich schon beendet haben wollte, und nach der
Sache mit Johnson noch Smith auf sie wartete. Meine Güte, dachte sie. Urlaub
zu haben ist ja anstrengender als Arbeiten.
Sie fing wieder an, zu Johnson zu reden,
beziehungsweise zum Fenster, denn sie konnte seinen provozierenden Anblick
nicht mehr ertragen. Sie mochte vielleicht seinen Kleidungsstil, was sie von
seinem Charakter aber nicht sagen
Konnte. „Wo waren wir… ja, du wirst Chef. Eine miese
Entscheidung, wenn ich jetzt darüber nachdenke.“ Letzteres sagte sie nur, um
ihn zu nerven. Sie wusste, dass niemand besser dafür geeignet war als Johnson,
so unwahrscheinlich es auch klingen mochte. Vermutlich war mit ihrem Gehirn
etwas nicht in Ordnung. Und mit seinem sowieso nicht. „Der Vertrag ist gestern
aufgesetzt worden und tritt in Kraft, sobald ich die Vereinigten Staaten
verlassen habe. Also morgen früh um genau acht Uhr, sieh es als deinen normalen
Arbeitstagsanfang. Andersherum wird mir meine Macht sofort wieder übergeben,
sobald ich die Vereinigten Staaten wieder betrete. Und zwar ohne Murren, sonst
drohen dir weitreichende Konsequenzen, denn ich besitze eine Kopie des
Vertrags. Bleibe ich länger als die geplanten drei Tage im Ausland, behältst du
natürlich so lange deine neuen Pflichten. Das Maximum ist ein Jahr. Danach wird
der Vertrag ungültig und du behältst die Macht und hast nicht mehr die Pflicht,
sie mir zurückzugeben. Aber ich glaube nicht, dass ich länger als ein Jahr wegbleibe,
außer du setzt dort, wo ich bin, einen Auftragskiller auf mich an, um Microsoft
für dich zu haben. Und in diesem Falle – dem Falle eines plötzlichen Todes –
würde Microsoft sowieso an meine Schwester übergehen. Sie befindet sich im
Moment in Deutschland und ist auf eine solche Situation vorbereitet, also
versuch keine Mätzchen.“ Sie glaubte sowieso nicht, dass er sie umbringen
lassen würde, denn sie vertraute ihm, trotz seines deprimierenden Charakters.
Allerdings hatte sie nicht vor, ihm das auf die Nase zu binden.
Johnson schwieg, Joséphine redete ungerührt weiter.
„Wie gesagt, der Vertrag tritt morgen früh um acht Uhr in Kraft. Unterschreibe,
und du bist ein reicher Mann.“ Er schnaubte amüsiert, und Joséphine verzog
hinter dem Schutz ihrer hohen Rückenlehne das Gesicht. Das hätte sie nicht
sagen sollen. Sie wusste, dieses Argument war völlig sinnlos, denn Johnson
hatte als stellvertretender Leiter das zweihöchste Gehalt der Firma, und die
mickrigen zwei Millionen Euro, die er auf ihrem Posten mehr verdienen würde,
juckten ihn nicht das Geringste.
Joséphine atmete tief ein und drehte den Stuhl wieder
herum. Sie blickte nicht zu Johnson herüber, sondern zückte nur ein Formular
aus ihrer Aktentasche und schob es über die Schreibplatte auf ihren zukünftigen
Ersatzchef zu.
Johnson stand auf, schnappte sich Joséphines Kuli und
unterschrieb mit einer beiläufigen Handbewegung. Er grinste. „Abgemacht. Der
Deal steht. Übrigens kommt gleich Susan vorbei und bringt dir die Bewerbungen
vorbei – keine zehn Pferde könnten mich dazu bringen, den Dreck für dich zu
erledigen.“
Sie seufzte erst,
als die Tür hinter ihm zugefallen war.
*
Am anderen Ende der USA, um genau zu sein in San Francisco,
hob ein Mann den Telefonhörer ab und rief bei der amerikanischen Fluggesellschaft
an, wo er eine Buchung für einen Flug nach Washington, DC, aufgab, und eine
weitere für das Ticket von Washington, DC, nach Hamburg, in Deutschland. Er
würde mit einer gewöhnlichen Boeing 707 fliegen, in zweiter Klasse, und damit
war er ganz zufrieden.
Er war noch nie der
Typ für großen Luxus gewesen.
*
Joséphine betrat die Lobby ihres Büro-Hochhauses in dem
Moment, als Smith gerade seine Hand unter Susans Rock schob und sie so zum
Kichern brachte. Bei ihrem Eintreten fuhren die Beiden ertappt zusammen, doch
Josephine tat, als hätte sie nichts gesehen. Damit hatte sie nur einen weiteren
Grund, Susan zu feuern. Sie lächelte Smith geschäftsmäßig zu, während sie Susan
ignorierte, die kurz darauf mit hochrotem Kopf aus der Lobby verschwand.
Smith, ein unglaublich fülliger Mann mit
Hamsterbäckchen und rotem, wuscheligem Haar auf dem hinteren Teil des Kopfes
(er war ein waschechter Ire) räusperte sich unangenehm berührt und streckte Joséphine
die plumpe Hand entgegen. Sie lächelte und schlug ein. Smith war schon ewig ihr
Kumpel, auch wenn sie beide so oft wie möglich taten, als wäre sie reine
Geschäftspartner. Sie wussten beide, dass Smith Dreck am Stecken hatte, und
dass es nicht gut war, mit ihm gesehen zu werden. Und die Augen der Kameras lauerten
überall.
Doch hier, in Joséphines
Wolkenkratzer, gab es nicht ein elektronisches Detail, das sie nicht
beherrschte. Dieses Hochhaus war vermutlich sicherer als das Hauptquartier der
amerikanischen Geheimpolizei selbst.
„Smith, alter
Freund. Sind sie fertig mit dem Projekt?“, fragte Joséphine. „Ich hoffe doch,
es hat keine Schwierigkeiten gegeben?“
Smith räusperte sich
erneut. Es schien ihm noch immer peinlich zu sein, dass die Sekretärin einer
Freundin ihn verführt hatte. Sein Doppelkinn schwabbelte.
Seinen Namen kannte
sie nicht. Niemand kannte seinen Namen. Die meisten nannten ihn einfach Smith,
aber alle wussten, dass er nicht so hieß. Aber Joséphine wollte ihn auch gar
nicht wissen – wie gesagt, es war nicht gut, zu viel über Smith zu wissen und
in seine geheimen Aktivitäten verwickelt zu werden. Außerdem akzeptierte sie
seine Privatsphäre, auch wenn er als professioneller Hacker die der anderen
nicht beachtete.
„Ja… ja, Frau
Princet. Ich habe die Angelegenheit heute Morgen beendet. Was die
Schwierigkeiten betrifft, so war das wohl unausweichlich, bei einem so großen
Vorhaben, aber das wussten wir ja. Es hat lange gedauert, und war auch nicht
gerade unauffällig, aber bis jetzt konnte ich meinen und ihren Namen geheim
halten, und es wird auch weiterhin so bleiben. Niemand wird sie damit in
Zusammenhand bringen. Hier…“ Er zückte ein Blatt Papier aus seinem grauen
Jacket. „…ist die Rechnung. Die Bezahlung für die Jungs und mich, und die
Unkosten für den Transport und das Material. Eine ganze schöne Summe.“ Smith
zog unauffällig aber wirkungsvoll eine seine buschigen roten Augenbrauen in die
Höhe, und Joséphine lächelte sarkastisch, während sie die Rechnung
entgegennahm.
„Machen sie sich
keine Sorgen um ihr Geld, sie werden es bekommen. Bevor ich allerdings den
Scheck ausstelle, möchte ich gerne das Resultat begutachten. Das verstehen sie
doch sicher.“
Smith, als
waschechter Ire, fühlte sich sichtlich in seiner Ehre gekränkt. „Natürlich
verstehe ich das. Ich habe saubere Arbeit geleistet und wäre beleidigt, wenn
sie mein Wunderwerk nicht genau
überprüfen würden. Darf ich fragen, wofür sie das gute Stück eigentlich
wollen?“
Da dies das erste
Mal war, dass Smith die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben auch nur
annähernd übertrat, beschloss Joséphine, dieses Mal die Wahrheit zu sagen.
„Bungee Jumping.“
Smith zog erneut
leicht eine Augenbraue in die Höhe. „Aha. Ebenfalls ein geliebtes Hobby von
mir. Zumindest war es das einmal, als ich noch ein wenig… sportlicher war. Aber
nur dafür die Golden Gate Bridge von San Francisco nach Washington verfrachten
lassen?“
Joséphine lächelte
nachsichtig, als spräche sie mit einem kleinen Kind. „Von keiner Brücke lässt
es sich besser Bungee Jumpen als von der Golden Gate Bridge. Außerdem bin ich
sehr praktisch veranlagt: In fünfundzwanzig Jahren werde ich die Kosten
ausgeglichen haben, die ich ansonsten für Flugtickets und Hotels hätte ausgeben
müssen.“
Smith blieb
skeptisch, und er schien sich ein Lachen verkneifen zu müssen.
*
Zuhause in seinem Lehnsessel San Francisco lehnte sich der
Mann zurück und schloss die Augen, eine Tasse Kaffe in der Hand. Soeben hatte
er fertig gepackt, und ein entspannter Tag lag vor ihm, bevor er früh aus dem
Bett musste, um seinen Flug zu erwischen.
Da klingelte das
Telefon. Ohne die Augen zu öffnen streckte der Mann die Hand mit der Tasse aus,
stellte sie auf dem Tischchen neben sich ab und griff stattdessen nach dem
Telefon. Er öffnete die Augen um zu sehen, wer es war, und überlegte dann, es
zu ignorieren. Doch dann entschied er sich dagegen.
„Hallo?... Hi, Chef,
was gibt’s?... Heute? Hm… muss das sein? … ach ja?... na gut, ich muss aber
früher Heim heute… okay… ja… ja, ich bin gleich da. Wie lange genau?... das ist
schlecht… weil ich morgen früh um zwei Uhr aus dem Bett muss!... ja, mein Flug…
bis um acht, okay… ja, ja, bis gleich, Ciao.“ Resigniert legte er auf.
Das wurde dann wohl
nichts mehr aus seinem chilligen Tag.
Zwei Minuten blieb
er noch sitzen, trank seinen Kaffee zu Ende, dann schleppte er sich aus dem
Sessel und machte sich auf den Weg.
*
„Fantastisch“, murmelte Joséphine und schirmte ihre Augen
mit der Hand gegen die Sonne ab, um ihre Brücke besser sehen zu können. „Gute
Arbeit.“ Sie drehte sich zu Smith um, der immer noch heftig schnaufte vom Weg
hier herauf, und reichte ihm ihre Hand. Er grinste und schüttelte sie. Dann
zückte er wieder den Scheck und einen Kuli, und Joséphine setzte mit einer
eingeübt lässigen Handbewegung ihre verschnörkelte Unterschrift auf das Papier.
Dabei benutzte sie Smiths Rücken als Unterlage, denn die beiden standen auf dem
Dach von Joséphines Bürogebäude. Von hier aus hatte man einen fantastischen
Überblick über ganz Washington, vor allem aber über die beiden Flüsse anacostia
river und potomac river. Über dem anacostia river, etwa zwei Kilometer
Luftlinie von ihnen entfernt, prangte die weltweit bekannte Golden Gate Bridge.
Es hatte sich
bereits ein riesiger Pulk Menschen darum gebildet, bestehend aus neugierigen
Anwohnern, Touristen, den Medien und der Polizei.
Smith schmatzte
zufrieden und steckte den Scheck ein. „Das wird morgen in allen Zeitungen sein.
Aber die Verantwortlichen werden sie nicht finden, vertrauen sie mir.“
Joséphine blickte
zweifelnd. „Wie konnten sie das überhaupt verbergen? Wird die Brücke in San
Francisco überhaupt nicht vermisst? Und wie lange bleibt sie hier in
Washington?“
Smith lachte wie ein
Bär, der gerade eine Honigwabe gefunden hatte. Auch sein Körperumfang
unterstützte diese Assoziation. „Das zu verbergen war ganz einfach. In San
Francisco liegt ein riesiges Tuch über der vermeintlichen Brücke, allerdings
befindet sich darunter nur ein einfaches Holzgerüst. Ich habe die Computer des
Staates gehackt und angegeben, dass an der Brücke Sanierungsarbeiten laufen. Es
kann nicht zurückverfolgt werden, dass ich das war. Sobald die Nachricht in San
Francisco ankommt, dass sich die Brücke hier befindet, fliegt der Betrug
natürlich auf, aber dann wird es schon zu spät sein. Ich werde mich vor dem
Fernseher kringelig lachen! Was ihre letzte Frage angeht, Frau Princet, wie
lange die Brücke hier bleiben wird… gegen den mickrigen Zuschlag von
zwanzigtausend Dollar könnte ich mich in des Präsidenten Computer hacken und
den Befehl geben, die Brücke hier zu lassen. Ich denke, das dürfte kein Problem
sein – in San Francisco wird dann eben eine neue Brücke gebaut.“
Joséphine nickte.
Wie war derselben Meinung. Hauptsache, ihre Brücke blieb hier!
Smith fuhr fort.
„Für vierzigtausend Mäuse obendrauf könnte ich sogar einen Agenten ins Weiße
Haus schleusen und ein Hostile Takeover durchführen lassen, sodass Sie einen
exklusiven Einblick in die Geschäfte des Staates bekommen, und vielleicht sogar
in des Präsidenten Privatleben, sofern er den Computer auch für private Dinge
benutz. Sind Sie interessiert?“
Joséphine war
allerdings interessiert. Sie wusste als Computerfachfrau sogar, was ein Hostile
Takeover war – damit konnte die des Präsidenten Computeraktivitäten sozusagen
live miterleben und alle Daten betrachten, die die Festplatte enthielt. Also
stellte Joséphine einen neuen Scheck von hunderttausend Dollar aus (ein kleines
Trinkgeld von vierzigtausend Dollar für einen guten alten Freund, ein Klacks
für Joséphine) und verabschiedete sich von Smith. Er hatte einen neuen Termin,
zu dem er nicht zu spät kommen durfte. Es ging um den Eiffelturm und Japan,
aber mehr hatte er Joséphine nicht erzählt. Sie vertraute darauf, dass er den
Weg nach unten und nach draußen selbst finden würde und betrachtete weiter die
Brücke.
Heute würde sie dort
leider nicht mehr Bungee Jumpen können, denn dafür war dort zu viel los, aber
sie würde eben morgen früh um sechs ein paar Sprünge machen, sozusagen um ein
wenig Adrenalin zu tanken, bevor sie acht Stunden ohne Zwischenlandung im
Flugzeug nach Deutschland verbrachte.
Sie warf einen letzten Blick auf das Gewimmel
rund um ihre Brücke und verließ das Dach.
Sie machte einen
Abstecher in ihr Büro, schnappte sich ihre Aktentasche (außer dem heutigen
Vertrag hatte eigentlich noch nie ein wichtiges Blatt darin gesteckt – Joséphine
besaß diese Tasche eher um der Wirkung Willen) und machte sich dann endlich auf
den Weg zu ihrem letzten Termin für heute.
In den Fluren ihres
Bürogebäudes herrschte Stille. Joséphine blickte sich unwohl um. Wo waren ihre
Mitarbeiter hin? Probeweise blickte sie in eines der Büros – fast alle Türen
standen weit offen – und erkannte, dass es leer war. Ganz offensichtlich hatte
es jemand überstürzt verlassen. Davon zeugte ein Haufen Papier, der verstreut
auf dem Boden lag.
Als Joséphine wieder
auf den Flur trat, bog gerade Johnson um die Ecke. Sein Irokesenkamm wackelte
auf seinem Kopf hin und her, und ein dickes Grinsen lag auf seinen Lippen.
„Falls du deine Untergebenen suchst, Chefin,
die bewundern gerade alle die neue Brücke. Du hast nicht zufällig was damit zu
tun?“
Joséphine warf ihre
Haare zurück. „wie kommst du denn darauf? Außerdem dachte ich eben, die Leute
sind abgehauen als sie erfahren haben, dass du der neue Chef wirst.“
Er grinste breiter.
„Tatsächlich, so muss es sein. Jedenfalls, verschwinde endlich. Ich habe
übrigens deine Krankenakte gelesen.“
Er verschwand schon
um die nächste Ecke, während Joséphine noch mit offenem Mund dastand. Er hatte
ihre Krankenakte gelesen? Aber wie?! Und warum?
Jedenfalls hatte er
ihre Krankenakte gelesen, ist also in ihre Privatsphäre eingedrungen, und gab
damit noch an? So ein Arschloch! Und nun wusste er auch, dass ihr ein Burnout
drohte!
„Hmpf“, schnaubte
sie und verließ ihr Bürogebäude durch den Haupteingang, wobei sie merkte, dass
auch am Empfangstresen niemand stand. Wehe
dem, der heute Schicht hat!, dachte Joséphine. Wenn ich wieder da bin, werde ich ihn feuern! Bei ihren
Büroarbeitern konnte sie es ja noch verstehen, aber als Portier hatte man eine
Menge Verantwortung, vor allem, was die Sicherheit betraf. Im Moment konnte
jeder hereinspazieren und tun und lassen was er wollte!
Plötzlich entschied Joséphine,
dass ihr das egal war. Dieses Bürogebäude war nur ein kleines Nebengebäude
ihrer Firma, und selbst wenn jemand ihr das ganze Gebäude klauen würde, hätte
sie nicht einmal ein Millionenstel ihres Besitzes Verlust gemacht. Es würde
weder ihre Ehre noch ihren Besitz ankratzen.
Also zuckte sie mit
den Schultern, stieg in die Metro, deren Station direkt vor der Tür lag, und
fuhr zum Shoppen.
*
Der Mann saß schlecht gelaunt hinter seinem Schreibtisch in
seinem Büro der Zeitung Wild Cherries. Die
Hauptthemen der Zeitschrift waren nicht etwa Wilde Kirschen, sondern Politik
und Wirtschaft. Der Großteil der Zeitung war allerdings mit den täglichen News
gefüllt, beispielsweise Entführungen in Afghanistan, Vergewaltigungen in
Indien, Surfunglücke in Sidney. Zugegeben, tragische Dinge, aber eben doch
alltäglich und somit langweilig für einen Journalisten.
Es war drei Uhr
Mittags, und der Mann beendete gerade den Bericht über die Freilassung eins
ehemaligen Gymnasiallehrers, der vor zwei Jahren einen seiner ex-Schüler
entführt und seine Freundin getötet hatte. Die Sache hatte damals viel Aufsehen
erregt.
Der Mann schickte
den Bericht per e-Mail an die Redaktion und griff sich eine neue
Nachrichtenmeldung, die in einen Bericht umgewandelt werden musste.
Er hatte heute noch
fünf Stunden zu arbeiten. Zwei seiner Kollegen waren krank geworden, und
natürlich musste er beide ersetzen. Er fragte sich, ob er früh genug ins Bett
kommen würde, um später um zwei Uhr nachts rechtzeitig wieder aufstehen zu
können. Aber notfalls konnte er ja im Flugzeug schlafen.
Erst jetzt
realisierte er die Überschrift der Nachricht, die er in den Händen hielt, eine Eilmeldung
von heute Morgen. „GOLDEN GATE BRIDGE STOLEN. APPEARED IN WASHINGTON, DC.“ Erst
sah er ein wenig verwundert drein, dann konnte er fünf Minuten lang nicht mehr
aufhören zu lachen.
*
„Wo soll’s hin?“, fragte Cat.
Joséphine deutete
auf ihr linkes Handgelenk. „Hier.“
Sie befand sich
gerade im Tattoostudio „Fantasy“ und hatte mit ihrer guten Freundin Kate, von
allen Cat genannt, ein Tattoo entworfen.
Joséphine trug schon
einige Tattoos auf ihrem Körper, darunter ein paar kleinere, wie zum Beispiel
die drei Sterne hinter ihrem Ohr (das hatte sie sich gewünscht, seit sie
vierzehn war; mittlerweile sah sie allerdings ein, dass es klischeehaft war)
und eine gelbe Sonne im Ausschnitt. Die Sonne war recht hell, damit man sie nur
sah, wenn man wirklich wusste, dass sie da war. Trotz der Schlichtheit
(beziehungsweise Nicht-Sichtbarkeit) war sie etwas ganz Besonderes, und Joséphine
trug ihre Tattoos schließlich für sich selbst, und nicht für andere.
Dieses Tattoo war
eine Erinnerung an Clara, eine ihrer besten Freundinnen, die sie leider nur
selten sah. Clara lebte mit ihrem Ehemann Philipp und ihren beiden Kindern Max
und Lena immer noch in Legelshurst, wo sie ein ruhiges Leben führten. Auch sie
würde Joséphine besuchen, sobald sie in Deutschland ankam.
Auch für ihre
anderen Freundinnen hatte sie kleine Erinnerungstattoos. Für Meggy hatte sie
einen süßen kleinen Teddybären mit roter Schleife, der sich auf ihrem rechten
Ringfinger räkelte. Er war wirklich winzig, aber unglaublich detailliert. So
etwas brachte nur Cat zustande.
Für Steffie hatte
sie einen Green-Day-Schriftzug um ihren rechten Oberarm, wie ein Tribal. Bei
Green Day musste sie immer an Steffie denken, und selbst liebte sie die Band
auch. Leider waren die Mitglieder schon alle etwa fünfzig Jahre alt, und zwar
musizierten sie noch, allerdings um einiges weniger als noch vor zehn Jahren.
Für Karo hatte sie
ein sehr besonderes Tattoo. Es war eine Krone. Allerdings keine einfache,
langweilige Krone, wie man sie sich eben vorstellte, sondern sie wickelte sich
wie Steffies Schriftzug um ihren Oberarm – dem Linken. Das Besondere daran aber
war die goldene Farbe. Es war teuer, da es eine neumodische Technik war, aber Joséphine
hatte es liebend gern gemacht. Nun hatte sie also ein goldenes Tattoo, das in
der Sonne edel schimmerte. Das Symbol war übrigens eine Krone, weil Joséphine
sich oft an „Prinzessin Karolinas Märchen“ erinnerte, die Steffie in der achten
und neunten Klasse über Karo geschrieben und erzählt hatte.
Hélène war etwas
kompliziert gewesen, und Annalena sowieso. Joséphine hatte lange überlegen
müssen, bis sie sich schließlich für eine Mini-Frankreichkarte für Hélène (sie
befand sich auf der Innenseite ihres rechten Handgelenks) und ein kleines
aufgeschlagenes Büchlein für Annalena (auf ihrem linken Ringfinger) entschied.
Auf der Karte war mit einem kleinen roten Punkt Hélènes Zuhause markiert, ein
Weingut in der Normandie. Annalenas Büchlein war ebenfalls etwas Besonderes:
Die Seiten waren auf beiden Seiten so lang, dass sie fast um den ganzen Finger
herumreichten. So sah es aus wie ein Ring. Und Joséphine liebte Ringe.
Das absolut größte
all ihrer Tattoos war allerdings ein riesiger Drache auf ihrem Rücken, von dem
sie durch das Buch „Verblendung“ von Stieg Larsson inspiriert wurde. Der Kopf
des Drachen schaute knapp über ihre linke Schulter und verlief dann leicht nach
rechts über ihr Schulterblatt. Dann folgte der elegante Körper, über ihren
ganzen Rücken bis knapp über ihre Hüfte, und dann kam der Schwanz, der sich um
ihren rechten Oberschenkel ringelte. Es war eine großartige arbeit, denn der
Drache war dunkelgrün und unglaublich detailliert, jede einzelne Schuppe ein
Unikat, und mit glühend roten Augen, die drohend über ihre Schulter blickten.
Sie musste fast einen Monat lang jeden Tag zu Cat gehen, bis das Kunstwerk
vollendet war.
All diese Tattoos
hatte Cat ihr auf ihren Körper gezaubert, und Joséphine hatte nie auch nur im
Entferntesten darüber nachgedacht, mal einen anderen Tätowierer auszuprobieren.
Sie war hoch zufrieden mit ihren Resultaten und liebte jedes einzelne Tattoo,
das jedes seine Bedeutung hatte. Die Erinnerungen an ihre Freunde, die alle
weit weg waren, und der Drachen als Zeichen der Rebellion, dass Joséphine sich
nicht unterwerfen und gehorchen würde wie ein Sklave. Dazu war ihr ihre
Freiheit zu wichtig. In diesem Sinne war sie wirklich ein Punk. Und sie mochte
es, so zu sein.
Nun, etwa ein Jahr
nach ihrem letzten Besuch bei Cat, war sie wieder da. Diesmal wollte Joséphine
ihren Erfolg mit der Golden Gate Bridge feiern. Und sie wollte es als
Erinnerung behalten, falls die Brücke wieder nach San Francisco verfrachtet
werden sollte.
Natürlich hatte auch
Cat von dem wundersamen Ereignis gehört und fragte sich, warum Joséphine sich
die Brücke auf das Handgelenk tätowieren lassen wollte, doch sie fragte nicht.
Dies war ein weiterer Grund, warum Joséphine Cat als Tätowiererin mochte: Man
konnte die seltsamsten Aufträge abgeben, außer einem fragenden Blick mischte
sich Cat nie in die Meinung ihrer Kundschaft ein.
„Okay, aufs
Handgelenk. Gute Wahl. Einfarbig? Ich glaube nicht, dass man hier allzu viele
Farben verwenden kann.“
Joséphine nickte.
„Schwarz, ja. Es sieht wunderschön aus.“ Vor ihr lag die wunderschöne,
detailfreudige Bleistiftzeichnung von Cat, die die Golden Gate Bridge
darstellte. Es sah klasse aus, und auf der Innenseite ihres Handgelenks würde
es noch besser aussehen, dessen war Joséphine sich sicher. Niemand konnte so
gut zeichnen wie Cat, und schon gar nicht die Zeichnung eins zu eins auf die
Haut übertragen. Cat war einfach ein Naturtalent.
Sie entfernte sich,
um die Nadel vorzubereiten, und Joséphine suchte sich währenddessen einen
Stapel Zeitschriften aus, in denen sie blättern konnte, während ihr ein
Kunstwerk auf die Haut gezaubert wurde. Zwar war Cat eine ihrer besten
Freundinnen, und Joséphine hätte sich liebend gerne mit ihr unterhalten, doch
während des Stechens herrschte im Studio absolute Ruhe – Cat benötigte diese
Ruhe, sonst war sie am Ende selbst nicht zufrieden mit dem Ergebnis. Und dann
wurde sie griesgrämig und Joséphine konnte sie anschließend nicht mehr in ein
Café einladen, wie es schon Tradition zwischen ihnen geworden war. Sie
erinnerte sich an ein Mal, sie glaubte, es war an einem Tag, an dem ihr Drache
gestochen wurde, da kam ein Mann herein. Er war bullig und genau so, wie man
sich einen der harten Motor-Gangster vorstellte. Er wollte sich einen Termin
geben lassen, obwohl an der Tür „geschlossen“ stand, und als er in den
Behandlungsraum geplatzt ist, rastete Cat so aus, dass sie ihm in den Arm biss
und das halbe Gesicht zerkratzte. Joséphine hatte nie nachgefragt, aber sie
glaubte, dass der Mann nicht wiedergekommen war.
Also blätterte Joséphine
sich durch die neuesten Skandale der Stars und Umweltkatastrophen am anderen
Ende der Welt, während Cat ihr mit zwischen die Lippen geklemmter Zunge die
Golden Gate Bridge auftätowierte.
Währenddessen warf Joséphine
nicht einen Blick auf ihren linken Arm, sondern las gemütlich die Zeitschrift,
als säße sie Zuhause und genieße einen freien Tag. Dies war ihre Methode, um
sich später doppelt über ein neues Tattoo zu freuen: Wenn von einem Blick zum
nächsten etwas Wundervolles auftaucht, etwas, das für immer blieb. Andere
mochten es ja genießen, dabei zuzusehen, wie das Kunstwerk gezaubert wurde,
doch Joséphine liebte den Effekt des Überrascht-Werdens.
Sie las gerade einen
Artikel über das letzte Atomkraftwerk der Welt (es befindet sich in Fokushima,
wurde damals vor zehn Jahren zerstört, mittlerweile aber wieder aufgebaut und
ist das Einzige noch existierende Atomkraftwerk), als Cat den letzten Stich
tat, die Nadel beiseite legte und zufrieden in die Hände klatschte. „Fertig!“
Joséphine schlug die
Zeitschrift zu und warf erst dann einen Blick auf ihr gerötetes Handgelenk. Ein
Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Fantastisch!“, entfuhr es ihr,
und Cat strahlte über das Lob.
Sie versorgte Joséphine
mit den nötigen Pflegemitteln für neugestochene Tattoos und sagte dann in
entschuldigendem Ton: „Heute kann ich leider nicht mit dir ins Café gehen…“
Joséphine hob
fragend eine Augenbraue, und Cats Wangen röteten sich.
„Ich hab ein Date.
Er heißt Ben, und es könnte durchaus was Ernstes werden.“
Daraufhin lächelte Joséphine
nur. Cat war eine zierliche, kleine Person, mit einer niedlichen Stupsnase.
Auch wenn sie ein Tattoostudio leitete, hatte sie keine Tattoos, aber eine
Menge Piercings im Gesicht. Diese machten sie aber nicht freakig, sondern
passten hervorragend zu ihr und ihrer liebenswürdigen, aufgeweckten Persönlichkeit.
Joséphine wusste, wie wählerisch Cat in Sachen Männer war, und sie freute sich,
dass sie endlich jemanden gefunden hatte.
*
Um Punkt acht Uhr verließ der Mann die Wild Cherries-Redaktion in San Francisco und machte sich mit dem
Auto auf dem Heimweg. Er wollte einen
Abstecher zur Golden Gate Bridge – oder dem Ort, wo sie einst stand und nun ein
billiges Holzgerüst die Regierung verhöhnte – machen, doch zu viele Anwohner
und Touristen hatten den selben Plan, und so setzte er frühzeitig den Blinker,
kaufte sich bim McDrive ein HappyMeal und kam um halb neun in seiner Wohnung
an, einer Wohnung von Millionen anderen in der Downtown San Franciscos. Eine
schäbige Wohnung. Billig. Klein.
Aber wie gesagt, er
war noch nie der Typ für großen Luxus gewesen.
*
„Hmmmm…“, brummte Joséphine. Sie dachte an nichts. Eine
undurchdringliche Schwärze herrschte in ihrem Kopf. Ihre Handrücken spürten den
rauen Stoff ihrer Jeans, ihre Zeigefinger berührten den Daumen der jeweiligen
Hand. Sonst nahm sie nichts wahr. Nicht die Luft, die sie atmete, nicht den
flauschigen Teppich, auf dem sie saß, nicht ihre schmerzenden Beine in der
ungewohnten Position.
Das Klingeln ihres
Handys – Avril Lavignes „Girlfriend“ – riss sie aus der entspannten Meditation,
und die abgestandene Luft, der plattgedrückte Teppich und das schmerzende
Gefühl ihrer malträtierten Beine stürzten auf sie ein.
Trotz der Schmerzen
sprang sie auf, deckte ihre Augen mit der Hand gegen das Sonnenlicht ab, das
durch das gigantische Panoramafenster ihres dritten Wohnzimmers fiel, und
humpelte zu dem kleinen Couchtisch, auf dem ihr Handy lag (das neueste Produkt
der Eigenmarke).
„Hallo?“, sprach sie
hinein. Eine Sekunde herrschte Stille. Dann kam die Antwort. „Philipp? Bist du
das? Ich bin’s, John! Ich will meine hundert Euro!“
Joséphine, die noch
nie von John und Philipp und ihrer Hundert-Euro-Wette gehört hatte, dachte,
dies sei ein mieser Telefonstreich. „Hören Sie mal, ich habe keine Ahnung, wer
sie sind, aber ich bin Joséphine Princet, und wenn Sie mich weiterhin
belästigen, kaufe ich die Polizei und lasse sie für lebenslänglich einsperren!
Und lebenslänglich bedeutet bei mir auch lebenslänglich!“
Erneut einige
Sekunden Stille. Dann Johns kleinlaute Stimme. „Sorry, Miss. Muss mich verwählt
haben. Sie haben nicht zufällig Philipps Handynummer?“
Als Antwort legte Joséphine
auf.
Sie verdrehte die
Augen. Dann absolvierte sie fünf Minuten Dehnübungen und machte sich daran,
ihre fünf Koffer zu packen. Die neuen Sachen, die sie vor ihrem Termin bei Cat
eingekauft hatte (in den teuersten Läden Washingtons natürlich!) mussten mit.
Allesamt warme Sachen, Pullover und lange Hosen. In Deutschland würde es eisig
kalt sein, zumindest im Vergleich zu hier.
Sie packte
konzentriert und ohne Pause. Sie befand sich hier in ihrem fünften Schlafzimmer
des dritten Stocks, denn hier befand sich ihr Kleiderschrank mit den etwas
wärmeren Kleidungsstücken. Zumindest dem ihrer zehn Schränke, dessen Inhalt sie
am liebsten mochte.
Nach zwei Stunden,
um zehn Uhr abends, war sie endlich fertig. Fünf riesige Koffer standen vor
ihr, und dabei hatte sie auch wirklich nur das Wichtigste eingepackt. Die
Kosten für das schwere zusätzliche Gepäck waren kein Problem – nichts, was mit Geld zu tun hatte, war
ein Problem für Joséphine Princet. Was das Tragen anging – sie würde sich
morgen früh eben einen Butler bestellen, der das Gepäck trug, und eine
Limousine, die sie zum Flughafen brachte. Alles kein Problem.
Sie schleppte die
Koffer in ihre gigantische, chillig eingerichtete Eingangshalle, tanzte ein
wenig mit ihrem Lieblingspokal Robert, trank ein Glas Milch und ließ sich dann
erschöpft in ihr Bett fallen, das sich im zweiten Schlafzimmer des fünften
Stocks befand.
Morgen früh würde
sie ein wenig illegal Bungee Jumpen, und dann ging’s auf nach Deutschland, zu
ihrer Familie, in einem gemütlichen Sitz in der ersten Klasse.
*
Piep, piep,
piep.
„Hmmgrn…“
Piep, piep, piep.
„Gmnrz…“
Piep, pie – klack.
Dem Mann schlug auf seinen Wecker, und er hörte sofort auf zu piepsen. Warum
hatte er gestern noch arbeiten müssen! Er sollte sich langsam angewöhnen, etwas
unnachgiebiger gegenüber seinem Chef zu werden.
Der Wecker zeigte
zwei Uhr morgens. Er hatte nur noch eine Stunde, bis das Terminal schloss und
er sich innerhalb des Warteraumes befinden musste.
Im Dunkeln stand er
auf, torkelte ins Bad und hob seinen Kopf unter eiskaltes Wasser, was ihn
klarer denken ließ. Dann ging er zurück in sein dunkles Schlafzimmer, zog sich
ungeschickt an und betrat die kleine Küche. Er machte sich Kaffee, verschüttete
die Hälfte über sein frisch gewaschenes Hemd, merkte beim Umziehen, dass er
seinen Koffer noch nicht gepackt hatte, und verfluchte seine Nachlässigkeit.
Als er seinen Koffer
fertig hatte, klingelte es schon an der Haustür (das musste das bestellte Taxi
sein) und er schlüpfte in seine Schuhe, schnappte sich eine Jacke von der
Garderobe und verließ das Haus, als der Taxifahrer gerade wieder wegfahren
wollte. Er bat ihn, noch fünf Minuten zu warten, denn er hatte seinen Koffer
oben vergessen, merkte vor der Tür, dass er seinen Schlüssel ebenfalls dort
vergessen hatte und nutzte den Ersatzschlüssel unter der Fußmatte. Als er
endlich im Taxi saß und sich zurücklehnte, registrierte er, dass er sowohl zwei
unterschiedliche Socken als auch Schuhe anhatte.
Er seufzte
resigniert und dachte, dass es nicht verwunderlich wäre, wenn sie jetzt in
einen Stau gerieten und er sein Flugzeug nach Washington verpassen würde.
Das konnte ja mal
ein Tag werden.
*
Entspannt und ausgeruht erwachte Joséphine am nächsten
Morgen. Es ging ihr prächtig, und sie genoss ein großes Frühstück, bevor sie
gemütliche Klamotten anzog und sich zum anacostia river aufmachte. Als sie dort
ankam, herrschte schon dichtes Gedränge. Menschen aus ganz Amerika waren gekommen,
um das Wunder zu begutachten. Denn genau das war es: Die Sache war als „Das
Brückenwunder“ in die Geschichte eingegangen.
Joséphine drängte
sich mit den Ellbogen durch die Menge (wobei sie einiges zurückbekam) und stand
schließlich in der ersten Reihe, vor dem Absperrband, das die Polizei
aufgestellt hatte. Anscheinend hatte Smith den Befehl, die Brücke an Ort und
Stelle zu lassen, noch nicht gegeben, denn die Polizisten standen mit den
Händen in den Hosentaschen herum und schienen nicht zu wissen, was sie tun
sollten.
Joséphine suchte
sich einen Polizeibeamten aus, der wie eine Autoritätsperson aussah und
schlenderte lässig zu ihm hinüber. Er registrierte sie erst, als sie direkt vor
ihm stand und hob dann abwehrend die Hände. „Kein Zutritt, tut mir Leid, Miss.“
Doch Joséphine
lächelte nur und schob ihm unauffällig ein Bündel Geldscheine entgegen. Seine
Augen wurden groß, als er es sah, und er blickte sich um wie ein gejagtes
Kaninchen. Dann winkte er einem jüngeren, recht gutaussehenden Polizisten und
bedeutete ihm, herzukommen.
„Taylor, begleiten
Sie die Dame bitte auf die Brücke und lassen Sie sie dort tun, was immer sie
tun möchte. Sie hat… äh... die Erlaubnis des Präsidenten. Ja, die hat sie,
völlig richtig.“ Er war rot geworden, und Joséphine blinzelte ihm spaßhaft zu,
bevor sie Taylor folgte.
Er blickte sich nach
ihr um, sobald sie die anderen Polizisten hinter sich gelassen hatten und
relativ alleine auf der Brücke standen. „Die Erlaubnis des Präsidenten also,
ja?“, fragte er hochnäsig. Man sah ihm an, dass er es nicht glaubte. „Sie sind
also im Auftrag der Regierung hier?“ Ein abfälliger Blick auf ihre einfache
Freizeitkleidung. „Was hat den die Regierung so Wichtiges zu tun, dass sie ein
so hohes Tier wie Sie schickt?“
Joséphine war der
Mann sofort unsympathisch. Dementsprechend schnippisch fiel auch ihre Antwort
aus. „Halten Sie die Klappe, Lieutenant. Glauben Sie wirklich, die Regierung
weiht Sie in ihre Pläne ein? Das hätten Sie wohl gerne. Und jetzt…“ Sie waren
in der Mitte der Brücke angekommen. „…verschwinden Sie und erledigen weiter
ihre Arbeit.“
Taylor starrte sie
noch eine Weile wütend an, dann zuckte er gleichgültig die Schultern und
schlenderte davon.
Joséphine ließ den
Rucksack (ein spottbilliges Teil im Wert von zweitausend Dollar; für jemanden
wie Joséphine waren billige Dinge allerdings verflixt schwer zu finden) von
ihrer Schulter gleiten und blickte sich noch einmal um. Kein Taylor. Was
soll’s. Notfalls würde sie ihm ebenfalls ein paar Tausender zuschieben.
*
„Aufwachen, Sir. Das Flugzeug landet gleich.“ Der Mann
lächelte die Stewardess – auf ihrem Schild stand der Name Theadora C. –
verschlafen zu und schnallte sich an. Er erinnerte sich nur ungern an den
frühen Morgen und die Fahrt zum Flughafen. Mitten auf dem Highway – sie hatten
freie Fahrt – war dem Taxifahrer plötzlich aufgefallen, dass er eigentlich
einen Takko vertragen könnte. Er bog also ab, kaufte sich einen Takko,
schwätzte noch fünf Minuten mit dem Verkäufer und fädelte sich dann in den
plötzlich verdammt dichten Verkehr ein. Als das Taxi am Flughafen ankam, fiel
dem Mann auf, dass sein Geldbeutel im Koffer war und das Terminal gleich
schließen würde. Also hatte er sich einfach seinen Koffer geschnappt, war
davongerannt, hatte den schreienden Taxifahrer ignoriert und hatte in letzter
Sekunde seinen Koffer abgegeben und sich zur Kontrolle begeben, bevor sie
geschlossen wurde.
Das war um drei Uhr
morgens gewesen. Nun war es sieben Uhr morgens, und er hatte erbärmlich wenig
Schlaf bekommen. Außerdem musste er schon in einer Stunde im nächsten Flugzeug
nach Hamburg sitzen, und wie er sein phänomenales Glück kannte, würde er das
Flugzeug entweder verpassen, oder es würde als Rache dafür, dass er rechtzeitig
gekommen war, einfach abstürzen.
Als das Flugzeug
gelandet war und er in der Halle des großen Flughafens stand, überlegte er:
Sollte er gleich durch die Kontrolle gehen und die restliche Zeit warten, oder
sollte er das Schicksal herausfordern und sich erst in ein Café setzen, bis
sein Flug aufgerufen wurde?
Er entschied sich
für letzteres, gab seinen Koffer ab und betrat ein Café, das sich im obersten
Stock eines Wolkenkratzers befand, der zum Flughafengelände gehörte. Von dort
aus konnte man ganz Washington überblicken. Er sah das Weiße Haus (oder das,
von dem er glaubte, dass es das war), das Monument – und die Golden Gate
Bridge! Es war also tatsächlich wahr…
In dem Moment, als
er sich mit einem extrastarken Espresso an einen Fensterplatz setzte, sah er
etwas Erschreckendes: Da sprang eine Person von der Brücke!
*
Erfrischt und voller Adrenalin kehrte Joséphine in ihre
Villa zurück und orderte die schon erwähnte Limousine inklusive Butler. Sie zog
sich um, behielt aber ihren Freizeit-Look: Eine gemütliche, nicht zu kurze,
khakifarbene Shorts und ein lässiges weißes Top, darunter einen schwarzen BH.
An den Füßen trug sie gemütliche Birkenstock-Sandalen (die Firma hatte nun
schon ganz Amerika überrollt und war beliebt wie keine andere). Da es in
Deutschland kälter sein würde packte sie in ihr Handgepäck (einen modernen
Rucksack, sehr praktisch und geräumig, aber gleichzeitig auch sehr schick) eine
lange Jeans und einen Pullover, außerdem Sportschuhe, um sich im Flugzeug
umziehen zu können. Dazu noch Zahnbürste, Zahnpasta, eine Bürste, alles was man
zum Frischmachen im Flugzeug eben brauchen konnte, und los ging’s!
Die Limousine
wartete schon in der Auffahrt, als Joséphine ihre Villa verließ. Die Auffahrt
befand sich vor dem Haus, war mit Kies ausgelegt und bildete einen Kreis um
einen hübschen kleinen Springbrunnen, damit die Autos wenden konnten.
Sie begleitete den
Butler, einen unauffälligen Mann, in die Eingangshalle und beobachtete, wie er
nach und nach ihre Koffer in das Auto packte. Schließlich stiegen sie ein und
fuhren los. Es war halb acht Uhr morgens.
Als sie am Flughafen
ankamen, kontrollierte Joséphine wieder, wie der Butler alle Gepäckstücke abgab
und entließ ihn dann. Sie gab ihm ein kleines Trinkgeld von dreitausend Dollar.
Auf dem Weg in ein
kleines Café bemerkte sie ein Handgemenge. Sie erkannte den älteren Polizisten
von vorhin wieder, der mit einem jüngeren, etwas verschlafenen, aber
unglaublich gutaussehenden Mann stritt. Als sie unauffällig näher kam, hörte
sie, was der junge Mann sprach.
„…mir glauben! Ich
schwöre es! Da ist jemand von der Brücke gesprungen, nicht einmal vor einer
halben Stunde! Nein! Lassen Sie mich los, verdammt noch mal!“
Der Polizist wehrte
den Mann ungeduldig ab und widersprach allen Behauptungen. Joséphine lächelte
und beobachtete, wie der Polizist den Mann kurzerhand zur Kontrolle begleitete
und dort einen anderen Polizisten damit beauftragte, ihn bis zum Flugzeug zu
begleiten und ihn dort auf keinen Fall wieder herauszulassen.
Sie kaufte sich in
einem kleinen Zeitschriftenladen ein Heft über alle Flugzeugunglücke des
letzten Jahrhunderts und wartete dann, bis die Schlange der Kontrolle nicht
mehr zuzunehmen schien. Dann stellte sie sich an, darauf achtend, für einige
Zeit die Letzte zu sein. Als sie schließlich dran war und der Detektor warnend
piepste, als Joséphines Handgepäck durchleuchtet wurde, war sie nicht
überrascht. Die beiden Wachmänner warfen sich einen Blick zu, dann bedeutete
der eine Joséphine, einen Schritt zur Seite zu gehen, und der andere öffnete
ihren Rucksack. Er fand sofort, was den Detektor zum Piepsen gebracht hatte,
denn Joséphine hatte es ganz obendrauf gelegt: Eine Tüte mit Pilzen.
Vor ein paar Jahren
wurde dieser Detektor erfunden. Er spürt nicht nur Metallgegenstände, sondern
mithilfe neuester Technologie sogar Drogen auf. So werden die Kosten für die
Ausbildung und Lebenserhaltung der Drogenhunde gespart.
Der Wächter hob die
kleine Tüte in die Höhe, blickte Joséphine an und zog eine Augenbraue in die
Höhe.
„Ein Geschenk für
eine Freundin.“ Joséphine lächelte.
Der Wachmann grinste
spöttisch. „Aber sicher doch, Miss. Sie haben nicht zufällig eine Erlaubnis
dafür?“
Joséphine griff in
ihre Hosentasche. „Sie werden lachen, die habe ich sogar.“ Sie zog zwei dicke
Geldbündel heraus und reichte sie den beiden. „Also, noch mal von vorne. Hallo,
Officers. Gibt es ein Problem mit meinem Handgepäck?“
Die beiden tauschten
einen Blick. Dann sagte einer: „Nicht im Geringsten, Miss. Wenn ich Sie nun
bitten dürfte, weiterzugehen…“
*
Der Mann saß auf seinem Fensterplatz und schmollte. Neben
ihm saß ein wohlbeleibter Herr, der ihn nicht aufstehen lassen wollte. „Ich bin
ein ehrbarer Bürger“, hatte der vorhin nur gesagt. „Der nette Polizist vorhin
hat mich gebeten, Sie nicht rauszulassen, also werde ich das auch nicht tun.“
Der Mann selbst war
natürlich auch ein ehrbarer Bürger. Und genau aus diesem Grund wollte er ja mit
dem Polizisten reden. Da trieb vielleicht gerade eine Wasserleiche im anacostia
river, und möglicherweise war sie auch gar nicht tot und konnte noch
wiederbelebt werden!
Wäre er, als er Joséphine
hatte springen sehen, nicht sofort aufgesprungen und aus dem Café gestürmt,
hätte er noch mitbekommen, dass die „Wasserleiche“ an einem Seil hing, und sie
an diesem Seil wieder heil oben ankam. Aber er war nun mal sofort panisch
aufgesprungen, und so hatte er es nicht mitbekommen.
Er schüttelte
genervt den Kopf und redete sich ein, dass der Polizist wusste, was er tat.
*
Joséphine trat durch den Mittelgang des gefüllten Flugzeugs,
wobei sie niemandem ins Gesicht sah, allerdings alle Blicke auf sich spürte.
Sie wusste, trotz der normalsterblichen Kleidung, die sie trug, war sie eine
beeindruckende Persönlichkeit. Vor allem mit dem geheimnisvollen Kunstwerk, das
man durch das weiße Oberteil nur andeutungsweise erkennen konnte.
Während sie da also
wie eine Königin durch die Gangway schritt, fiel ihr nur eine Person auf: Es
war der unglaublich gutaussehende Mann von vorhin. Er war der Einzige, der
nicht sie anblickte, sondern frustriert aus dem Fenster starrte.
Dann kam sie am Ende
des Ganges an: Der Tür, die zur ersten Klasse führte. Natürlich flog sie erster
Klasse. Es entsprach erstens ihrem Niveau in der Gesellschaft und zweitens
ihren Erwartungen, was den Komfort betraf. Außerdem war es wunderbar still,
denn die meisten Passagiere hier waren grimmige Geschäftsleute, die keinen Ton
von sich gaben und alle fünf Minuten gleichzeitig auf ihr Handy und ihren
Laptop schauten.
Heute allerdings war
die erste Klasse überraschend leer. Nur eine Person war da, sie saß auf dem
allerersten Sitz links vom Eingang. Viel von ihr sah man nicht, denn sie hob
eine aufgeschlagene Zeitung vor ihr Gesicht, als Joséphine eintrat, und an den
Fingern trug sie schwarze Lederhandschuhe. Über den Rand der Zeitung erkannte Joséphine
einen lässigen Hut, und sie vermutete, dass es sich um einen Mann handelte.
Als sie an ihm
vorbeiging, senkte sich der Hut, und die Zeitung wurde noch ein Stückchen höher
gehoben und so gedreht, dass Joséphine die Person noch immer nicht sehen konnte.
Was war denn das für ein seltsames Verhalten? Wieso wollte die Person nicht
erkannt werden? War es vielleicht ein gesuchter Verbrecher?
Joséphine zuckte in
Gedanken nur die Schultern und begab sich an ihren Platz, in der vordersten
Reihe, ganz links am Fenster.
*
Der Mann erwachte und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Sie
waren nun schon seit etwa drei Stunden in der Luft, und aus den Fenstern war
nichts als endloses Blau zu sehen – blau der Himmel, und blau der Atlantik.
Gerade wollte er die
Augen schließen und weiterschlafen, da sah er aus den Augenwinkeln einen
rötlichen Lichtschein.
*
Joséphines Blick lag gedankenverloren auf dem Hut der
unbekannten Person weit hinter ihr. Die Zeitung war noch immer erhoben, der
Kopf hatte sich um keinen Zentimeter bewegt. Sie fragte sich allmählich, ob
nicht zufällig ein Roboter dort vorne saß – warum auch immer.
Sie trommelte auf
ihrem Rucksack herum, der auf ihrem Schoß lag, und trank einen Schluck ihrer
Cola. Sie liebte Softdrinks über alles, seit der Besitzer von Apple, ihrem
damals erbittertesten Rivalen, an einem Schluck Fanta erstickte und die Firma
einem so unfähigen Sohn vererbte, dass Apple schon nach drei Monaten elendig
zugrunde ging und Microsoft somit zur Königin der Elektroindustrie erhob.
Joséphine schrak aus
den Gedanken ihrer Karriere auf, als der Hut sich bewegte – das erste Mal seit
drei Stunden. Sekunden danach senkte sich die Zeitung. Der Kopf drehte sich zu
ihr herum, und Joséphine sah das Gesicht eines Mannes. Ein langer, grauer
Vollbart, ein fülliger grauer Schnauzbart und etwa schulterlanges, graues Haar,
das unter dem braunen Hut hervorquoll. Die Nase war dünn und elegant, die Haut
war recht glatt, etwas zu jugendlich, um zu der ansonsten alten Erscheinung des
Mannes zu passen. Die Augen bedeckte eine teuer aussehende, schwarze
Sonnenbrille. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover, dessen Ärmel bis zu
den Handgelenken reichten, und an den Händen die erwähnten Handschuhe.
„Sehen Sie aus dem
Fenster“, sagte er zu ihr. Er hatte eine samtige, überaus angenehme Stimme.
Joséphine sah
folgsam aus dem Fenster. Was sie dort sah, erschreckte sie mehr als sonst
irgendetwas in ihrem Leben: Aus dem Motor unter dem Flügel quoll Rauch!
Erschrocken blickte
sie den alten Mann an, unfähig, etwas zu sagen. Er erhob sich ruhig. „Ich kenne
Situationen wie diese, glauben Sie mir, Madam. Ich sage ihnen, was jetzt
passieren wird. Ich habe nämlich den Piloten gesehen – ein junger Frischling,
völlig unerfahren. Vermutlich weiß er nicht einmal genau, wie man richtig
landet, sondern überlässt es dem Schicksal. Da das Flugzeug nicht landen kann,
bevor der brennende Motor aussetzt, wird der Pilot einfach weiterfliegen. Ein
Flugzeug kann ohne Probleme auch mit einem Flügel fliegen, was definitiv ziemlich
ungemütlich für uns Passagiere wäre, aber wir würden es überleben. Nein, was
mich wirklich beunruhigt, ist etwas völlig anderes.“ Joséphine glaubte, den
stechenden Blick des alten Mannes trotz der Sonnenbrille zu spüren. „Beim
Anblick der beiden Piloten sah ich sofort, dass sie nicht das Geringste vom
Fliegen verstehen. Ich würde nicht darauf vertrauen, heil am Flughafen
anzukommen. Es ist eine Schande, diese sogenannten Piloten einzusetzen. Die
Verantwortlichen gehören hinter Gitter. Aber was ich eigentlich vermute, das
die beiden tun werden: Ich glaube, die Trottel werden eine Bruchlandung auf dem
Wasser wagen. Sollten die Passagiere das überleben, wird ihnen bald geholfen.
Darauf lasse ich es aber lieber nicht ankommen, denn man kann nie wissen, was passieren
wird! Mein Gefühl vertraut diesen Piloten nicht, aber ich vertraue meinem
Gefühl.“
Er nickte
nachdrücklich, doch Joséphine verstand immer noch nicht, was er von ihr wollte.
„Was haben Sie vor?“, fragte sie deshalb.
Der alte Mann zog
die Auenbrauen in die Höhe. „Ich werde natürlich aus dem sinkenden Schiff
fliehen. Flugzeug meine ich. Jedenfalls, ich biete Ihnen an, mitzukommen, wenn
Sie nicht sterben wollen.“
Joséphine, die
panisch zwischen dem rötlichen Schein vor dem Fenster und dem alten Mann hin
und herschaute, nickte schnell. Nichts wie raus aus dieser todgeweihten
Maschine! Sie fragte jedoch ängstlich: „Wird denn nicht sofort per Funk Hilf
geholt?“
Der Mann nickte.
„Sofern die Funkverbindung nicht manipuliert ist, ist dies zweifelsohne schon
geschehen. Allerdings wird die Hilfe nicht ankommen, bevor die Piloten etwas
unternommen haben. Deshalb ziehe ich es vor, zu entkommen bevor man meine Leiche aus dem Wasser zieht. Stimmen Sie mir nicht
zu?“
Joséphine nickte
schnell. „Ich bin noch zu jung zum Sterben! Was können wir tun? Man kann sich
unmöglich aus einem abstürzenden Flugzeug retten!“
Der Mann nickte
wieder. „Völlig richtig.“ Seine hinter der Sonnenbrille versteckten Augen
schienen sie grübelnd zu mustern. „Aus einem abstürzenden Flugzeug nicht – aber
bevor es abstürzt. Leider kann ich
kein Flugzeug steuern, sonst hätte ich die beiden Idioten vorne im Cockpit
schon längst über Bord geworfen und hätte die Passagiere mehr oder weniger
sicher nach Mannheim gebracht. Bleiben Sie genau dort stehen!“
Er ging zur Tür der
Küche, die an die erste Klasse angrenzte, und klopfte dagegen. Entgegen seines
Befehls, zu warten, ging Joséphine mit. Sie konnte es nicht glauben, sich in
einem Flugzeug zu befinden, dessen linker Flügel jederzeit aussetzen konnte.
Sie fragte sich, was der alte Mann vorhatte.
Die Tür öffnete
sich, und eine dicke, rotwangige Köchin erschien. Sie war ruhig, entweder sie
machte sich keine Sorgen, oder sie wusste noch von nichts. „Bitte?“
Der Mann fuhr sich
mit der Hand über den lange grauen Bart. Sein Körper sah jugendlich und
durchtrainiert aus, und Joséphine dachte daran, dass sie keine alten Leute
kannte, die im hohen Alter noch so kräftig aussahen wie dieser Mann hier.
Jetzt lächelte er
die Köchin an. „Guten Tag. Ob Sie nicht zufällig zwei Fallschirme hätten? Ich
möchte meiner Tochter…“ Er deutete dezent mit dem Daumen über seine Schulter
auf Joséphine. „…zeigen, wie er funktioniert. Ich verspreche auch, sie
unversehrt wieder zurückzubringen. Also die Fallschirme meine ich, denn meine
Tochter geht ja nicht weg.“ Er lachte.
Die Köchin blickte
sie schräg an, besonders die Sonnenbrille des alten Mannes, doch dann ging sie,
um den Wunsch zu erfüllen. Schließlich handelte es sich um
Erste-Klasse-Passagiere. Denen konnte man ja keinen Wunsch abschlagen.
Der Mann drehte sich
zu Joséphine um. „Was ich vergessen habe zu sagen: Natürlich besteht keine
Versicherung, dass das Feuer aufhört zu brennen, und vermutlich frisst es sich
bis zum Benzintakt vor. Und zu diesem Zeitpunkt möchte ich weit, weit weg von
hier sein.“
*
„Meine Damen und Herren, sicher sehen Sie rechts von Ihnen
die brennende Turbine. Bitte bewahren Sie Ruhe und geraten nicht in Panik, denn
es handelt sich lediglich um einen Test, und es gibt keinen Grund zur
Besorgnis. Es besteht die Möglichkeit, dass der Motor aussetzt und das Flugzeug
kippt, weshalb wir Sie bitten, Ihre Sicherheitsgurte anzulegen und lose
Gegenstände zu verstauen. Auch empfehlen wir, Flüssigkeiten auszutrinken und
Flaschen zu schließen. Ich wiederhole: Dies ist nur ein Test und es besteht
keinerlei Grund zur Besorgnis. Wir wünschen Ihnen weiterhin einen guten Flug.“
Die Nachricht
wiederholte sich, einmal auf französisch, dann auf deutsch und anschließend
sogar auf japanisch. Die Passagiere befolgten die Anweisungen widerspruchs- und
sorglos.
Alle außer einem.
Der Mann stand auf,
quetschte sich an seinem fetten Sitznachbarn vorbei, bevor der überhaupt
reagieren konnte, und erreichte die Gangway. Er schlug den Weg zur ersten
Klasse ein, als eine Stewardess – sie war hübsch und hatte niedliche Grübchen;
auf ihrem Schild stand Pialina L. – auf
ihn zugeeilt kam. Ein Wortwechsel entstand, wobei der Mann immer wieder an der
Stewardess vorbeischaute.
„Setzen Sie sich
bitte auf Ihren Platz und schnallen Sie sich an!“
„Sie sind auch nicht
angeschnallt…“
„Ich bitte Sie,
Sir!“
„Ich muss aufs Klo…“
„Das befindet sich
in der anderen Richtung. Aber ich bitte sie abermals…“
„Dann muss ich zur
Küche. Ich muss mich beklagen. Wirklich. Das Steak war scheiße.“
„Sir, Sie können
doch nicht einfach…“
„Doch, kann ich.“ Er
schob sie einfach zur Seite und quetschte sich an ihr vorbei.
*
„Jetzt müssen wir schnell sein“, meinte der alte Mann, als
die Warnung – beziehungsweise der „Hinweis“ auf den laufenden „Test“ – erklang.
Er schnallte sich einen blauen Fallschirm auf den Rücken und seinen Rucksack
auf den Bauch. Es sah komisch aus, doch Joséphine war viel zu panisch, um sich
darüber Gedanken zu machen. Sie tat dasselbe. Ihr Fallschirm war rot.
Neben ihnen auf dem
Boden lag ein weiterer Fallschirm, den ihnen die Köchin zu „Vorführzwecken“ zur
Verfügung gestellt hatte. Er war grün und wurde nicht mehr beachtet, denn der
alte Mann und Joséphine hatten Besseres im Kopf: Es konnte sich nur noch um
Sekunden handeln, bis das Flugzeug kippte und die Piloten etwas taten, um die
Passagiere zu retten, das sie alle umbringen würde.
In diesem Sinne war
sich der alte Mann ziemlich sicher. Fast schien er schon zu wissen, was
passieren würde.
Oder aber er hatte
einfach eine verdammt gute Menschenkenntnis.
Der alte Mann fuhr
sich nachdenklich über den Bart und blickte aus einem der mickrigen Fenster.
„Die Piloten sind schon bei der Landung. Also wagen Sie doch die Bruchlandung.
Das wird nicht gut gehen. Sehen Sie, wir sind nur noch knapp fünfzig Kilometer
über dem Meeresspiegel. Wir müssen früh genug springen, um weit genug vom
Aufschlagspunkt des Flugzeuges weg zu sein und spät genug, um nicht zur
erfrieren. Je höher man ist, desto kälter ist es ja bekanntlich. Ich habe aber
keine Ahnung, ob es in fünfzig Kilometern Höhe noch kalt ist. Damit kenne ich
mich nicht aus. Sie etwa?“
Joséphine schüttelte
den Kopf. Sie zitterte jetzt schon – allerdings nicht aus Kälte, sondern aus
Angst.
Was mochte sie erwarten?
„Kommen Sie!“ Der
alte Mann stürmte zur Tür, die zur zweiten Klasse und somit zum vorderen
Ausgang führte, und stieß sie auf. Im selben Moment stolperte der unglaublich
gutaussehende Mann von vorhin durch die Tür, hinter ihm her eine junge Stewardess,
die ihn offensichtlich aufzuhalten versuchte. Der alte Mann lachte – ja,
tatsächlich! Wie konnte man in einer solchen Situation nur lachen? – und zog Joséphine
weiter an den beiden vorbei und zur Gangway der zweiten Klasse. Die Neigung des
Flugzeugs hinderte am Laufen.
Plötzlich überkamen Joséphine
Schuldgefühle. Wie eine Lawine stürzten sie auf sie ein.
Woher hatte sie das
Recht, zu fliehen?
Wieso sie, und nicht
jemand anders von diesen unschuldigen Menschen hier?
Es war so still, als
Joséphine mit dem alten Mann zum Ausgang lief. Sie wagte es nicht, zur Seite zu
schauen. Sie war sich sicher, lauter neugierige und aufgeregte Gesichter zu
sehen, von Menschen, die keine Ahnung hatten, dass sie in weniger als fünf
Minuten sterben würden.
Ja, woher hatte Joséphine
das Recht, ihnen allen das Überleben zu verweigern, indem sie einfach selbst
sprang?
Schon standen sie
vor der Tür, und der alte Mann fummelte daran herum. Sicherlich musste er die
Sicherheitsvorkehrungen manipulieren, damit sich die Tür überhaupt öffnen ließ.
Sie hatten nur noch Sekunden!
Joséphine wusste,
sie musste sich entscheiden. Entweder sie stülpte einer armen Frau und ihrem
Kind den Fallschirm über und warf sie aus dem Flugzeug, oder sie konnte sowieso
niemanden mehr retten und musste selbst springen.
Die Tür flog nach
außen auf und wurde vom Wind weggerissen wie ein Stück Pappe. Es knallte. Der
alte Mann klammerte sich irgendwo fest, und auch Joséphine spürte den Sog. Er
zog an ihren Kleider, wehte ihr ihre Harre ins Gesicht, dass sie nichts mehr
sehen konnte. Joséphine glaubte, das Rauschen sei das lauteste Geräusch, das
sie jemals gehört hatte.
Plötzlich fing ein
Kind an zu weinen, und es brach Joséphine das Herz.
Sie wollte sich
umdrehen und es mitnehmen, es retten, doch da packte sie eine Hand am Kragen.
Es war der alte Mann, der sich irgendwie zu ihr durchgekämpft hatte, ohne aus
dem Flugzeug gezerrt zu werden. Er starrte sie entschlossen an, dann packte er
fester zu und schleuderte sie Richtung Tür.
*
Der Mann hatte währenddessen den am Boden liegenden
Fallschirm entdeckt und sofort den Plan der hübschen Frau und ihres Begleiters
ausgemacht: Sie wollten springen. Außer ihm waren sie wohl die Einzigen, die
den Ernst der Lage begriffen.
Der Mann schnallte
sich den Fallschirm schnell auf den Rücken, während er versuchte, das
Gleichgewicht zu halten, und Pialina L. alle zehn Sekunden zur Seite zu
schieben.
Er hörte einen
lauten Knall. Er rannte zur Tür und fand sich in einem Chaos wieder: Die
Menschen auf ihren Plätzen waren panisch; sie fragten sich, was los war und
wieso diese Menschen aus dem Flugzeug sprangen. Ein Kind weinte.
Die hübsche Frau
klammerte sich in der Nähe der Tür an der Wand fest. Sie hatte einen
verzweifelten Gesichtsausdruck, als würde sie sich über etwas nicht entscheiden
können. Wie konnte man in einer solchen Situation noch etwas entscheiden
wollen? Spring doch, verdammt noch mal!
Er beobachtete, wie
der alte Mann sich zu ihr durchkämpfte, ihr fest in die Augen sah, sie zur Tür
schleuderte und dann selbst hinterherlief. Im selben Moment sprangen in der
vordersten Reihe eine asiatische Frau mit einem Kind auf dem Rücken und ein
asiatischer Mann auf. Die Frau warf sich im letzten Moment auf den Rücken der
hübschen Frau. Sofort waren sie verschwunden. Der Mann tat dasselbe beim alten
Mann.
Er selbst gönnte
sich die Zeit, ungläubig den Kopf zu schütteln, dann zog er Pialina L. zu sich
heran, drückte ihr einen fetten Kuss auf den Mund, und nahm Anlauf, um den
Verrückten hinterherzuspringen.
*
Joséphine befand sich schon fast draußen, als etwas mit der
Wucht einer Abrissbirne gegen sie knallte. Sie wurde nach draußen geschmissen,
das Flugzeug schoss an ihr vorbei, und wie durch ein Wunder blieb sie völlig
unverletzt.
Sie breitete die Arme
aus und wurde eins mit dem Wind, wie sie es beim Jumpen gelernt hatte. Nur hier
war es extrem viel schwieriger, da ihr noch immer ein Gewicht auf dem Rücken
hing. Joséphine war sich sicher, dass es eine Person war – harte Fingernägel
bohrten sich so sehr in ihre Schultern, dass sie zu bluten glaubte. Trotz der
Panik – wie sollte sie den Fallschirm auspacken, wenn ihr eine Person auf dem
Rücken hing??? – machte sie sich Sorgen, dass ihr Drache verletzt werden
könnte.
Hmpf.
Das Problem wurde
gelöst. Der Mensch auf ihrem Rücken begann, nach vorne zu klettern, um den
Fallschirm frei zu machen. Die Aktion brachte Joséphine aus ihrem
Schwebe-Gleichgewicht, und ein paar Sekunden lang wirbelten sie unkontrolliert
durch die Luft. Dann war es vorbei, Joséphine breitete wieder die Arme aus und
schloss gegen den Wind wieder die Augen. Sollte sie wider jeden Erwartens doch
überleben, würde sie ja später sehen, wer sich da an ihr festklammerte.
Ihre Gedanken wurden
durch einen harten Ruck unterbrochen, der ihr Gehirn gegen ihre Schädeldecke zu
schleudern schien: Die Person hatte an ihren Rücken gegriffen und den
Fallschirm geöffnet. Sehr schlau.
Und eine sehr gute
Idee. Der Fall bremste sofort ab, der Luftzug ließ nach, Joséphine öffnete die
Augen. Es war knapp gewesen – sie befanden sich gerade mal zweihundert Meter
über dem Meeresspiegel!
Erst dann wanderte Joséphines
Blick zu dem Gesicht der Frau, das keine drei Zentimeter von ihrem eigenen
Gesicht entfernt hing und sie anstarrte. Sie war eine Asiatin, und ihr Gesicht
war entschlossen und unerschrocken. Und auf ihrem Rücken hing doch tatsächlich
ein etwa 8-jähriger Junge und schaute sie aus großen, feuchten Augen an!
Joséphine wusste
nicht, wie sie darauf reagieren sollte – etwa „Hallo, wie geht es ihnen? Mein
Name ist Joséphine!“ oder wie? Ihre Gedanken wurden glücklicherweise und
gleichzeitig auch leider abgelenkt: Und zwar von dem Flugzeug, das entzwei
brach.
Es war ein
unglaubliches und traumatisches Erlebnis für Joséphine. Fassungslos musste sie
zusehen, wie das Flugzeug dort – kaum größer als ein Punkt, so weit war es
schon entfernt – auseinanderbrach, die beiden Teile aufs Wasser aufkamen und
sofort versanken.
Das würde keiner
überleben.
Wieder kam das
Schuldgefühl in Joséphine hoch, bohrte sich in ihr Herz wie eine gnadenlose
Messerklinge, die Rache wollte für all die Menschen dort.
Sie musste unbedingt
den alten Mann finden! Ob er überhaupt überlebt hatte? Oder lag er schon längst
dort im Meer und kämpfte um sein Überleben? Oder war er gleich von den Turbinen
in Stücke gerissen worden, hatte kein so großes Glück gehabt wie sie?
Im nächsten Moment
tauchten Füße am Rand ihres roten Fallschirmes auf, und nach und nach der Rest
des alten Mannes. Er grinste. Vor ihm auf seinem Bauch hing ein Asiate und
grinste ebenfalls. Es war das komischste Bild, das Joséphine je gesehen hatte.
Und wider Willen musste sie loslachen.
Auch die Frau
lachte, es klang ungemein erleichtert. Logo, das war ihr Mann!
Erst da fiel Joséphine
auf, dass der alte Mann noch immer seine Sonnenbrille aufhatte. Nur der Hut war
weggeflogen. Wie hatte er das bloß hinbekommen? Diese Frage brachte sie
abermals zum lachen.
Sie konnte nicht
sagen, wieso, und sie wusste, dass sie angesichts des Flugzeugsunglücks kein
Recht dazu hatte. Aber sie fühlte sich in diesem Moment verdammt glücklich.
*
Der Mann hing missmutig über dem roten und dem blauen
Fallschirm. Seine eigener hatte sich erst verheddert, und einen grauenvollen
Augenblick volle Panik hatte er geglaubt, einfach weiterzufallen, bis ins
eisige Wasser, das ihn mit der Sanftheit einer Betonwand empfangen heißen
würde.
Dann aber hatte er
es geschafft, und sein Schirm hing wie ein allumfassender grüner Himmel über
ihm. Dennoch sah seine Lage keineswegs besser aus: Als er das untergehende
Flugzeug beobachtete, überlegte er, ob er nicht doch hätte im Flugzeug bleiben
sollen – mit anderen Menschen, aber geschützt vor den Tieren des Meeres zu
ertrinken war ihm dann doch eine bessere Alternative als hier im Meer zu
versinken wie ein Stein und dann von Haien zerfleischt zu werden.
Jetzt konnte er
allerdings nichts mehr ändern, und sein einziger Trost war, dass er über den
anderen hing. So würden sie vielleicht zuerst gefressen werden, und dann wären
die Bestien satt. Zumindest so lange, bis ihn der Rettungshubschrauber der NAVY
gerettet hatte. Oder wer sonst dafür verantwortlich war. Hauptsache, er kam
lebend wieder heim in sein geliebtes, überfülltes San Francisco.
Als die Personen
unter ihm auf dem Wasser auftrafen, begann er zu zittern.
*
„Keine Angst!“, brüllte der alte Mann zu Joséphine hinüber,
kurz bevor sie im Wasser versanken. „Hier gibt’s keine Haie. Außer, sie haben
Angst vor Plankton!“
Joséphine erlaubte
sich ein kleines Lächeln. Irgendwie vertraute sie diesem seltsamen Mann mit der
Sonnenbrille, die sie sich schon gar nicht mehr wegdenken konnte. Ob er ihnen
auch irgendwann seinen Namen sagen würde?
Als sie ins eiskalte
Wasser tauchte, kniff sie die Augen zusammen. Das Gewicht der Frau verschwand. Joséphine
machte sich Sorgen um den kleinen Jungen. Das Wasser war wirklich viel zu kalt.
Sie wollte zur
Oberfläche schwimmen, doch irgendetwas ließ sie nicht durch. Sie öffnete die
Augen, und sah rötliches Licht zu ihr durchscheinen. Der Fallschirm lag über
ihr auf dem Wasser!
Natürlich tat er
das.
Joséphine geriet in
Panik. Durch das Wasser konnte sie sich nicht gut bewegen, der Rucksack auf
ihrem Bauch störte sie, ihre vollgesogene Kleidung zog sie nach unten. Der
Fallschirm war noch immer auf ihrem Rücken befestigt, und als sie ihn panisch
entfernen wollte, verhedderten sich ihre Arme in den Seilen und ihre Panik
wurde noch größer. Sie riss die Augen weit auf, schwarze Punkte tauchten in
ihrem Sichtfeld auf.
Ihre Lungen schrieen
nach Luft. Was konnte sie tun?
Konnte sie
irgendetwas tun?
Das eisige Wasser
ließ ihre Glieder taub werden. Sie startete einen letzten Versuch, die Plane
über ihr zur Seite zu schieben. Fehlanzeige. Ihre Arme waren taub. Ihre Lunge
brannte.
Wie hieß noch mal
ihre kleine Schwester?
Joséphine wusste es
nicht. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, doch sie konnte es nicht. Sie war
zu abgelenkt. Die schwarzen Punkte wurden größer, sie hörte auf, sich zu
wehren. Sie öffnete den Mund, und ihre Lungen schnappten nach der Luft, die sie
nicht bekommen konnten.
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